Kapitel 2

»Sie ist völlig abwesend«, sagte Denison in sein Handy.

Detective Chief Inspector Weathers klang frustriert. »Was heißt das? Ist sie immer noch katatonisch?«

»Na ja, eigentlich nicht. In ihrem Fall handelt es sich um eine ernste psychomotorische Störung, aber der Laie würde so etwas vermutlich als Katatonie bezeichnen. Ich habe ihr Antidepressiva verschrieben, aber die brauchen in der Regel eine Weile, bis sie wirken. Es könnte sein, dass wir ihr in Kürze Elektroschocks verabreichen müssen, sonst besteht die Gefahr, dass sie an Unterernährung stirbt.«

Denison blickte durch das Fenster in Olivia Corscaddens Zimmer, wo das Mädchen unter weißen Tüchern in einem Krankenbett lag. An ihrem Arm hing eine Infusion, die sie mit genug Flüssigkeit versorgte, um zu vermeiden, dass sie dehydrierte, doch die Schwestern mussten sie wie ein Baby füttern. Sie pürierten das Essen und schoben es ihr löffelweise in den Mund. Die Hälfte des Essens landete in der Papierserviette auf ihrer Brust; die andere Hälfte schien sie automatisch und mit leerem Blick zu schlucken.

Sie war ein hübsches Ding, dachte Denison, sogar mit dem blauen Auge und der geplatzten Lippe. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, was diese extreme Reaktion hervorgerufen hatte. Hatte sie den Mord gesehen? Hatte sie selbst den Mörder abgewehrt?

War die Identität des Schlächters von Cambridge in diesem abwesenden Kopf eingeschlossen?

»Also, wenn Dornröschen deine Zeit verschwendet, könnte ich dich in Cambridge brauchen«, sagte Weathers. »Hast du heute schon Zeitung gelesen?«

»Nein, ich war seit vier Uhr früh hier«, antwortete Denison. »Aber mein Wagen ist immer noch in der Werkstatt, also werde ich den Zug nehmen und mir vorher am Bahnhof ein bisschen Lektüre holen.«

»Ein oder zwei Blätter vertreten die Meinung, dass die Behörden jetzt akzeptiert haben, dass es sich um einen Serienmörder handelt, weil ich mit den Ermittlungen beauftragt wurde.«

»Aha«, sagte Denison. »Ich hoffe, du fühlst dich bestätigt?«

Ein Schnauben kam durch die Leitung. »Nein. Nur genervt, weil die Boulevardpresse recht hatte und meine Vorgesetzten nicht. Ruf mich an, wenn du da bist.«

Alle Boulevardblätter am Zeitungskiosk in King’s Cross trugen fette Schlagzeilen zu dem Mord.

»WER WAR ES?«, fragte die Sun in Riesenbuchstaben. »ZWEI MÖRDER«, behauptete der Mirror. »STUDENTIN SAH MORD – UND LIEGT IM KOMA«, titelte der Daily Star. Denison kaufte alle drei zusammen mit seiner Standardlektüre, dem Guardian, und nahm den Zug um 10.52 nach Cambridge.

Er bekam einen Fensterplatz und schlug den Guardian auf. Auf Seite drei stand ein ausführlicher Artikel darüber, was es zu bedeuten hatte, dass Stephen Weathers erneut zum Leiter der Ermittlungen berufen worden war. Der Guardian hatte offensichtlich eine Quelle in der Polizei, aus der – zu Recht, wie Denison zufällig wusste – verlautete, dass Weathers sich bei seinen Vorgesetzten unbeliebt gemacht hatte, als er sich weigerte, seine Aussage zurückzunehmen, dass nur ein Killer für die zurückliegenden Morde an zwei Studentinnen aus demselben College in Cambridge verantwortlich sei. Man hatte einen anderen Beamten mit den Ermittlungen im zweiten Mordfall betraut und Weathers in den Hintergrund gedrängt. Er hatte zusehen müssen, wie mögliche Spuren und Verdachtsmomente von einem Mann missachtet wurden, der entschlossen war, seinen Vorgesetzten in dem Glauben beizustehen, die beiden Morde hätten nichts miteinander zu tun.

