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M ein Telefon klingelte bereits, als ich am darauffolgenden Morgen die Bürotür aufschloss. Mit drei schnellen Schritten war ich am Schreibtisch, griff zum Hörer und blickte auf das Display. Polizei.

»Morgen, Siggi! Hast du eine Minute?«, hörte ich die vertraute Stimme von Kriminalhauptkommissar Hiller.

»Morgen, Nick! Muss gleich in die Sitzung. Hast du was rausgefunden?«

»Ja. Seit ein paar Wochen ist neuer Stoff im Umlauf. Scheint immer dieselbe Quelle zu sein. Die Organisation kenne ich, hat uns früher schon Arbeit gemacht. Dann haben wir den Chef und noch ein paar seiner Mitarbeiter auffliegen lassen. Eine Zeit lang war alles ruhig. Jetzt läuft der Laden wieder.« Nick war wie immer gut informiert. Wie konnte man einen solchen Mann nur aus dem Drogendezernat versetzen? Was für eine Verschwendung!

»Ist der Chef schon wieder draußen?«

»Nein. Sitzt noch mindestens sechs Jahre. Wenn du mich fragst, hat der zweite Mann den Laden übernommen.«

»Hast du einen Namen für mich?«

Ich griff nach einem Notizzettel und kritzelte darauf, was Nick mir diktierte: »Ercan Ayaz.« Ich stutzte. Obwohl ich ein miserables Namensgedächtnis hatte, kam dieser Name mir bekannt vor.

Ich legte auf und schaltete den Computer ein, um den Namen durch unsere Datenbank laufen zu lassen. Wie immer dauerte es eine halbe Ewigkeit, bis das System endlich so weit war. Nur drei Treffer tauchten auf dem Bildschirm auf. Zwei kleine Vorstrafen wegen Körperverletzung, die mehr als zehn Jahre zurücklagen und die seinerzeit mein mittlerweile pensionierter Mentor, Richter Jochen Mershofen, verhängt hatte. Und eine Verurteilung des Landgerichts wegen fahrlässiger Tötung von zwei kleinen Mädchen bei einem Autounfall. Natürlich! Ercan Ayaz war einer von zwei Halbstarken, die sich vor einigen Jahren ein Autorennen in der Stadt geliefert hatten. Das Rennen bei dem Fredis Tochter Corinna getötet wurde. Und ein anderes kleines Mädchen … Ich spürte, wie mein Mund trocken wurde. Ein bitterer Geschmack lag auf meiner Zunge.

Ich legte den Notizzettel mit dem Namen auf meinen Besprechungstisch und beschloss, bei der nächsten Gelegenheit meine Kontakte bei der Staatsanwaltschaft zu befragen. Vielleicht ergab sich dieses Mal die Gelegenheit, Ayaz festzunageln, und nicht schon wieder mit einer Bewährungsstrafe davonkommen zu lassen.

»Guten Morgen, Herr Buckmann!« Gut gelaunt und pünktlich stand mein neuer Referendar Hamid Bahar in der geöffneten Bürotür. Wieder trug er den dunklen Anzug, der ihm wie angegossen passte.

»Herr Bahar, kommen Sie doch rein! Einen schnellen Kaffee vor der Sitzung?«

Ich nahm eine Tasse aus dem Regal, stellte sie auf den Kaffeeautomaten und drückte eine Taste. Dann deutete ich auf einen leeren Stuhl am Besprechungstisch.

»Bitte, nehmen Sie Platz!«

Hamid setzte sich, und ich erklärte ihm in wenigen Sätzen den Fall, der heute zur Verhandlung anstand. Hamid hörte aufmerksam zu, was seine kurzen und präzisen Rückfragen zeigten. Als er nach seiner Kaffeetasse griff, fiel sein Blick auf den Notizzettel.

»Ercan Ayaz. Läuft gegen ihn ein Verfahren?«, fragte er interessiert.

»Nein. Kennen Sie ihn?«

»Mmh.« Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, zählte Ayaz nicht zu Hamids engem Freundeskreis.

