Kapitel 16

Olivia war in ihrem Zimmer. Sie hatte sich umgezogen und saß jetzt in Jeans und T-Shirt auf dem Bett. Sie las in einem Buch und sang leise vor sich hin. Als sie Denison durch das Panzerglas in der Tür bemerkte, leuchtete ihr Gesicht auf und sie sprang vom Bett, um ihm entgegenzugehen.

Der Pfleger schloss die Tür auf, und Olivias Gesicht wurde aschfahl, als sie Weathèrs hinter der Tür stehen sah.

»Was macht der denn hier?«, fragte sie.

Weathers trat vor, gefolgt von Sergeant Halloran und zwei uniformierten Polizeibeamten.

»Olivia Corscadden, ich verhafte Sie wegen der Morde an Amanda Montgomery, Eliza Fitzstanley und June Okeweno. Sie müssen keine Aussage machen, aber es könnte Ihrer Verteidigung schaden, wenn Sie auf Nachfragen etwas nicht erwähnen, das Sie später vor Gericht aussagen. Alles, was Sie sagen, kann vor Gericht gegen Sie verwendet werden.« Olivia widersetzte sich, als Halloran sie umdrehte und ihr Handschellen anlegte, wobei er sie gegen die Wand drückte.

»Sie müssen nicht so grob sein«, beschwerte sich Denison.

»Bitte, lassen Sie das nicht zu!«, rief Olivia. »Bitte, Sie müssen mir helfen! Erzählen Sie ihnen von Jude! Ich war’s nicht! Ich war’s nicht!« Halloran stieß sie aus dem Zimmer und führte sie in Begleitung der zwei Uniformierten über den Gang davon. Die anderen Patienten, die alle sicher in ihren Zimmern eingeschlossen waren, hörten ihre Schreie und fingen ebenfalls an zu rufen, schlugen gegen ihre Türen und kreischten um des Kreischens willen.

Am Ende des Korridors zerrte Halloran sie durch die Tür. Ihr blieb nur noch ein Atemzug, eine letzte Gelegenheit, Denisons Blick zu erhaschen. »Helfen Sie mir, Matthew!«, flehte sie, und dann war sie außer Sicht.

Denison atmete laut aus, und der Pfleger neben ihm schüttelte den Kopf. Ihn hatte die Wendung der Ereignisse nicht beeindruckt.

Weathers war in Olivias Zimmer und griff nach einem Paar Schuhe.

»Du brauchst auch Socken«, sagte Denison, lief ins Zimmer und ging Olivias Kleidung durch. »Und einen Pullover.« Er drückte Weathers alles in die Arme.

»Sie sollte dir nicht leidtun, Matt. Sie hat drei junge Frauen umgebracht.«

»Dieser Neandertaler hätte sie nicht so herumschubsen müssen. Sie ist immer noch ein Mensch.«

Weathers zuckte die Achseln. »Darüber lässt sich streiten. Aber mach dir keine Gedanken wegen der Klamotten. Ich lasse sie abholen, sobald der Richter entschieden hat, wo er sie hinsteckt.«

»Bringt ihr sie zum Verhör zurück nach Cambridge?«

Weathers schüttelte den Kopf. »Wir machen’s im Revier von Newington Park. Wahrscheinlich landet sie sowieso im Frauengefängnis von Holloway, also hat es keinen Sinn, sie aus London wegzubringen.«

»Ich möchte dabei sein. Während des Verhörs.«

Weathers nickte. »Gut. Ich möchte auch, dass du dabei bist.« Er stopfte die Socken in die Schuhe und betrat den Korridor. In der Tür drehte er sich noch einmal halb um. »Ich schicke dir in zwei Stunden einen Wagen. So kann sie erst mal ein bisschen schmoren.« Er fuhr in einer flüssigen Bewegung herum und fegte durch die Tür.

Denison setzte sich aufs Bett. Er hatte all das ins Rollen gebracht, indem er ein Papier unterschrieben hatte, demzufolge er nicht länger glaubte, dass es gerechtfertigt sei, Olivia Corscadden durch den Mental Health Act – das Gesetz für psychisch Kranke – zu schützen. Er hatte noch ihren Gesichtsausdruck vor Augen, als sie hinaus in die reale Welt gezerrt wurde, und verspürte ein schreckliches Schuldgefühl, das ihm auf den Magen drückte.

Neben Olivias Bett war mit Reißnägeln ein Foto von Nick an die Wand geheftet. Sein Haar war verwuschelt und er lächelte. Er stand mit zwei Freunden im Garten seiner Schule, und im Hintergrund war das beeindruckende Gebäude aus dem siebzehnten Jahrhundert zu sehen. Er wirkte so glücklich, so entspannt. Denison fragte sich, ob Nicholas Hardcastle je wieder so sorglos dreinblicken würde.

Newington Park lag in einer der raueren Gegenden von East London. Als der Dienstwagen Denison durch die Straßen chauffierte, sah dieser einen Graffiti-Künstler, der seiner Begeisterung für den Fußballverein Arsenal an einer Wand Ausdruck verlieh, er sah einen Betrunkenen, der gegen die Seitenwand eines Bushäuschens pisste und mit der Linken eine Plastiktüte von Sainsbury’s umklammerte, und er sah, wie vor einem Café beziehungsweise Jugendclub vermutlich ein Drogendeal stattfand. Wie üblich war der Gehsteig vor dem Polizeirevier und auch der gegenüber frei von Straßenmüll und Graffiti: ein beabsichtigter Nebeneffekt des frisch sanierten Eingangsbereichs, wo man die Ziegelsteine durch Panzerglas ersetzt hatte, sodass der diensthabende Sergeant einen uneingeschränkten Blick auf das Geschehen draußen hatte. Es war inzwischen fast neun Uhr abends, und die untergehende Sonne spiegelte sich im Glas und ließ die Wolken am Augusthimmel noch einmal rosa aufleuchten.