Und jetzt war eine dritte Studentin tot; nun konnte niemand mehr Zweifel daran haben, dass ein Serientäter das Ariel College unsicher machte.

Denison faltete die Zeitung zusammen und schlug den Daily Star auf. Die Story des Regenbogenblatts konzentrierte sich ganz auf Olivia Corscadden, jene Studentin, die gegenwärtig in einem Krankenhausbett in Coldhill lag, in der psychiatrischen Abteilung, die Denison leitete. Fälschlicherweise stand in dem Bericht, sie läge im Koma, nachdem sie vermutlich von dem Mörder angegriffen worden war, und befinde sich in kritischem Zustand. Er zuckte leicht zusammen, als er seinen Namen las – »Dr. Matthew Denison war nicht zu sprechen«. Er vermutete, dass Janey, seine Sekretärin, bei telefonischen Nachfragen einfach wieder aufgelegt hatte.

Denison blätterte weiter, bis er zu einem Leitartikel über den Fall kam, der mit den Worten endete: »Dachte der Schlächter, er habe auch sie umgebracht? Wenn ja, wie wird er dann auf die Neuigkeit reagieren, dass sie überlebt hat und ihn ohne Zweifel identifizieren kann? Könnte Olivia Corscaddens Leben noch immer in Gefahr sein?«

Denison spürte, dass ihn jemand anstarrte. Er ließ die Zeitung sinken und ertappte einen hochnäsig aussehenden Mann mit glänzenden braunen Halbschuhen und einem Haarschnitt, der in Denisons Augen typisch für Absolventen einer Privatschule war (wallend, mit Mittelscheitel und lang genug, um den Kragen zu berühren), dabei, wie er ihn wütend von seinem Sitz einige Reihen entfernt anstarrte.

Der Blick des Mannes wanderte betont langsam zur Titelseite der Zeitung, bevor er zu Denison zurückkehrte. Die Anspielung war klar: So einen Dreck sollte man in einem Zug voller gebildeter Menschen aus Cambridge nicht lesen.

Weil er wusste, dass er einem gänzlich Unbekannten kaum erklären konnte, warum er anscheinend solch ein blutrünstiges Interesse an den Morden hegte, stopfte Denison die Boulevardblätter beschämt unter seine Aktentasche und vergrub sich hinter den Neuigkeiten aus aller Welt im Guardian.

Er rief Weathers an, sobald er in Cambridge am Bahnhof stand.

»Komm ins Ariel College«, sagte Weathers. »Ich stell draußen einen Uniformierten auf, der dich reinbringt.«

Die Aussicht, an den Schauplatz des Mordes zurückzukehren, reizte Denison nicht, da er den Geruch nach Blut und Eingeweiden noch gut in Erinnerung hatte. Dabei war es so ein schönes College, eine kunstvolle Ansammlung von Gebäuden im gotischen Stil, die bis ins 15. Jahrhundert zurückreichten. Doch seit den Morden dachte er bei ihrem Anblick eher an eine bedrohliche Falle, so wie ein Mensch mit Arachnophobie, wenn er ein Spinnennetz sah. Würde es je wieder wie ein College erscheinen oder würde es für immer ein düsterer Ort bleiben und die gleichen Assoziationen auslösen wie Rillington Place oder die Cromwell Street? Die Häuser der Mörder Christie und West waren nach den Gerichtsverhandlungen abgerissen worden. Das konnte man mit dem Ariel College wohl kaum machen.

Eine Gruppe Reporter hatte vor dem College Stellung bezogen. Als sein Taxi vor dem Tor hielt, sah Denison einen jungen Studenten aus dem Tor kommen, der sofort von den Reportern umlagert wurde. Der Student kämpfte sich bis zu seinem Fahrrad vor, das auf dem Straßenpflaster vor dem Tor angekettet war, schloss es auf und sprang auf den Sattel. Die Reporter ignorierten sein Schweigen und bombardierten ihn weiter mit Fragen.

»Machen Sie gefälligst den Weg frei!«, rief der Student, und das Vorderrad wackelte heftig, als er versuchte, das Gleichgewicht zu halten, ohne vorwärtszukommen. Er fuhr einem Fotografen über den Fuß und trat die Flucht an.