»Darf ich fragen, woher?«

»Ich bin in keinem guten Viertel aufgewachsen. Dort kennen alle Ayaz. Dem gehört die Gegend praktisch.«

Das konnte sehr informativ werden. Ich beschloss, Hamid ganz offen zu fragen.

»Handelt Ayaz mit Betäubungsmitteln?«

Hamid schnaufte amüsiert. »Der handelt mit allem, was Geld bringt. Waffen, Menschen, Drogen. Alle möglichen Drogen. Gras. Amphetamine. Ecstasy. Sogar mit Heroin. Hat eine Menge Läufer. Sind auch viele Jugendliche darunter.«

Läufer nennt man die Mitglieder eines Drogenrings, die den Stoff auf der Straße an die Junkies verkaufen. Je mehr Läufer ein Ring hat, desto dicker ist er im Geschäft. In letzter Zeit setzten die Drogenringe verstärkt Jugendliche als Läufer ein. Das hatte mehrere Vorteile. Erstens waren junge Leute mit Geld leicht zu beeindrucken, zweitens ließen sie sich gut einschüchtern, und drittens hatten sie nur eine geringe Strafe zu befürchten, falls sie erwischt wurden. Während ein Erwachsener mit Freiheitsstrafen von über einem Jahr rechnen muss, kommen auf einen Jugendlichen nur ein paar Sozialstunden zu, schlimmstenfalls ein Dauerarrest von wenigen Wochen. Seit ein paar Jahren wurden sogar zwölf- und dreizehnjährige Kinder als Läufer eingesetzt, die nicht strafmündig waren und deshalb nicht einmal ein Jugendstrafverfahren befürchten mussten.

»Haben Sie ein Verfahren gegen ihn in Ihrem Dezernat, Herr Buckmann?«

»Nein.« Ich lächelte. »Nur die Neugier eines alten Mannes.«

»Wollen Sie mehr hören?«

Ich blickte auf die Uhr meines Smartphones.

»Später. Die Sitzung beginnt in fünf Minuten.«

Ich stand auf, holte meine Robe aus dem schmalen Schrank neben meinem Schreibtisch und richtete die weiße Krawatte.

Der Sitzungssaal war auf demselben Gang des Gerichtsgebäudes, nur wenige Schritte von meinem Büro entfernt. Als wir durch die große Flügeltür eintraten, hatte auf der Zuschauerbank bereits ein altes, dürres Männlein in einem schlecht sitzenden grauen Konfirmationsanzug mit langweiliger Beamten-Krawatte Platz genommen. Sein Gesicht sah aus, als hätte man dünne, weiße Haut über einen knochigen Totenschädel gespannt. Die wenigen grauweißen Haare waren über den fast kahlen Kopf gekämmt. Seine Augen blitzten diabolisch.

»Guten Morgen, Herr Landgerichtspräsident«, grüßte ich betont höflich.

»Morgen.« Seine schmalen, zusammengepressten Lippen bewegten sich kaum.

Der Präsident mochte mich nicht. Das war zunächst einmal nichts Persönliches. In seiner elitären Welt stand ich als einfacher Amtsrichter auf der Leiter seiner Anerkennung sehr weit unten, nur knapp über Kriminellen, Aussätzigen und Rechtsanwälten. Das hatte ich vor etwa zehn Jahren erfahren. Damals sollte eine Stelle in der Landgerichtsverwaltung besetzt werden. Eine langweilige Aufgabe für Büchereiangelegenheiten und was sonst noch keinen interessiert. Ich lehnte das großzügige Angebot des Präsidenten ab und erklärte ihm, dass ich weiter als Richter am Amtsgericht tätig sein wolle. »Warum?«, fragte er mit erkennbarer Verachtung in der Stimme. »Glauben Sie etwa, Sie könnten etwas bewirken? Ein einfacher Amtsrichter ist nur dafür da, den Dreck wegzuräumen.« Er reichte mir zum Abschied die Hand, den Handrücken nach oben gerichtet, eine typische Dominanzgeste. Hätte er einen Siegelring getragen, wäre ich nicht sicher gewesen, ob er eine Verneigung mit Handkuss erwartet hätte. Ich streckte meine Hand aus, zog sie jedoch wieder zurück.