Der Beamte, der Denison fuhr, bog plötzlich ohne zu blinken in eine Seitenstraße ab und fuhr dann auf den Parkplatz hinter dem Polizeirevier von Newington Park. Er hatte auf dem Weg von Coldhill kaum zwei Worte mit Denison gewechselt.

Sie gingen hinein, und der Doktor blieb am Empfang sich selbst überlassen, bis Sergeant Halloran auftauchte und ihn grunzend begrüßte.

»Wie geht es ihr?«, erkundigte sich Denison, als sie über die Treppe in den ersten Stock gingen.

»Hat sich auf dem Weg hierher beruhigt. Jetzt schnieft sie halt rum, aber das is’ ja bei den Weibern immer dasselbe. Hab noch nie ‘ne Frau eingebuchtet, die nicht losgeheult hätte, sobald sie eine Stunde oder zwei in ‘ner Zelle gehockt hat.«

»Hat Steve – ich meine, Detective Weathers – schon mit ihr gesprochen?«

»Nein. Wollte, dass Sie dabei sind.«

»Hat sie nach einem Anwalt gefragt?«

»Nein, da hatten wir Glück. Aber nach Ihnen hat sie gefragt. Hat anscheinend keinen blassen Schimmer, dass Sie sie haben einbuchten lassen, die dumme Kuh. Kommen Sie, hier geht’s lang. Das ganze Team is’ aus Cambridge angereist.«

»Ist die Beamtin Ames in der Nähe?«

»Sie meinen wohl Mrs. Weathers?«, sagte Halloran augenzwinkernd. »Nee, die is’ in Balham und befragt noch mal eine von Corscaddens engsten Freundinnen, eine der wenigen Glücklichen, die sie nich’ abgeschlachtet hat. Hier lang.«

Weathers stand mitten in der Einsatzzentrale und plauderte mit zwei Männern, die Denison nicht kannte, einer in einem ausgebeulten Anzug, der andere in Uniform. Er sah herüber, als Halloran die Tür aufmachte, und kam sofort herbei. »Danke für dein Kommen, Matt«, sagte er. »Das hier ist Superintendent Walker – er war so freundlich, uns Newington Park für die Verhöre von Corscadden zur Verfügung zu stellen.« Denison schüttelte dem Mann in der schwarzen Uniform mit den silbernen Knöpfen und den verzierten Schulterstücken die Hand. Weathers deutete auf den Mann in dem ausgebeulten Anzug, dem eine Rasur und ein Friseurbesuch gut getan hätten. »Und das ist Detective Chief Inspector Colin MacIntyre. Er hat die Untersuchungen im Fall Eliza Fitzstanley geleitet.« Ah, dachte Denison, der Mann, der nicht an den Schlächter von Cambridge glauben wollte. Er schüttelte auch MacIntyre die Hand.

»Also dann, viel Glück, Weathers«, sagte Superintendent Walker und schritt davon, um sich dringlicheren polizeilichen Angelegenheiten zu widmen. »Halten Sie mich auf dem Laufenden.«

»Und, was ist geplant, Steve?«, fragte Denison.

»Genau«, sagte MacIntyre. »Das würde ich auch gern wissen.«

»Geplant ist, dass sie gesteht, die DIS nur vorgetäuscht zu haben. Und dann finden wir heraus, warum. Wir haben gerade Mac auf den neuesten Stand gebracht, was es mit deinen Logiktests unter Hypnose auf sich hat. Ich bin mir aber nicht sicher, ob er es wirklich verstanden hat.« Weathers blickte genervt und müde in Denisons Richtung.

»Ja, was sollte denn verdammt noch mal dieser Blödsinn mit dem tauben Kreis?«, protestierte MacIntyre und wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn. »Sie haben ihr gesagt, die Haut wäre taub, also hat sie natürlich keinen Mucks gemacht, als Sie draufgedrückt haben. Das Mädel hat’s nach Cambridge geschafft – blöde ist sie also nicht.«

»Und doch gibt es einen Unterschied zwischen Trance-Logik und normaler Logik«, versuchte Denison zu erklären. »Vom normalen Verhalten kann man nicht auf das Verhalten in Trance schließen. Der Mensch reagiert einfach nicht in gleicher Weise.«

»Aber dann das mit dem gelben Amethyst. Sie haben ihr gesagt, sie soll alles vergessen, was während der Trance war, wozu ja auch gehören würde, was Sie ihr über den Amethyst erzählt haben, der gelb wird. Wollen Sie damit sagen, dass Ihre Anweisungen unter Hypnose nicht wirken dürfen?«

»Nein, so funktioniert das nicht«, protestierte Denison.

»Vergiss es«, sagte Weathers. »Wichtig ist, dass Corscadden es versteht. Und du, Mac, hältst um Himmels willen während des Verhörs die Klappe.«

Der Befragungsraum war größer und besser ausgestattet als sein Gegenstück im Parkside-Polizeirevier von Cambridge, doch wie in allen Befragungsräumen roch es auch hier nach billigen Putzmitteln. Das Fenster befand sich hoch oben in der Wand, damit sich während der Verhöre keine Ablenkung bot; selbst im Stehen konnte man nur einen weit entfernten Wohnturm mit Sozialwohnungen sehen, in dessen Fenstern nach und nach kleine Lichtpunkte aufleuchteten, als die Sonne ihren Dienst beendete und den Job, die Stadt zu erhellen, Millionen elektrischer Glühbirnen überließ.