»Jetzt sind Sie dran«, sagte der Taxifahrer zu Denison und gab ihm sein Wechselgeld. Als Antwort schnitt Denison eine Grimasse und stieg aus dem Taxi.

Die Reporter erkannten ihn sofort.

»Wie geht es Olivia, Dr. Denison?«, erkundigte sich einer.

»Hat sie schon ausgesagt?«, fragte ein zweiter. »Kennt sie den Schlächter?«

»Kein Kommentar«, sagte Denison und suchte mit dem Blick nach dem Polizisten, der ihn durch diese Meute geleiten sollte. Ein junger Beamter, der in seiner Uniform schwitzte, begegnete Denisons Blick und erkannte schließlich, wer er war.

»So, Leute«, sagte er, streckte den Arm aus und umfasste Denisons Ellbogen. »Lasst den Doktor mal durch.«

Eine Reporterin verdrehte die Augen, und Denison, dem das nicht entgangen war, konnte ein Lächeln in ihre Richtung nicht unterdrücken, als er sich wegführen ließ.

Sie sah ihre Chance und fragte: »Was machen Sie heute hier, Dr. Denison?«

»Ich versuche nur zu helfen«, erwiderte er, und dann waren er und der Polizist durch das Tor und in der Stille des Hofes. Es war friedlich hier, nur das sanfte Plätschern des Springbrunnens in der Mitte des leuchtend grünen Rasens war zu hören, und auf einer Laterne saß ein tschilpendes Spatzenpärchen.

»Hier lang, Doktor«, sagte der Polizist. »Der Detective ist im Carriwell Court." Denison folgte ihm denselben Weg entlang, den er auch in der Mordnacht genommen hatte. Er und Weathers hatten in der Stammkneipe des Detective gezecht, als der Anruf gekommen war. Daran, wie sich das Gesicht seines Freundes gerötet hatte, hatte er erkannt, dass der Anrufer ihm erzählte, es habe einen weiteren Mord gegeben. Hätten Weather’s Vorgesetzte seiner Theorie von einem Serienkiller geglaubt, dann wären vielleicht genug Polizeibeamte im College gewesen, um den Mörder von dieser dritten Tat abzuschrecken.

Jetzt war es zu spät.

»Sie und der Detective kennen sich schon lange, oder, Sir?«, fragte der Polizist.

»Mhmm«, machte Denison. »Wir waren auf der gleichen Uni.«

»Wie war er denn so als Student, Sir?«, erkundigte sich der junge Constable, und ein Lächeln spielte um seine Lippen. »Ein Streber? Vor jeder Prüfung früh ins Bett und so?«

Denison wunderte sich über den Eindruck, den Weathers anscheinend bei seinen Untergebenen hervorrief. Soweit Denison sich erinnerte, war er derjenige gewesen, der Weathers gebeten hatte, die Musik leiser zu stellen, während sein Mitbewohner gerade mal wieder eine Runde Poker spielte, und das in der Nacht vor der Abschlussprüfung. Am meisten ärgerte es ihn, dass er und Weathers die gleiche Note bekommen hatten.

»Genau«, flunkerte Denison gegenüber seinem Begleiter. »Hat immer nur an den Wochenenden getrunken und ist jeden Morgen fünf Meilen gelaufen, während wir anderen auf der faulen Haut lagen.« Zumindest das Letzte stimmte.

Sie duckten sich unter dem blau-weißen Absperrband vor dem Torbogen hindurch und betraten Carriwell Court, der zur Hälfte im Schatten lag, während die andere Hälfte von der Sonne gebleicht zu sein schien. Am Tag wirkte dieser Hof wie ein anderer Ort. Eine sanft geschwungene Steintreppe führte zu den Türen der Bibliothek hinauf, und überall standen große Kübel mit Veilchen und Stiefmütterchen.