»Ich habe ganz vergessen, ich bin ja Amtsrichter.«

Der Präsident guckte verwirrt. »Ja. Und?«

»Nun, ich bin dafür da, den Dreck wegzuräumen, und habe deshalb schmutzige Hände …«, ich machte eine kurze Pause, »… die ich nicht noch schmutziger machen möchte.« Dann steckte ich meine Hand demonstrativ in die Hosentasche, drehte mich um und ging. Seit dieser Zeit war unser Verhältnis, ganz objektiv betrachtet, vielleicht ein wenig unterkühlt.

Ich begrüßte die junge Referendarin, die heute die Staatsanwaltschaft vertreten würde, nahm in der Mitte des Richtertisches Platz und bedeutete Hamid, sich neben mich zu setzen. Sabine saß bereits an ihrem Platz hinter dem Computerbildschirm. Ich nickte ihr zu, und sie rief die einzige Sache für den heutigen Tag auf, einen versuchten Taschendiebstahl.

Die Angeklagte war erst zwanzig Jahre alt und Mutter von vier Kindern. Vermutlich wollte sie keine Spätgebärende sein. Man konnte ihr nicht vorwerfen, sie wäre ein schlechtes Vorbild für ihre Kinder, denn die lebten allesamt bei Verwandten in Rumänien und bekamen von ihrer mütterlichen Liebe nicht allzu viel mit. Wahrscheinlich auch nicht von dem Kindergeld, das sie hier in Deutschland für sie kassierte. Die junge Dame war geständig, und da sie bereits drei Monate in Untersuchungshaft verbracht hatte, war die Freiheitsstrafe, die ich aussprach, bereits verbüßt. Unbeeindruckt verließen sie und ihr Verteidiger den Sitzungssaal. Die Angeklagte wäre auch unbeeindruckt gewesen, wenn ich sie für weitere sechs Monate eingesperrt hätte. Es war aber auch nicht meine Absicht, die Angeklagte zu beeindrucken, sondern das Familienunternehmen, dem sie angehörte. Es handelte sich um eine größere Diebesbande, die ihre Wurzeln in Rumänien hatte. Diese Banden sind hervorragend organisierte Wirtschaftsunternehmen, in diesem Fall spezialisiert auf Taschendiebstahl. Jeder einzelne Mitarbeiter erwirtschaftet täglich einen Umsatz von einigen Hundert Euro. Natürlich nur, wenn er sich in Freiheit befindet. Einen kurzfristigen Ausfall einer Arbeitskraft von wenigen Tagen bis zu vier Wochen können die Organisationen gut verschmerzen. Wenn jedoch einzelne Fachkräfte, wie meine junge Angeklagte, für mindestens drei Monate ausfielen, bedeutete das bilanztechnisch eine äußerst unangenehme Umsatzeinbuße. Als mir dies vor einigen Jahren bewusst geworden war und ich meine Freiheitsstrafen entsprechend anpasste, verschwanden die Mitarbeiter der Organisation aus unserem Stadtgebiet. Man könnte auch sagen, sie verlagerten ihren wirtschaftlichen Schwerpunkt in die nächste Stadt. Nur gelegentlich, etwa alle sechs bis acht Monate, entsandten sie einen Vertreter, der prüfen sollte, ob sich das Umfeld verändert hatte, also insbesondere, ob ich noch im Amt war. Eine solche Prüfung hatte die junge Dame vorgenommen. Sie würde ihren Vorgesetzten einen umfassenden Geschäftsbericht erstatten. Und wir hätten in der Stadt für die nächsten Monate wieder Ruhe. Ich liebe es, mit Profis zu arbeiten.

Nachdem die Angeklagte die Tür hinter sich geschlossen hatte, erhob sich der Präsident mit der Schwerfälligkeit eines uralten Mannes von seinem Stuhl. Wahrscheinlich bildete ich es mir nur ein, aber immer, wenn er sich bewegte, hörte es sich an, als würden die Knochen eines Skelettes klappern.