Eine Seite des Zimmers bestand aus einem Spiegel, durch den man aus dem benachbarten Raum das Verhör beobachten konnte. In dem Beobachtungszimmer stand ein Tisch mit einem Mikrofon; das Mikrofon konnte man benutzen, um dem Fragen stellenden Beamten Informationen und Vorschläge auf den Kopfhörer im Ohr zu übermitteln. Halloran und Denison waren in das Beobachtungszimmer gegangen; Letzterer saß am Tisch vor dem Mikrofon. Denison musste einen Knopf drücken, um die Nachrichten übermitteln zu können, und es machte ihm Sorgen, dass seine Fingerkuppen so schwitzten.

»Test, Test, 1-2-3«, krächzte er in das Mikro. Weathers, der mit dem Rücken zu ihm im Befragungsraum saß, drehte sich um, hielt den Daumen hoch und grinste ermutigend.

MacIntyre ging in seinem ausgebeulten Anzug auf und ab und knabberte an seinen Fingernägeln.

»Seh’n Sie sich nur diesen Idioten an«, sagte Halloran. »Sieht doch aus wie ein Volltrottel in diesem Anzug, oder?«

»Finden Sie, dass Sie an seiner Stelle dort drinnen sein sollten?«, fragte Denison.

Halloran warf ihm einen Blick zu. Sein schielendes Auge sah weiter zum Befragungsraum. »Und ob. Wenn die zuständigen Idioten nich’ die Nerven verloren und versucht hätten, Elizas Tod als eine Einzeltat von ‘nem Junkie darzustellen, wäre dieses Arschloch nicht mal hier. Ich sollte mit Steve da drin sein. Ich kenn nämlich die Fälle von Anfang an.«

»Und warum ist MacIntyre dann hier? Inzwischen ist doch klar, dass die Todesfälle miteinander zu tun hatten.«

Halloran zuckte die Achseln. »Er ist der Experte für den Fall Fitzstanley, heißt es. Wie gesagt – Idioten, alle miteinander.«

Die Tür zum Befragungsraum ging auf, und die plötzliche Bewegung ließ Denison, der sehr angespannt und nervös war, zusammenzucken. Olivia wurde von einer Beamtin hereingeführt, die sie zu ihrem Platz führte und sich dann neben die geschlossene Tür stellte.

Olivias Haare waren noch immer zu einem Pferdeschwanz gebunden, doch lange Strähnen hatten sich daraus gelöst und klebten in ihrem tränenüberströmten Gesicht. Ihre Augen waren gerötet und ein bisschen verquollen. In dem grauen Baumwoll-Sweatshirt sah sie sehr klein aus.

»Hallo, Olivia«, sagte Weathers.

«Hallo", sagte sie nervös.

»Ich schalte jetzt das Band ein, ja?«

»Ja.« Sie war kaum zu hören.

Weathers drückte den Aufnahmeknopf an der Anlage des Befragungsraums und machte Angaben zu Datum, Uhrzeit und den Anwesenden. Er wiederholte dann Olivia gegenüber ihre Rechte, und sie bestätigte, alles verstanden zu haben. Sie verlangte immer noch nicht nach einem Rechtsbeistand, und Halloran schnaufte erleichtert.

»Sie waren in den vergangenen zehn Wochen in der psychiatrischen Klinik Coldhill, ist das richtig, Olivia?«

Sie nickte. »Ich glaube schon.«

»Sie ›glauben‹ es?«

»Ich kann mich nicht an alles erinnern. Man hat mir gesagt, ich sei eine ganze Weile nicht ansprechbar gewesen.«

»Aber seit Sie das Bewusstsein wiedererlangt haben, hatten Sie psychiatrische Sitzungen mit Dr. Matthew Denison, einem der Verantwortlichen in Coldhill?« Sie nickte erneut. »Und mit Dr. Denison ist Ihnen der ein oder andere Durchbruch gelungen?«

»Er sagte mir, ich würde unter einer Dissoziativen Identitätsstörung leiden.« Sie hatte Schwierigkeiten bei der Aussprache des Begriffs.

»Können Sie mir von dieser Störung erzählen?«

Olivia rutschte hin und her. »Im Grunde genommen ist das eine Multiple Persönlichkeit. Ich ... ich wusste nicht, dass ich das habe. Aber Dr. Denison sagte, dass manchmal nicht ich es war, mit der er sprach, sondern jemand anders. Und dieses andere Ich wusste offensichtlich über die Morde Bescheid.« Leise fing sie an zu weinen. »Wusste, dass ich es war, die meine Freundinnen umgebracht hat.«

Halloran ballte die Faust. Denison sah auf die Faust und erkannte, dass es ein Ausdruck des Triumphes war, weil Olivia zum ersten Mal ihre Schuld gegenüber der Polizei eingestanden hatte.

»Was haben Sie Dr. Denison über die Morde an Ihren Freundinnen erzählt?«

»Er meinte, dass eine andere Persönlichkeit, Jude, meinen Körper unter seine Kontrolle brachte, und dann tötete er sie.«

»Mit ›sie‹ ...«

» ... meine ich Amanda, Eliza und June.«

Denison wurde klar, dass es eine Grenze für das gab, was Weathers an Geständnissen aus Olivia herausbekommen konnte. Die Einzelheiten über die Morde stammten von Helen und den anderen Alter-Persönlichkeiten, weshalb es sich bei Olivias Aussagen um ein reines Nachplappern der Informationen handelte, die er ihr selbst hatte zukommen lassen. Sie würde nie zu Weathers sagen: »Ich habe Amanda getötet«, sondern nur: »Dr. Denison erklärte mir, ich hätte behauptet, Amanda getötet zu haben.«

Natürlich hätten sie Helen »hervorholen« und versuchen können, ihr Geständnis auf Band zu sprechen, doch Denison bezweifelte, dass es in den Augen der Staatsanwaltschaft eine akzeptable Methode war, einen Verdächtigen zu hypnotisieren – oder auch nur so zu tun.