»Also, Möglichkeit zwei von fünf«, hörte Denison Weathers sagen, als sein Freund aus einer der Türen kam, die vom Hof zu den inneren Treppen und den Zimmern der Studenten führten. »Der Mörder kommt von oben bis unten voller Blut durch diese Tür und ...? Und? Wie schafft er es, ungesehen zu bleiben?«

Weathers war groß und breitschultrig und hatte dichtes, dunkles Haar, das hervorhob, wie jung er eigentlich für einen Beamten mit so vielen Dienstjahren war. Er hatte die Hemdsärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, als würde er gleich mit einer schweren Arbeit beginnen. Als er Denison sah, lächelte er. Sein Gesicht war derart, dass bei ihm jedes Lächeln unweigerlich so aussah, als würde er sich über einen lustig machen.

»Matt!«, sagte er und schüttelte Denison die Hand. »Danke für dein Kommen. Du kennst ja Halloran und Ames.« Denison nickte Halloran zu, dem Beamten aus Manchester mit dem Eierkopf und dem schütteren Haar, und lächelte dann Sally Ames an, da er sich nicht sicher war, wie er sich in dieser Situation verhalten sollte. War es unter diesen Umständen trotz der Tatsache, dass er bei ihrer Hochzeit mit ihr getanzt hatte, angebracht, ihr ein Küsschen auf die Wange zu geben, wie er es gemacht hätte, wenn sie sich privat getroffen hätten? Er ging auf Nummer sicher und nickte auch ihr zu.

»Wir gehen den Ablauf noch mal durch«, erklärte Weathers. Es war die übliche Vorgehensweise der Polizei, alle möglichen Tatabläufe durchzuspielen und den Tatort, die Zeugenaussagen und die Indizien zu nutzen, um jede Variante zu unterminieren, bis die wahrscheinlichste sich herauskristallisierte. »Möglichkeit eins: Unser Opfer wurde von einer oder beiden der Personen ermordet, die wir in jener Nacht in ihrem Zimmer angetroffen haben. Möglichkeit zwei: Beide sind unschuldige Zeugen, die den Leichnam kurz nach dem Mord gefunden haben. Das Opfer wurde etwa eine halbe Stunde vor dem Fund der Leiche zum letzten Mal lebend gesehen, was dem Mörder nur ein kleines Zeitfenster lässt.«

Weathers ging rückwärts und hinterließ eine Spur im Kies. »Also«, sagte er und sprach lauter, als er sich entfernte, »wir wissen, dass zu unterschiedlichen Zeiten in dieser halben Stunde mindestens vier Personen im Hof waren. Eine davon hat sich in den Busch da drüben übergeben.« Er deutete darauf. »Zwei von ihnen standen hier und hatten sich gegenseitig die Zungen so tief in den Hals gesteckt, dass sie es vermutlich nicht mal bemerkt hätten, wenn der Premierminister auf einen Besuch vorbeigekommen wäre. Bleibt also nur Mr. Godfrey Parrish. Sinead Flynn und Leo Montegino zufolge hat Parrish auf der untersten Stufe der Treppe gesessen, die zum Zimmer des Opfers führt.«

»Also hat er entweder den Mörder gesehen ...«, sagte Denison.

» ... oder er ist der Mörder«, fuhr Ames fort.

»Nich‹ unbedingt«, widersprach Halloran, obwohl ein bestimmter Platz in seiner Seele dafür reserviert war, jemanden wie den privilegierten Schnösel Parrish zu verabscheuen. »Die Zimmer auf der Südseite des Gebäudes haben Fenster zur Straße.«

»Oder«, sagte Weathers, »der Mörder hat sich in einem der Zimmer auf halber Treppe versteckt, darauf gewartet, dass Flynn, Montegino und Parrish an ihm vorbei nach oben gehen, und ist dann nach unten entkommen.«

»Und was dann?«, sagte Ames. »Er muss doch blutbeschmiert gewesen sein.«

»Was ist mit dem Tor?«, meinte Denison und deutete auf den Torbogen in der Südseite des Gebäudes. »Führt das nicht hinaus auf die Richmond Lane?«

»Schon, aber es war in der Nacht abgeschlossen«, bemerkte Halloran. »Schließlich war ihr Maiball, vergessen Sie das nich’. Alle Eingänge bis auf den Haupteingang an der Pforte waren zu.«

»Wir haben jeden innerhalb des College kontrolliert«, sagte Ames. »Jemanden mit blutiger Kleidung hätten wir bemerkt.«

»Könnte dieser Jemand sich umgezogen haben?«, fragte Weathers. »Und wenn ja, wo hat er dann saubere Sachen herbekommen?«

»Aus einem der anderen Zimmer oben an der Treppe«, schlug Denison vor.

