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Vatikanstadt, März 2007
Micheles Büro in den oberen Etagen der Vatikanbank, die in dem finster wirkenden Turm Nikolaus’ V. hinter der Sant’Anna-Pforte ihren Sitz hatte, zeugte von Nüchternheit. Hier arbeitete ein Wirtschaftsprüfer mit Zahlen und Bilanzen. Er begrüßte seinen Sohn mit einem legeren Händedruck der manikürten Rechten und goss ihm ein Glas Wasser ein.
»Du siehst zerfleddert aus, Junge«, stellte er fest. »Kommst du vom Joggen?«
Lorenzo winkte ab. »Diese Geschichte erzähle ich dir in einer ruhigen Minute. Was hast du herausgefunden? Und bitte erkläre es mir auch so, dass ich es verstehen kann«, ermunterte er seinen Vater.
Michele lächelte – er war in seinem Element und kannte die Schwächen seines Sohnes, der von Bankwirtschaft so viel verstand wie vom Kühemelken.
»Mein alter Studienfreund Elvino, ich habe dir von ihm erzählt, arbeitet schon seit Längerem für die ›Intesa Sanpaolo‹, eine Mailänder Großbank. Er hat sich auf meine Anfrage einmal umgehört – und ich glaube, dass er einen Treffer gelandet hat. Es existiert ein Konto dort, eingetragen auf Gianluigi Piersanti …«
Lorenzo winkte ab. »Es existieren wahrscheinlich Hunderte Konten von Gianluigi Piersantis, Vater! Der Name ist so häufig wie Sand am Meer.«
»Aber auf diesem gab es jahrelang kaum Geldbewegungen. Bis vor Kurzem. Das heißt exakt bis wenige Tage vor dem Raubmord in Manoppello. Lass mich erst ausreden.«
Lorenzo nickte ihm grinsend zu. »Einverstanden. Also weiter!«
»Dort sind im fraglichen Zeitraum Dutzende von ungewöhnlich hohen Geldbeträgen eingegangen, alle per Blitzüberweisung. Danach war es einige Tage ruhig. In diese Zeitspanne fällt der Raubmord. Hinterher gingen wiederum rund ein Dutzend Mal Geldtranchen ein, ähnlich hohe Beträge. Auf allen Überweisungen, ich wiederhole, auf allen, lautete der Verwendungszweck ›Materiallieferung‹.«
»Was weiß man noch von diesem Konto? Woher kommen die Überweisungen?«
»Immer mit der Ruhe, Junge. Ich habe noch ein bisschen mehr vorzuweisen. Elvino hat sich das daraufhin genauer angesehen und berichtete mir, dass diese Überweisungen allesamt in Marokko getätigt wurden. Von Banken in Casablanca, Rabat, Marrakesch und Essaouira. Bei allen Banken hat Elvino nachgehakt, aber nur von zweien eine Antwort bekommen.«
»Das klingt dünn, oder nicht?«
Michele hob die Hand. »Moment! Es handelte sich um Konten, die nur zu diesem Zweck eröffnet und am nächsten Tag wieder gekündigt wurden.«
Lorenzo hob die Augenbraue. »Das ist allerdings interessant! Und von wem?«
»Von einem konnten wir in Erfahrung bringen, dass er Schuhmacher in Essaouira ist. Ein Mann namens Mustafa Ali …«
Lorenzo rollte mit den Augen. »Es gibt wahrscheinlich zehntausend Mustafa Alis in ganz Marokko!«
»Das ist richtig«, schmunzelte Michele, »doch dieser existiert im Gegensatz zu unserem Gianluigi Piersanti zumindest real und arbeitet als Schuhmacher in der Kasbah von Essaouira. Kein Beruf, von dem man leben kann, nehme ich an. Wir mutmaßen, dass er angeheuert wurde gegen ein gutes Bakschisch –«
»Also ein Strohmann!«
»Esatto! Wie sollte ein armes Schuhmacherlein aus einem marokkanischen Soukh Materiallieferungen in exorbitantem Wert benötigen und vor allem wovon bezahlen können? Noch dazu ohne Vermerk auf eine Rechnungsnummer oder einen Beleg?«
»Und zu diesem ominösen Piersanti habt ihr gar nichts herausgefunden?«
»Nein, der ist, wie gesagt, gar nicht – oder nicht mehr – existent. Dennoch wurde in der letzten Zeit Geld von diesem Konto bar abgehoben.«
Lorenzo riss die Augen auf. »Wie funktioniert das denn?«
Michele zauberte eine Flasche Vecchia Romagna nebst zwei Gläsern aus seiner Schreibtischschublade.