»Wie hat Dr. Denison es angestellt, mit den anderen Persönlichkeiten zu sprechen?«

»Er hat mich hypnotisiert.«

»Sie kamen also nie freiwillig zum Vorschein?«

Sie sah verwirrt aus. »Ich vermute schon.«

»Kann ich mit einer von ihnen sprechen?« Sie sah ihn nur an, und ihre goldenen Augen waren leer. »Könnte ich mit Helen sprechen?«

Nach einer Weile zuckte sie die Achseln. »Ich glaube, so funktioniert das nicht.«

»Sie sind nicht Helen.«

Sie lächelte verkrampft. »Nein.«

»Könnte ich dann vielleicht mit Mary sprechen? Oder mit Vanna?«

»Ich weiß nicht, wie ich das machen soll, tut mir leid.«

»Und was ist mit Jude?«

Olivia schlang die Arme um sich. »Es klappt nicht. Ich glaube nicht, dass Sie sie dazu bewegen können, hervorzukommen, indem Sie einfach nur die Namen sagen.«

»Wie wär’s, wenn ich Sie wütend mache? Holt das die anderen hervor? Wenn ich Sie eine blöde, verstockte, kleine Schlampe nenne, würde das Jude dazu bringen, den Kopf herauszustrecken?« Eine Träne glitt an ihrer Nase entlang und tropfte von der Lippe auf ihren Ärmel. »Ich glaube nicht. Wie gut, dass er anscheinend nur auftaucht, wenn Sie allein mit jemandem sind und keine Polizisten in der Nähe rumhängen, was?«

Olivias Kinn zitterte. »Kann ich mit Dr. Denison sprechen?«, fragte sie. Denison konnte ein Gefühl der Schuld nicht unterdrücken, als er sie weinen sah. Es kam ihm vor, als hätte er sie betrogen.

»Nein«, sagte Weathers. »Verraten Sie mir lieber mal, warum Sie und Ihre – wie nennen Sie die doch gleich? – ›Alter-Persönlichkeiten‹ sich Dr. Denison gegenüber so gern gezeigt haben?«

»Bei ihm habe ich mich sicher gefühlt«, sagte Olivia und starrte auf den Tisch vor sich. »Ich habe ihm vertraut.«

»Glauben Sie, dass er Sie mochte?«

»Ich glaube, er hat sich um mich gesorgt.«

»Fanden Sie ihn leichtgläubig?«

Sie sah plötzlich auf. »Nein. Was meinen Sie damit?«

»Nun, Sie haben ihm da diese raffinierte Geschichte von den teuflischen anderen Ichs aufgetischt, und er hat sie geschluckt, oder? Netterweise hat er damit abgesegnet, dass Sie auf nicht schuldfähig plädieren können.«

»Ich habe ihn nicht angelogen.«

»Leider ist Ihnen ein Ausrutscher passiert. Und er hat Verdacht geschöpft. Er hat vermutet, dass Sie vielleicht nur so tun, als wären Sie hypnotisiert. Die Wahrheit ist, dass Sie weiter die Kontrolle behalten wollten, also haben Sie sich nicht gehen lassen.

Haben Sie schon mal von ›Trance-Logik‹ gehört? Nein? Hatte ich bis vor wenigen Tagen auch nicht. Wie sich rausstellte, ist diese Trance-Logik was ziemlich Seltsames. Die funktioniert nämlich nicht auf dieselbe Weise wie die Logik, die wir tagtäglich anwenden. Darum ging es Dr. Denison in Ihrer heutigen Sitzung – er hat getestet, ob Sie wirklich hypnotisiert waren oder nicht.«

Olivia war ganz ruhig geworden. Keine Tränen, kein Herumrutschen, keine nervösen Gesten. MacIntyre rollte ein Wägelchen herbei, auf dem ein Fernseher auf einem DVD-Player stand. Weathers schaltete mit der Fernbedienung auf dem Tisch den Fernseher ein und drückte die Play-Taste. Olivia sah zu, wie sie selbst auf dem Bildschirm erschien. Denisons Stimme, die blechern aus dem Off kam, fragte sie nach Astronauten, Flaggen und Disney-Filmen. Weathers wartete ab, bis Denison ihr sagte, dass der Amethyst durch Erhitzen gelb wird, dann hielt er die Aufnahme an.

»Er bat Sie, dieses Detail zu vergessen. Und das haben Sie. Aber es ist nun mal so, dass Leute, die wirklich unter Hypnose stehen, die Antwort auf diese Frage trotzdem wissen, wenn man sie ihnen später wieder stellt; sie können sich bloß nicht erinnern, woher sie das wissen.«

Olivia sah ihn nur an. »Ich weiß nicht, was Sie von mir hören wollen. Ich wusste die Antwort nicht. Ich konnte mich nicht erinnern. Und ich erinnere mich immer noch nicht, dass er mir das gesagt hat!«

Weathers erwiderte nichts, sondern drückte erneut auf Play. Denison erschien im Bild und nahm am anderen Ende des Sofas Platz. Sorgfältig darauf bedacht, jeden Körperkontakt zu vermeiden, streckte er die Hand aus und beschrieb mit dem Finger einen Kreis auf ihrem Handrücken. Sie sahen zu, wie sein Finger verschiedene Punkte an ihrem Arm berührte. Dann sahen sie, wie er mit versteinertem Gesicht aufstand und wieder aus dem Bild ging.