Ames schüttelte den Kopf. »Die Waschküche für die Studenten ist im Keller, einen Aufgang weiter. Das ist der wahrscheinlichste Ort.«

Sie gingen vom Treppenaufgang des Opfers eine Tür weiter und stiegen die Stufen in den Keller hinab, wo es nach Waschpulver und Weichspüler roch. Trotz des Schattens war es hier unten noch heißer, was an den Trocknern lag, die an der gegenüberliegenden Wand aufgereiht waren. Die Regale links von den Trocknern waren zum Bersten voll mit zurückgelassenen Kleidungsstücken. Ein Hemd, das von einem der Bretter gefallen war, hatte sich demonstrativ um ein Bügelbrett gelegt.

»Himmel«, sagte Halloran. »Wenn sie das Zeug nicht länger wollen, warum spenden sie’s nicht einfach für einen wohltätigen Zweck, damit ein paar arme Schlucker was davon haben?«

»Wahrscheinlich hatten sie gar nicht vor, ihre Sachen hierzulassen«, sagte Denison, der an das Jahr zurückdachte, das er selbst in einem Studentenwohnheim zugebracht hatte. »Wahrscheinlich haben sie einfach nur die Trockner benutzt und vergessen, ihr Zeug wieder abzuholen. Der Nächste, der dann den Trockner braucht, macht ihn leer und stopft das Zeug in eines der Regale, damit der Besitzer es später holen kann. Und irgendwann macht der das dann auch.«

»Na, wenn der Mörder wirklich hier unten war, hatte er ja freie Auswahl«, bemerkte Halloran mürrisch.

»Ja, aber nicht an Smokingjacketts«, sagte Weathers. »Sally, ich möchte, dass du dir noch mal die Studentenfotos aus dieser Nacht ansiehst. Such nach jemandem, der nicht passend angezogen ist.«

»Geht klar, Chef«, sagte Ames und machte sich eine Notiz.

»Und die Spurensicherung soll sich die Waschmaschinen ansehen. Ich weiß, dass keine blutigen Kleidungsstücke auf dem Grundstück gefunden wurden, aber vielleicht hat dieses schlaue Bürschchen sie in die Waschmaschine gestopft.«

Godfrey Parrish bewohnte eine Zimmerflucht im Audley Court, Treppe J. Der Nachname eines jeden Studenten und der erste Buchstabe des Vornamens standen in Weiß auf einem schwarzen Streifen über den Türen. Weathers klopfte an die Tür, die zu Denisons Überraschung nach wenigen Sekunden von dem jungen Mann geöffnet wurde, dem seine Lektüre im Zug aus London so missfallen hatte.

Parrish erkannte ihn offensichtlich ebenfalls wieder, denn er schürzte die Lippen. Auch die Gegenwart von Weathers schien ihn zu verstimmen.

»Und was jetzt?«, fragte er.

Fünf Minuten später. Parrish hatte mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem blau-weiß gestreiften Regency-Armstuhl Platz genommen. Durch ein Fenster, von dem aus man die Ariel Chapel sah, strömte das Sommerlicht auf ihn, während er an einer Porzellantasse mit Earl Grey nippte. Seinen Gästen hatte er nichts zu trinken angeboten.

»Nein«, sagte er. »Natürlich ist niemand an mir vorbeigekommen, während ich dort saß. Meinen Sie nicht, dass ich Ihnen das längst erzählt hätte?«

»Vielleicht nicht, wenn die betreffende Person nicht gerade jemand war, der für Sie als potenzieller Verdächtiger in Frage kommt«, bemerkte Weathers. »Ein Professor zum Beispiel. Oder ein Freund.«

»Nein«, sagte Parrish.