»Mir ist aufgefallen, dass Sie nicht ganz mittig sitzen, Herr Buckmann, sondern etwa zwanzig Zentimeter mehr in Richtung der Staatsanwaltschaft. Das macht einen schlechten Eindruck. Als wären Sie voreingenommen.« Er meinte so etwas ernst. Humor war keine seiner Stärken, obwohl man das bei seinem Kleidungsstil erwartet hätte.

»Aha.«

»Ja. Und außerdem haben Sie siebzehnmal in Richtung der Angeklagten geblickt. Aber nur zwölfmal in Richtung der Staatsanwaltschaft. Ich habe eine Strichliste geführt.« Er wedelte mit einem Zettel vor meinem Gesicht herum.

»Das war Absicht«, entgegnete ich mit ernster Miene. »Das Oberlandesgericht hat unlängst entschieden, dass der Eindruck der Befangenheit nicht ohne Weiteres infolge einer unzentrierten Sitzposition des Richters angenommen werden kann, wenn jener durch seine Gestik und Mimik, insbesondere den Augenkontakt, diese auszugleichen vermag.« Nach einer kurzen Pause fügte ich hinzu. »Sie kennen dieses Urteil, oder?«

»Ach so … ja … natürlich«, sagte der Präsident so, als ob er wüsste, wovon ich rede. Dabei war ich mir ziemlich sicher, dass er das Urteil des Oberlandesgerichts nicht kannte. Vor allem deshalb, weil ich es soeben erst erfunden hatte.

»Alles in allem war es letztlich doch nicht ganz unbrauchbar«, fuhr der Präsident fort, der heute anscheinend seinen großzügigen Tag hatte. Das konnte ich ändern.

»Oh, ein Lob des Fachmanns! Wann haben Sie doch gleich zum letzten Mal den Vorsitz in einem Strafverfahren geführt?«, fragte ich interessiert.

Der Präsident machte ein missbilligendes Gesicht. »Daran kann ich mich nicht erinnern«, sagte er kurz angebunden. Das verstand ich gut. Ich helfe nach: Noch nie. Ich kannte seine Richterlaufbahn. Die meiste Zeit hatte er Klinken im Ministerium geputzt und Koffer getragen.

»Wie schade!«

Ohne ein weiteres Wort verließ er den Sitzungssaal.

»Hat das Oberlandesgericht wirklich entschieden, dass …«, flüsterte Hamid.

»Nicht, dass ich wüsste«, entgegnete ich trocken.

Hamid grinste und blickte dem Präsidenten nach. »Unangenehmer Mann«, sagte er. Hamid wurde mir immer sympathischer. Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf.

»Wissen Sie, an wen er mich erinnert?«

»O ja, das weiß ich. An Mr. Burns von den Simpsons. Stimmt’s?«

»Exakt! Er sieht aus wie Mr. Burns«, lachte Hamid. »Auch die ganze Gestik und Mimik!«

Tatsächlich war »Mr. Burns« der Spitzname des Präsidenten. Er hatte eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem gierigen und grausamen Kernkraftwerkbesitzer aus der Fernsehserie Die Simpsons. Viele Unterschiede gab es nicht. Auf der einen Seite ein bösartiger alter Mann, der eine Vorliebe dafür hat, kleinen Kindern die Süßigkeiten wegzunehmen. Und auf der anderen Seite: Mr. Burns. Es war schwer zu sagen, wer von beiden die überzeugendere Comicfigur abgab.

Ich zog die Robe aus und legte sie mitsamt der weißen Krawatte auf meine Stuhllehne.

»Das war die einzige Verhandlung heute. Normalerweise sitze ich montags«, erklärte ich Hamid. »Heute hat mir meine Kollegin den Sitzungssaal geliehen.«

Ich blickte auf die große Uhr auf der gegenüberliegenden Seite des Sitzungssaals. Im Gegensatz zu den meisten anderen Apparaturen im Gericht funktionierte sie noch tadellos.

»Ich lade Sie zur Feier des Tages zum Mittagessen ein. Kommen Sie!«

»Gern. Und was feiern wir?«, fragte Hamid.

»Dass ich Mr. Burns für die nächsten Jahre nicht mehr sehen muss. Mein Magen erträgt ihn immer nur in sehr geringen Dosen.«