Erneut hielt Weathers die Aufnahme an.

»Er hat Ihnen gesagt, die Haut innerhalb des Kreises sei taub, und er hat Ihnen auch gesagt, ›nein‹ zu sagen, wenn er Sie da berührt, wo Sie es nicht spüren können. Da Ihre Augen geschlossen sind, wie können Sie da wissen, ob er Sie berührt hat, wenn Sie es nicht fühlen? Also sagen Sie nichts. Aber wie ich schon sagte, das mit der Trance-Logik ist so eine Sache. Unter Hypnose Stehende sagen tatsächlich ›nein‹, wenn sie innerhalb dieses tauben Kreises berührt werden. Möchten Sie dazu etwas sagen?«

Stumm schüttelte Olivia den Kopf.

»Also gut, Test Nummer drei.« Weathers drückte Play. Olivia sprach mit der imaginären Janey, dann mit der echten. Sie wirkte unglücklich. Weathers drückte auf Stopp, und der Bildschirm wurde schwarz.

»Beabsichtigte Halluzinationen. Dr. Denison bat Sie, sich vorzustellen, seine Sekretärin Janey sitze mit Ihnen im Zimmer, dann holte er die echte Janey herein. Sie taten so, als könnten Sie die echte Janey nicht sehen – wie hätte das auch gehen sollen, wo sie doch angeblich auf dem Stuhl vor Ihnen saß und nicht an der Tür stand? Doch Hypnotisierte sehen beide, und im Gegensatz zu Ihnen brauchen sie niemanden, der ihnen die echte Person zeigt. Und wissen Sie noch etwas? Beide zu sehen, stört sie nicht. Das wird akzeptiert. Sie dagegen sind ausgeflippt. ›Hat sie eine Zwillingsschwester?‹ ›Wie kann sie denn an zwei Stellen gleichzeitig sein?‹ Dr. Denison zufolge verhält sich eine wirklich hypnotisierte Person nicht so.«

Olivia sah gebrochen aus, besiegt. Sie schlug die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen.

Weathers beugte sich näher zu ihr. Er klang nicht mehr anklagend, sondern besorgt, fast besänftigend. »Sie haben sich sehr lange verstellt, Olivia. Ich weiß, wie anstrengend es sein muss, die Fassade aufrechtzuerhalten. Jetzt ist alles gut, Sie können damit aufhören. Sie können sich entspannen. Sie müssen keinen Dr. Denison mehr täuschen. Sie müssen nicht länger verschiedene Stimmen und verschiedene Körpersprachen vorspielen. Sie müssen sich auch nicht länger daran erinnern, wer was weiß und wer was gesagt hat. Erzählen Sie uns einfach, was damals passiert ist. Was immer es ist, wir werden es verstehen.«

Sie schüttelte den Kopf und die Tränen spritzten aus ihren Augen. »Ich habe mich doch so geschämt. Ich wollte nicht, dass Dr. Denison schlecht von mir denkt. Ich wollte ihm etwas geben, auf das er alles schieben kann, und dann sind mir diese Bücher über DIS wieder eingefallen, die Sinead las, als sie den Psychologiekurs belegt hatte ...«

»Also haben Sie diese ganze Geschichte erfunden, um Dr. Denisons Sympathie zu gewinnen?«, fragte Weathers. »Es geht also nicht um die verminderte Schuldfähigkeit?« Sein Sarkasmus ließ Halloran schnauben.

Olivia fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen. »Ist doch egal, oder? Ich werde für den Rest meines Lebens eingesperrt, oder nicht?«, sagte sie und klang dabei fast trotzig. »Welchen Unterschied soll es also für mich machen, ob ich bei den Verbrechern oder bei den Psychopathen bin?«

»Olivia, Sie wollen mir doch nicht ernsthaft weismachen, Sie hätten sich das alles nur ausgedacht, damit Dr. Denison nicht so schlecht von Ihnen denkt.«

Wütend starrte sie Weathers mit geröteten Augen an. »Es ist mir egal, was Sie denken«, entgegnete sie. »Solange Matthew mir glaubt.«

»Sind wir also schon beim Vornamen angelangt, ja?«

Im Beobachtungsraum stupste Halloran Denison an und grinste breit. »Helfen Sie mir mal, Doc. Wie heißt das doch gleich, wenn ein Patient sich in seinen Seelenklempner vergafft? Übertragung, oder?«

»Ist er da?«, fragte Olivia.

»Wer?«

»Matthew«, sagte sie. Denison spürte, wie sein Herz einen Sprung machte, und das Gefühl, sie im Stich gelassen zu haben, tat weh.

Weathers schüttelte den Kopf. »Nein«, log er.

Obwohl sein Instinkt ihn aufforderte, in den Befragungsraum zu gehen und sie zu trösten, wusste Denison, dass es richtig von Weathers war zu lügen. Olivia könnte sich selbst zensieren, wenn sie wüsste, dass er ihrem Geständnis zuhörte. Die Wahrheit musste ans Licht.