»Hätte sich jemand irgendwo entlang der Treppe verstecken können, zum Beispiel in einem Zimmer oder in einem Flur? Jemand, der abgewartet hat, bis Sie die Treppe hinaufgegangen sind, um dann nach unten zu gelangen, solange der Eingang frei war?«

Die dünnen Schultern zuckten. »Möglich.«

»Ist Ihnen gegen Ende des Abends jemand aufgefallen, der sich umgezogen hatte? Der vielleicht zu Beginn anders angezogen war als am Ende?«

Parrishs Augen blinzelten nicht, als er Weathers über den Rand seiner Teetasse hinweg ansah und einen weiteren Schluck trank. »Nein.«

Denison wusste, dass Parrishs knappe Antworten Weathers ungeduldig machten.

»Wie lange haben Sie denn Ihrer Meinung nach auf der Treppenstufe gesessen, Mr. Parrish?«, erkundigte sich Weathers, und sein Londoner Akzent war jetzt deutlicher zu hören. »Allein und ohne jemanden, der Ihren Aufenthaltsort bestätigen kann?«

Parrish stellte die Tasse zurück auf die Untertasse. »Ich war nie allein. Meine Begleiterin befand sich die ganze Zeit, die ich dort saß, nur wenige Schritte von mir entfernt.«

»Das sagten Sie bereits. Aber wenn man ihren betrunkenen Zustand zu diesem Zeitpunkt berücksichtigt, dürfte sie kaum in der Lage sein, diese Aussage zu bestätigen.«

Denison hatte selbst einige Fragen, und er würde bei Parrish nicht weit kommen, wenn Weathers fortfuhr, ihn anzufeinden.

»Das ist eine Marieke, oder?«, mischte er sich ein, stand auf und deutete auf ein Original in Wasserfarben, das an Parrishs Wand hing.

»Ja«, antwortete Parrish und richtete sich leicht auf. Denison erkannte, dass er ihn überrumpelt hatte.

»Wirklich schön«, sagte er. »Die muss Sie einiges gekostet haben.«

»Eine Investition«, meinte Parrish achselzuckend. »In ein paar Jahren bringen ihre Arbeiten das Zehnfache ein.«

»Und Ihre Begleiterin an jenem Abend«, sagte Denison. »Haben Sie die in einer Kunstgalerie kennen gelernt?«

Er und Parrish lachten beide. »Nein«, erwiderte Parrish. »Sie ist die Freundin einer Freundin. Könnte einen Van Gogh nicht von einem Vermeer unterscheiden.« Er lächelte vor sich hin. »Ich hab noch nie auf Intellektuelle gestanden. Klug, ja, aber eine, die ins Museum geht? Nein danke.«

»Meine Freundin erzählt den Leuten gern, wir hätten uns bei einer Ingmar-Bergman-Retrospektive kennen gelernt«, sagte Denison.

»Und, stimmt das nicht?«

Er schüttelte den Kopf. »Es war an Halloween, und wir waren im Kino. Der Exorzist.«

Parrish lachte schallend und stellte Tasse mit Untertasse auf dem antiken Tischchen vor sich ab. »Ich hätte nicht gedacht, dass Leute mit Ihrem Beruf auf so etwas stehen«, sagte er. »Haben Sie es nicht sowieso jeden Tag mit Blut und Horror zu tun?«

Denison setzte sich wieder, diesmal allerdings neben Parrish und nicht ihm gegenüber. Er wollte die ganze Aufmerksamkeit des Studenten haben, und das bedeutete, dass er Weathers aus dessen Blickfeld nehmen musste.

»Die Filme von Ken Loach kann ich mir nicht ansehen«, erklärte er Parrish. »Oder die von Shane Meadow und auch so manches von Mike Leigh. Die sind mir zu real, zu düster. Manchmal brauche ich die Flucht in Scheinwelten.«

Parrish nickte und sah zu Boden.

»Ich nehme an, auch Sie freuen sich darauf, flüchten zu können. Was haben Sie nach Ihrem Abschluss vor?«

Der junge Mann fuhr sich mit der Hand durch das lockige Haar. »Vater hat mir bereits eine Anstellung in einer Bank besorgt. Gute, alte Vetternwirtschaft.«

»Haben Sie nicht gerade mit Auszeichnung bestanden, Godfrey?«

»Ja ... und?«

»Na, dann kann man doch nicht von Vetternwirtschaft reden. Ein Cambridge-Absolvent mit Auszeichnung. Jedes Unternehmen wäre geschmeichelt, Sie zu bekommen, denke ich.«

Verlegen rutschte Parrish auf seinem Sitz hin und her. Anscheinend legte er keinen Wert auf Schmeicheleien. Denison versuchte eine andere Taktik.