»Mit einer Kontovollmacht, ganz einfach.«
»Ich verstehe nicht …«
»Du musst nicht der Inhaber eines Kontos sein, um Geld einzuzahlen oder ausgezahlt zu bekommen. Es genügt, dass eine schriftliche Bevollmächtigung auf dich bei der Bank hinterlegt ist. Sehr bequem, wenn man eine hochstehende Persönlichkeit ist und nicht direkt mit verdächtigen Geldbewegungen in Zusammenhang gebracht werden will.« Michele goss beide Gläser mit einem Ausdruck von Vorfreude halb voll. »Man muss halt nur draufkommen und einen Blick auf die hinterlegte Vollmacht werfen, wenn man nach etwas oder vielmehr nach jemandem sucht. Ich hatte diese Idee noch vor Elvino. Er wollte das gleich überprüfen. Ich sollte ihn um diese Zeit noch mal anrufen.«
Michele griff zum Hörer und betätigte die Kurzwahl.
»Sì, ich bin es noch mal. Benissimo! Dann bist du also fündig geworden? Und? Ja, ich höre? Kannst du den Namen noch mal wiederholen? Dann habe ich richtig verstanden. Tausend Dank, du hast uns sehr geholfen. Erstklassige Arbeit! Küss deine Kleine von mir, Grüße an die Frau. Ihr kommt bald mal wieder nach Rom, dann seid ihr herzlich eingeladen, ich kenne ein erstklassiges Lokal, in dem man die besten Austern der Stadt bekommt. Ja, ich freue mich. Bis bald!«
Michele warf den Hörer auf die Gabel. Sein freundliches Lächeln war verschwunden. Gedankenverloren griff er zu seinem Cognacglas und nahm einen großen Schluck, ohne vorher mit seinem Sohn anzustoßen, den es kaum noch auf dem Sitz hielt.
»Porca miseria!«, sagte Michele schlicht. Lorenzo konnte sich nicht erinnern, dass sein Vater jemals einen solchen Ausdruck benutzt hatte.
»Was ich dir jetzt sage, wird dir nicht gefallen. Mir gefällt es auch nicht. Ganz und gar nicht.«
»So etwas Ähnliches habe ich heute schon einmal gehört. Also, wer hat die Vollmacht für das verdächtige Konto?«
Michele stand auf, wanderte zum Fenster und drehte sich wieder um.
»Ercole Manetti. Er hat die Vollmacht – und er hat bereits eine schöne Summe abgehoben.«
* * *
Der Monsignore hatte minutenlang den heißen Wasserstrahl zwischen seine Schulterblätter prasseln lassen und dann auf kalt gestellt. Mit ausgestreckten Armen, die Handflächen auf die gegenüberliegenden Wände der Duschkabine gelegt, zwang er sich, den Temperaturschock auszuhalten, bis sich sein ganzer Körper eiskalt anfühlte. Er stieg tropfnass aus der Kabine und wanderte in sein Schlafzimmer, ohne sich um die kleinen Wasserlachen zu kümmern, die er hinterließ. Triefend blieb er vor dem Kruzifix an der Wand stehen, legte die Linke auf die Herzgegend und hielt die Rechte schützend davor. Mit gesenktem Haupt hielt er stumme Zwiesprache. Nach einer Weile hob er den Kopf. Er ging mit entschlossener Miene zu dem Stuhl, über den er seine Soutane ausgebreitet hatte. Er nahm sie, öffnete den Kleiderschrank und hängte sie auf einen Bügel. Dann suchte er sich ein frisches Handtuch, mit dem er sich abtrocknete, eine schwarze Cargohose sowie ein schwarzes Rollkragenshirt und streifte beides über. Im selben Fach lag noch seine Beretta. Er wog sie nachdenklich in der Hand, legte sie wieder zurück, in dem Wissen, sie nicht wirklich nötig zu haben. Auch als Geistlicher hatte er versucht, seinen Körper in Form zu halten. Der Anschlag in Bagdad und die folgende Genesungszeit hatten ihn in seinem Sportprogramm, das aus Ausdauertraining und Tai-Chi-Übungen bestand, zurückgeworfen. Doch er fühlte sich noch immer imstande, einen Angreifer abzuwehren und auszuschalten, ohne dafür eine Waffe zu benutzen. Nie mehr würde er auf jemanden eine Pistole oder ein Maschinengewehr richten. Das hatte er sich selbst bei seiner Weihe versprochen. Es gab eine Familienangelegenheit zu klären.
Was Lorenzo jetzt brauchte, war ein scharfer Verstand, nicht eine geladene Waffe. Aber er würde die Situation aus der Welt schaffen. Auf welche Weise, kam ganz auf seinen Gegner an.