»Vielleicht lässt es sich ja arrangieren, dass Dr. Denison Sie hier besucht, Olivia. Aber zuerst müssen wir einmal klar sehen. Sie müssen ehrlich zu uns sein, diese Last von sich nehmen.«

Olivia blickte mit gefalteten Händen vor sich auf den Tisch. Sie nickte bedächtig. »Ich weiß«, sagte sie. »Ich weiß.«

»Heißt das, Sie reden mit uns? Erzählen uns die Wahrheit?«

Da hob sie den Kopf, und ihr Gesicht war seltsam ruhig. »Ja.«

Ein Constable brachte Getränke. Olivia schlang die Finger um ihre Tasse. Das Porzellan wurde von dem heißen Tee erwärmt, was ihr anscheinend guttat.

»Okay«, sagte Weathers. »Dann fangen wir mal damit an, was in der Nacht geschehen ist, als Amanda Montgomery starb. Warum haben Sie sie getötet?«

»Ich weiß nicht«, sagte Olivia zögernd. Sie verbarg den Mund hinter der Teetasse. »Ich denke mal, ich war sauer auf sie, weil sie versucht hat, die Beziehung zwischen mir und Nick zu zerstören.«

»Wie hat sie das angestellt?«

»Er war vorher mit Paula zusammen. Ich wusste das nicht, und ich glaube, dass Amanda es mir nur erzählt hat, um mich zu provozieren und in einen Streit mit Nick zu treiben.«

»Warum dann nicht Paula?«

»Wie bitte?« Sie nahm einen Schluck Tee.

»Warum haben Sie Amanda getötet und nicht Paula? Wäre ich eifersüchtig genug, um jemanden umzubringen, dann wäre es doch die Ex und nicht diejenige, die mir von der Ex erzählt, das dürfen Sie mir glauben.«

Olivia zuckte nur die Achseln, weil sie nicht in der Lage war, ihr Verhalten zu erklären. Im Zimmer nebenan lehnte Denison sich noch näher zum Spiegel und runzelte die Stirn.

»Erzählen Sie mir, wie Sie sie umgebracht haben.«

Olivia murmelte etwas in ihre Tasse.

»Ich fürchte, wegen der Aufzeichnung werden Sie ein bisschen lauter sprechen müssen, Olivia.«

»Ich sagte, ich hab sie mit einem Messer getötet.«

»Haben Sie es mitgebracht, oder gehörte es Amanda?«

»Ich glaube, es war ihres. Ich weiß nicht mehr genau.«

»Haben Sie sich gestritten?«

»Ich habe sie gefragt, warum sie versucht hat, Nick und mich auseinanderzubringen. Sie meinte, ich sei paranoid. Da hab ich zugestochen.«

»Wohin?«

»Überallhin. Als sie aufgehört hatte zu atmen, habe ich den Kopf abgetrennt.«

Im Beobachtungszimmer bemerkte Halloran Denisons gerunzelte Stirn.

»Warum machen Sie so ein Gesicht, Doc?«

»Ach, ich ... vermutlich hat es nichts zu bedeuten, aber sehen Sie, wie sie die Tasse hält? Dass der halbe Mund verdeckt ist? Also, nach ihrer Körpersprache zu urteilen, lügt sie.«

»Meinten Sie auch, dass sie log, als sie Ihnen von dem Mord an Amanda erzählt hat?«

»Nein.«

»Aber sie sagt doch genau das Gleiche. Wenn sie damals nicht log, lügt sie jetzt auch nicht.«

»Was haben Sie mit dem Kopf gemacht?«, fragte Weathers gerade.

»Wie ich schon Dr. Denison sagte, ich kann mich nicht erinnern. Alles ist so verschwommen.« Sie trank einen großen Schluck Tee.

»Sie sagten Dr. Denison, Sie könnten sich nicht erinnern, weil Jude damals als einzige von den Alter-Persönlichkeiten zugegen war. Ich hatte gehofft, dass Ihre Erinnerungen besser würden, jetzt, wo Sie zugegeben haben, dass Jude eine Erfindung ist.«

»Ich war wie in Trance, als ich sie umgebracht habe. Da bildet sich einfach ein roter Nebel, und ich weiß kaum noch, was ich tue. Ich weiß nicht, was ich mit Amandas Kopf getan habe. Ich habe ihn seither nicht mehr gesehen, also muss ich ihn irgendwo losgeworden sein. Vielleicht im Fluss, keine Ahnung.«

Denison schüttelte den Kopf. »Da stimmt was nicht. Sie reagiert so ausweichend.«

Halloran verdrehte die Augen. »Himmel, Doc, Sie wollen doch nicht etwa behaupten, sie wäre wirklich ein Schizo?«

»Nein, nein, das will ich nicht sagen.« Denison war verunsichert. »Ich verstehe nur nicht, warum sie so ausweicht.«

»Vielleicht hat sie sich sicher gefühlt, als sie mit Ihnen sprach, wie das Mädel ja schon gesagt hat. Und jetzt weiß sie, dass sie ganz schön in der Tinte sitzt. Bei so viel Blut würde ich auch die Einzelheiten weglassen.«

Zum ersten Mal benutzte Denison die Sprechanlage. »Frag sie nach June, Steve. Der stand sie am nächsten, da müsste eine deutlichere Reaktion kommen.«

Weathers ließ es sich gegenüber Olivia nicht anmerken, dass Denison über den Knopf im Ohr mit ihm sprach. Er beugte sich vor. »Also gut, lassen wir Amanda für heute. Ich möchte noch über June sprechen.«

Sofort verzog sich Olivias Gesicht, und sie hob die Tasse hoch, um die Stirn daran zu legen, als sie weinte. Das war ihr einziger Schutz vor ihren Anklägern. Und wieder machte Denisons Herz einen Sprung.