»Sie kannten alle drei Opfer, nicht wahr, Godfrey?«

»Ja, schon. Das College ist klein genug, damit in einem Jahrgang jeder jeden kennt.«

»Aber Sie waren befreundet, oder? Mit Amanda Montgomery zum Beispiel?«

In diesem Moment verschwand die Sonne hinter einer Wolke, und das Zimmer war plötzlich grau.

»Ja, wir waren befreundet«, sagte Godfrey ruhig. »Zumindest, soweit man mit Amanda überhaupt befreundet sein konnte.«

»Was meinen Sie damit?«

»Na ja, sie war ein bisschen narzisstisch. Sie wissen schon, was ich meine – es musste sich immer alles um sie drehen. Sie war ein kluges Mädchen, aber auch sehr berechnend. Wickelte alle Jungs um den kleinen Finger, mich eingeschlossen. Dabei wollte sie einen nur scharfmachen, und ich glaube, dass sie sowieso bloß eines im Sinn hatte – sie wollte es etwas deftiger.«

»Etwas deftiger?«

Godfrey kicherte. »Rob McNorton, unser wüster Rugby-Star aus Fife. Dabei war er nicht ganz das, was sie im Sinn hatte, wie sich rausgestellt hat.«

»Nein, vermutlich nicht«, sagte Denison, der die ganze Geschichte über Rob McNorton kannte.

»Wie geht’s eigentlich Olivia?«, fragte Godfrey und wechselte damit das Thema. »Wie ich gehört habe, ist sie bei Ihnen im Krankenhaus?«

»Ja«, antwortete Denison. »Wir kümmern uns um sie. Sind Sie mit ihr befreundet?«

Godfrey zögerte und sah Denison an. »So was in der Art«, sagte er schließlich. Denison wartete darauf, dass er das ausführte. »Wir kennen uns nicht näher, aber sie hat etwas Faszinierendes. Jemanden wie sie habe ich noch nie getroffen. Ich glaube, zuerst war sie wegen der ganzen Eton-Geschichte ziemlich eingeschüchtert, insbesondere, weil June Okeweno ständig darauf herumritt, was für ein Blödmann ich sei, doch nach einer Weile hat sie angefangen, mich mehr als Mensch denn als die Karikatur eines Snobs zu sehen, wie ich ihn gerne gebe. Sie ist süß. Natürlich verschwendet sie sich an Nick, aber so ist das nun mal.«

»Die beiden passen Ihrer Meinung nach nicht zusammen?«, hakte Denison nach.

»Sie ist ziemlich introvertiert«, erklärte Godfrey. »Man muss sie aus sich herauslocken, aber ich glaube, dass es Nick gerade gefällt, diese Seite an ihr für sich zu behalten. Er spielt gern den Erforscher unbekannter Länder, wenn Sie so wollen.«

»Sie klingen, als würden Sie ihn nicht besonders mögen.«

Godfrey zog die Mundwinkel nach unten. »Genau genommen ist er ein guter Kerl. Heller, als er zugibt.«

»Sie vertrauen ihm?«

»Natürlich«, ließ sich eine Stimme hinter ihm vernehmen. »Wie wir alle.«

Denison und Weathers drehten sich zu der jungen Frau in der Tür um, die ihre Unterhaltung anscheinend verfolgt hatte.

»Paula, meine Liebe, möchtest du vielleicht einen Tee?«, fragte Godfrey amüsiert. Denison hatte Paula Abercrombie noch nie getroffen, die nach allem, was er gehört hatte, Amanda Montgomerys engste Freundin gewesen war, doch er erkannte sie sofort. Sie trug eine dunkelblaue Jeans, die sich um ihre Kurven schmiegte, und ein enges weißes Achselhemd, das ihre Bräune betonte. Ihr schimmerndes schwarzes Haar ergoss sich über ihre Schultern, und sie sah Denison mit schwarz umrandeten Augen an.

