„Flieg, Redwind!“
Hal sah lächelnd zu, wie sein geliebter Falke die Flügel ausbreitete und sich hoch in die Luft schraubte. Die Glöckchen an seinen Beinen bimmelten. Seit Jahren freute sich Hal zu sehen, wie sein Vogel über das nördliche Gebirge von Avantia flog.
Redwind war heute in Bestform. Hal musste die Augen zusammenkneifen, um im Gegenlicht den Umriss des Falken zwischen den Bergspitzen auf- und abtauchen zu sehen.
„Du bist der prächtigste Vogel in ganz Avantia“, rief er laut. „Und du wirst das diesjährige Flugrennen von Nord-Avantia gewinnen, das weiß ich einfa-“
Hal sprach nicht weiter. Denn Redwind schwebte plötzlich auf der Stelle. Zuerst dachte Hal, der Falke hätte auf dem Berghang Beute erspäht und mache sich zum Sturzflug bereit. Doch Redwinds Flügel waren weit ausgebreitet wie zum Segelflug. Aber er bewegte sich nicht das kleinste bisschen. Er wirkte gar nicht mehr wie ein echter Vogel, sondern wie ein Bild am Himmel.
Hal hob den Arm. Das war das Zeichen für den Falken, zu ihm zu fliegen. „Redwind, hierher!“
Aber Redwind bewegte sich nicht.
„Was ist los?“, wunderte Hal sich besorgt.
Er wollte gerade erneut rufen, als ihn plötzlich wie aus dem Nichts ein heftiger Windstoß traf und ihm den Atem raubte. Der Wind zwang ihn in die Knie.
Hal wehrte sich gegen die Sturmböe, die ihn wie die Hand eines Riesen zu Boden drückte. Es gelang ihm, wieder auf die Füße zu kommen. Er sah zu Redwind hoch, der mit den Flügeln auf und ab schlug. Jetzt verstand Hal. Der Vogel versuchte, gegen den Sturmwind anzufliegen, aber er kam nicht vorwärts.
Hal kämpfte darum, aufrecht stehen zu bleiben. Da entdeckte er einen goldenen Schimmer hinter einer der Bergspitzen. Ein riesiger, eidechsenähnlicher Kopf tauchte unter dem Falken auf. Seine Schuppen glänzten im Sonnenlicht und sein Maul war weit aufgerissen.
„Der Wind kommt aus seinem Maul“, begriff Hal. „Oh, nein. Redwind!“
Hal rief seinem Falken eine Warnung zu, aber seine Stimme wurde vom Wind verschluckt. Er konnte nichts tun, außer geschockt mit anzusehen, wie sich das Maul des Drachen um seinen gefiederten Freund schloss.
Sofort verschwand der Wind, als hätte jemand eine gigantische Tür geschlossen. Hal fiel auf die Knie. „Nein!“
Durch seine Tränen sah Hal die ganze Gestalt des furchtbaren Biests, das hinter den Felsen hervorkam. An den Eidechsenkopf schloss sich ein langer Drachenkörper an, der mit goldenen Schuppen bedeckt war. Auf dem Rücken hatte das Biest eine Reihe spitzer Stacheln und aus dem schlanken, muskulösen Körper ragte ein Flügelpaar. Mit kräftigen Flügelschlägen erhob sich das Biest in die Luft und schwebte über dem höchsten Berggipfel.
Seine Krallen glitzerten wie Diamanten und bohrten sich tief in den Fels, als das Biest auf einem Bergvorsprung landete. Es hockte sich auf den Fels, stieß ein triumphierendes Schnauben aus und senkte dann den Kopf.
Hal zuckte zurück. Er spürte den Blick des Biests auf sich ruhen, drehte sich um und rannte los.
Im Laufen warf er einen Blick über seine Schulter und sah, wie das Biest in die Luft aufstieg. Seine mächtigen Krallen rissen Furchen in die Bergwand, während es sich in die Tiefe herabstürzte. Sein fauliger Atem traf Hal und er hörte die Flügel durch die Luft zischen. Hals Füße trommelten durch das raue Gras, das so hoch stand, dass er den Stein nicht sah, an dem sein Fuß hängen blieb. Er krachte der Länge nach auf den Boden. Als der Schatten des Biests auf ihn fiel, wurde alles um ihn herum dunkel.