»Ständig hat sie mich bedrängt, Nick zu verlassen«, schluchzte sie. »Hat mir gesagt, er würde mir nicht guttun. Ich konnte es nicht mehr hören. Ich habe Wert gelegt auf ihre Meinung, deshalb hat es auch so wehgetan, dass sie ihn so sehr hasste. Und in jener Nacht hatte ich einfach genug. Sie hatte mir schon den Abend verdorben, weil sie mich auf dem Ball angepflaumt hat, und als ich in unser Zimmer zurückkam, ist sie wieder aufgekreuzt, um mich noch mal zu nerven! Ich wollte einfach nur meine Ruhe.«

»Was geschah dann, Olivia?«, fragte Weathers sacht.

»Ich hab ihr ein Messer in den Bauch gerammt und sie aufgeschlitzt. Ihre Gedärme kamen raus. Ich hab einfach weiter zugestochen. Nick kam hereingerannt und hat versucht, mich zu stoppen. Er hat mir das Messer weggenommen.«

Sogar vom Nachbarzimmer aus konnte Denison an Weathers’ Schultern die plötzliche Spannung erkennen.

Betont beiläufig hakte Weathers nach: »Die meisten Stichwunden kamen also nach dem Aufschlitzen?«

»Mist«, sagte Halloran, und der Spiegel beschlug von seinem Atem.

»Was?«, wollte Denison wissen, bekam aber nur ein grobes »Scht« zur Antwort.

Auch Olivia reagierte auf Weathers’ Körpersprache. »Ich glaube schon«, sagte sie zögernd. »Um ehrlich zu sein, ist alles ein bisschen verschwommen. Wie ich schon sagte, da ist ...«

»Da ist dieser rote Nebel, ich weiß schon. Aber Sie müssen sich doch erinnern, ob June Okewenos Gedärme raushingen oder nicht, als Sie wiederholt auf sie eingestochen haben.«

Olivias Finger zitterten an der Teetasse. »Ich glaube schon.«

Weathers stand plötzlich auf, und die Stuhlbeine kratzten hinter ihm über die Teppichfliesen. »Befragung unterbrochen um 22.15 Uhr«, sagte er und hielt das Band an. Auf dem Weg zur Tür gab er MacIntyre ein Zeichen. »Behalt sie im Auge.«

Denison und Halloran hörten die Tür zuschlagen, und einige Sekunden später betrat Weathers ihr Zimmer.

»Sie lügt«, sagte Halloran, und Weathers nickte.

»Das verstehe ich nicht«, sagte Denison.

Weathers blickte in seine Richtung. Sein Blick war eisig und glich den mit Reif bedeckten grünen Glasscherben, die von der Themse ans Ufer gespült wurden.

»Der Gerichtsmediziner hat uns gesagt, dass die vielen Einstiche vor dem Ausweiden erfolgt sind. Die meisten sind Resultate der Abwehr – June hat sich erbittert verteidigt. Sie ist durch das Aufschlitzen gestorben, und keine der anderen Wunden kam nachträglich.«

»Könnte doch sein, dass sie es wirklich durcheinanderbringt«, sagte Denison. »Sie dürfte sehr aufgewühlt gewesen sein – das könnte ihr Erinnerungsvermögen beeinträchtigen.«

»Und das Gleiche glauben Sie auch bei Amanda Montgomerys Kopf, ja?«, schnaubte Halloran. »Sie hat einfach ›vergessen‹, was sie mit dem abgehackten Kopf angestellt hat? O Mann, ich weiß ja, dass Frauen immer die Autoschlüssel verlegen, aber das übersteigt alles.«

An der Tür klopfte es, und Halloran machte auf. Es war Ames, die noch im Mantel war und einen fragenden Ausdruck im Gesicht hatte.

Weathers ignorierte sie; er konzentrierte sich ganz auf Denison. »Was hat sie dir erzählt, was nur der Mörder wissen kann, Matt?«, fragte er.

»Na ja, sie wusste über Amandas Verletzungen Bescheid und dass sie enthauptet worden war. Diese Information war der Allgemeinheit nicht zugänglich.«

»Nick hat die Leiche gesehen, weißt du noch, Matt? Er hätte ihr erzählen können, in welchem Zustand sie war.«

»Elizas Stiefel und ihre Tasche«, sagte Denison und schnippte mit den Fingern. »Das war auch nicht bekannt.«

»Da hast du recht«, sagte Weathers und schüttelte den Kopf. »Aber Olivias Kumpel Danny war einer von den Kahnfahrern, die sie wiedergefunden haben.«

»Herrje, hat sie Ihnen denn gar nichts erzählt, was sie nicht über ihre verfluchten Freunde rausgefunden haben kann?«, klagte Halloran mit vor Abscheu verzogenem Mund.

»Ich muss mir die Bänder noch mal anhören«, sagte Denison.

»Aber warum lügt sie?«, fragte Halloran. »Das ergibt doch keinen Sinn. Warum bloß sollte sie ein Geständnis ablegen, wenn sie gar nicht schuldig ist?«

»Darauf habe ich vielleicht die Antwort«, sagte Ames.

Die Aussage stand auf echtem Polizeipapier mit Briefkopf. Denison las den Namen des Befragten, der da in Ames‘ ordentlicher Handschrift stand: »Danny Armstrong.«

»Er wohnt jetzt im Süden von London«, sagte Ames. »Wollte erst nicht so recht raus mit der Sprache – ihr wisst ja, dass die Ariel-Studenten einen bescheuerten Ehrenkodex haben, von wegen bloß nichts sagen und so ...«

»Was hat er gesagt?«, fragte Weathers und blätterte in der Aussage.