»Nick ist unschuldig«, sagte sie mit ihrer heiseren Stimme. »Wenn Sie nach jemandem suchen, der Ihnen etwas anderes erzählt, sind Sie hier am falschen Ort.«

»Sind Sie befreundet?«, hakte Denison nach. Bei seiner Frage unterdrückte Godfrey ein Kichern.

»Nick ist ein guter Kerl. Unser Godfrey kapiert das nur einfach nicht. Nick war auf einer guten Schule, aber er hatte ein Stipendium, und manchmal haben solche Leute nun mal einen kleinen Minderwertigkeitskomplex.«

»Als Nicky Fotos von Paulas Familiensitz gesehen hat, ist er ein bisschen ausgerastet, der arme Junge«, sagte Godfrey und hob die Augenbrauen. Anscheinend amüsierte ihn die Vorstellung.

»Haben Sie beide sich deshalb getrennt?«, fragte Denison.

»Nein«, erwiderte Paula und verschränkte die Arme. »Olivia, diese blöde Kuh, hat ihn mir ausgespannt. Sie ist nämlich nicht so süß, wie unser Godfrey behauptet.«

»Ach, komm schon, Paula«, sagte Parrish. »Sie wusste ja nicht mal, dass ihr beide was miteinander hattet. Deshalb ist sie bei der Weihnachtsfeier ja auch so ausgerastet.«

»Ich weiß nur eines: Alles lief gut, bis sie anfing, ihm ›zufällig‹ in der Bar über den Weg zu laufen.«

»Kennen Sie Olivia gut?«, fragte Denison.

Paula unterdrückte ein Lachen. »Nicht so gut wie sie mich.«

»Was soll das denn heißen?«, fragte Godfrey stirnrunzelnd.

»Ach, komm schon, Godders, das muss dir doch aufgefallen sein. Sie kam in mein Zimmer, suchte mein Bücherregal ab, scrollte in meinem iPod, betrachtete meine Bilder. Eine Woche später konnte man dann bei ihr die gleiche Musik auf der Stereoanlage hören, und genau das Buch, das man selber gerade las, lag auf ihrem Nachttisch.«

»Du leidest unter Verfolgungswahn«, sagte Godfrey. »Alle Studenten haben die gleichen Bücher, die gleichen Bilder und hören die gleiche Musik. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Weißt du nicht mehr, wie ihr Mädels im ersten Jahr alle das gleiche Buch von Jackie Collins gelesen habt? ›Die Leihbibliothek für Schundliteratur‹ haben wir das immer genannt.«

»Egal«, sagte Paula. »Manche von uns setzen eben den Trend, andere folgen ihm. Belassen wir es dabei.«

»Sind Sie mit Leo Montegino befreundet?«, fragte Denison.

»Ja. Er ist echt in Ordnung.«

»Und Sinead Flynn?«

«Manchmal ist sie eine blöde Kuh, aber eigentlich auch in Ordnung.«

»Und June Okeweno?«

»Kennen Sie diese Schwarzen, die behaupten, sie wären cooler als Weiße, nur weil sie farbig sind?« Sie wedelte geringschätzig mit der Hand. »Sie hat Leo immer zugesetzt, nur weil er Dreads hatte. Als dürften nur unsere afro-karibischen Mitbürger solche Frisuren tragen. Es ist ja nicht so, dass er versucht hat, schwarz zu sein oder so was.«

»Und Amanda Montgomery?«

Paula starrte ihn mit Augen an, die die Farbe feuchter Blätter hatten. »Amanda war die Beste. Sie war echt gut drauf, diese Frau. Wir hatten viel Spaß zusammen.« Sie schluckte ihre Tränen hinunter. »Und drei Jahre später haben Sie das Schwein, das sie umgebracht hat, immer noch nicht verhaftet.« Wütend starrte sie Weathers an, der sich auf seinem Stuhl zurücklehnte und sie musterte.

»Paula?«, sagte Denison sanft. »Wer hat Ihrer Meinung nach Amanda getötet?«

Sie wandte sich wieder ihm zu, und ihr dichtes, dunkles Haar glitt über ihre Schulter. »Kesselich«, sagte sie und stemmte die Hände in die Hüften. »Victor Kesselich.«