»Er hat wiederholt, was June ihm ein oder zwei Monate vor ihrem Tod erzählt hat. Anscheinend hatte June, deren Zimmer ja neben Olivias lag, einen Streit zwischen ihr und Nick mitbekommen. Allerdings war es laut ihrer Aussage nur Nick, der schrie. Olivia klang angeblich eher so, als versuchte sie ihn zu beruhigen. Es folgte eine kurze Pause, und dann knallte eine Tür. Als June herauskam, um nachzusehen, ob mit Olivia alles in Ordnung war, sah sie Olivia die Treppe hinunter zu den Duschen rennen, wobei sie sich den Arm hielt. June fand sie dann, wie sie ihn unter kaltes Wasser hielt. Auf der Unterseite ihres Arms war eine frische Brandwunde. June sagte Danny, es sei eine dieser Wunden gewesen, wie brennende Zigaretten sie hinterlassen.«

Denison blickte durch den Spiegel zu Olivia, die mit gesenkten Schultern auf ihrem Stuhl zusammengesunken war, wie eine zerbrochene Puppe.

»Hat Olivia ihr erzählt, was vorgefallen war?«, fragte Weathers.

»Nein – sie befahl June, sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Danny behauptet, dass Olivia June danach aus dem Weg gegangen ist.«

»Ich denke, wir sollten Olivias Krankenhausakten überprüfen«, sagte Denison.

»Ich fahre mal ins Addenbrooke-Krankenhaus«, erklärte Ames und verließ das Zimmer.

Ein langes Schweigen folgte. Die drei Männer sahen erst sich und dann Olivia an, die ihre Ellbogen auf den Tisch gestützt hatte und Mund und Nase hinter den Handflächen verbarg.

Denison ließ sich auf seinen Stuhl fallen. »Nick war’s. Nick ganz allein. O Gott, wie konnte ich nur so dumm sein.«

»Moment mal«, protestierte Halloran. »Nur weil wir rausgefunden haben, dass ihr kleiner Freund sie ‘n bisschen gequält hat, soll sie plötzlich unschuldig sein und er der Killer?«

»Wissen Sie eigentlich, wie wenig Frauen Serientäter sind?«, bemerkte Denison. »Besonders, wenn um des Mordens willen gemordet wird und nicht wegen Geld?«

»So selten ja auch wieder nicht!«, rief Halloran. »Was ist mit Rose West? Oder Myra Hindley?«

Denison schüttelte schmerzlich lächelnd den Kopf. »Genau darum geht es. Die beiden haben gemeinsam mit dominanten Männern gemordet. Ich bezweifle, dass eine von ihnen zum Serienmörder geworden wäre, wenn sie andere Lebensgefährten gehabt hätten.«

»Also wollen Sie darauf hinaus, dass Corscadden und Hardcastle unter einer Decke stecken?«

»Ich weiß nicht. Wenn sie wirklich mit den Morden zu tun hat, wie erklären wir uns dann, dass sie uns keine Einzelheiten nennen kann?«, bemerkte Denison. »Warum kann sie uns nicht verraten, wo Amandas Kopf ist, und warum denkt sie, June wäre nach dem Aufschlitzen mit dem Messer traktiert worden?«

Weathers wirkte nicht überzeugt. »Wenn sie nicht mit drinsteckt, warum zum Teufel deckt sie ihn dann? Und noch viel mehr: Schließlich nimmt sie alle Schuld auf sich.«

Denison suchte nach einer Erklärung. »Ist dir jemals aufgefallen, wie Verbrecher einen Raum betreten und sofort wissen, wen sie beschwindeln können, wen abschütteln und wen einschüchtern?«

Halloran nickte. »So wie Löwen bei Antilopen. Sie halten sich immer an die schwachen – die leichte Beute.«

»Genau, und manche Männer können verletzte Frauen auf die gleiche Weise erkennen. Sie wollen jemanden, den sie dominieren können, jemanden, den sie ganz und gar unter Kontrolle haben. Sie können genau sagen, wer verletzlich ist, wer durch Vortäuschen von Liebe und Zuneigung manipulierbar. Stellt euch nur mal vor, wie es ist, ein ganzes Leben lang gequält, missbraucht und gehasst zu werden, und dann stellt euch vor, wie man sich fühlen muss, wenn man plötzlich jemanden kennen lernt, der einen liebt und einen beschützt. Er behauptet, für einen zu sterben, dass man die Liebe seines Lebens sei, dass er nicht ohne einen leben könne. Würdet ihr ihm da nicht auch gelegentliche Schläge nachsehen? Würdet ihr ihn nicht auch beschützen, egal, was er getan hat?«

»Schon, aber gleich ‘ne handfeste psychische Erkrankung vortäuschen?«, sagte Halloran. »So gaga, wie die war, als wir sie gefunden haben? Das soll sie vorgetäuscht haben?«

»Ich habe nie geglaubt, dass sie den katatonischen Zustand vorgetäuscht hat. Wenn sie bei Betreten des Zimmers gesehen hat, was er mit June anstellte, könnte das ein Trauma ausgelöst haben, das reichte, um die Art Rückzug auszulösen, die wir erlebt haben.«

»Und die Sache mit der Multiplen Persönlichkeit? Wozu das?«

»Vielleicht hat sie in einer Hinsicht die Wahrheit gesagt«, mischte Weathers sich ein. »Vielleicht hat es ihr allmählich wirklich etwas bedeutet, was Matt dachte, sodass sie es nicht ertrug, die Schuld auf sich zu nehmen, ohne nicht wenigstens eine Entschuldigung zu haben. Vielleicht hat sie ihm die ganze Zeit mitteilen wollen: ›Ich war’s nicht.‹«