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H abe dich lange nicht gesehen, Hamid«, sagte der rundliche Mann mit der Halbglatze und dem dunklen Schnurrbart, während er das lange Messer an der Schleifstange wetzte. Hamid war der einzige Kunde in dem kleinen Dönerladen. Seinen Anzug hatte er gegen Jeans, T-Shirt und eine leichte Stoffjacke getauscht, die edlen Lederschuhe gegen ein Paar abgewetzte Sneaker.
»Wie geht es deinem Bruder, Hamid?«
»Gut, Herr Ilcin! Ist viel auf Montage in Tschechien.«
»Fleißiger Mann, der Orcun. Fleißiger Mann. Wie dein Vater.«
Herr Ilcin wendete sich dem drehenden Dönerspieß zu und schnitt großzügig die Stücke für Hamids Lahmacun herunter.
»Deinen Schwestern geht es auch gut?«
»Ja, Herr Ilcin. Ceyda ist jetzt mit der Ausbildung fertig. Arbeitet für das Reisebüro am Markusplatz.«
»Sehr gut, sehr gut. Ist gut, wenn auch die Mädchen arbeiten. Gefällt aber deinem Vater nicht so gut, oder?« Ilcin zwinkerte Hamid zu und legte die Fleischstückchen auf die türkische Pizza.
Hamid zuckte mit den Schultern. »Er hat sich damit abgefunden. Mama wollte es so.«
»Hast eine gute Mutter, Hamid. Kluge Frau und gute Ehefrau.« Der freundliche Mann legte den Lahmacun vor die Salattheke. »Alles außer scharf. Stimmt’s?«
»Sie haben ein gutes Gedächtnis, Herr Ilcin!«
Ilcin nickte lächelnd. »Ja, habe ich.«
»Erinnern Sie sich auch noch an meinen Freund Yücsel?«
Ilcin nickte und lächelte traurig. Mit ernster Stimme sagte er: »Yücsel war ein guter Junge. Ist schlimm, was ihm passiert ist.«
»Ercan Ayaz ist schuld an seinem Tod.«
Ilcin schwieg. Er sah Hamid nicht an.
»Wussten Sie das?«
Schweigend und als hätte er Hamid nicht gehört, legte Ilcin den Salat auf das Lahmacun und rollte es zusammen.
»Ayaz verkauft immer noch Drogen, habe ich gehört«, versuchte es Hamid erneut.
Der sonst immer freundliche Ilcin packte den Lahmacun in Alufolie ein. »Zum Mitnehmen ist richtig, oder?« Ohne Hamids Antwort abzuwarten, nahm er eine dünne weiße Plastiktüte und legte das eingewickelte Lahmacun hinein. »Macht drei Euro«, sagte er kühl und blickte Hamid nicht an.
Hamid kramte zwei Geldstücke aus der Hosentasche und legte sie auf die Theke.
»Herr Ilcin. Vielleicht können Sie helfen. Ich …«
»Ich kann nicht helfen. Ich weiß nichts«, unterbrach Ilcin ihn barsch. »Und nun geh!«
Mit diesen Worten verschwand er in dem Lagerraum hinter der Theke.
Hamid griff nach der Tüte und verließ den Dönerladen.
»Das war schon die dritte Pleite heute Abend«, dachte Hamid, während er die breite Hauptstraße mit den vielen Brautläden entlangging, die durch sein Viertel verlief. In der Spielothek war er nicht weitergekommen und in der Teestube auch nicht. Sobald er das Thema auf Ercan Ayaz lenkte, wichen ihm die Menschen aus. Sie hatten Angst. Ebenso wie Herr Ilcin. Hamid hatte gehofft, dass ihm der freundliche Mann, den er schon als Kind gekannt hatte, weiterhelfen würde, wenn er ihn unter vier Augen sprach.
Während er sein Lahmacun verzehrte, kam Hamid der letzten Adresse näher, die er heute Abend aufsuchen wollte. Die Shishabar Black Orient lag im Erdgeschoss eines vierstöckigen Gebäudes, in dem auch eine Zahnarztpraxis und zwei Wohnungen untergebracht waren. Durch die mit schwarzen Sonnen verzierten Milchglasfenster, auf denen auch der Name der Bar zu lesen war, schien ein bläuliches Licht auf den Gehweg. Schon während Hamid die Tür öffnete, strömte ihm der typische Geruch verschiedener Tabakdüfte entgegen, und er hörte das gluckernde Geräusch der Wasserpfeifen. Hamid betrat die Lounge und blickte sich um. Er hatte die Bar als letzte Anlaufstelle gewählt, denn hier war die Gefahr am größten, dass Ayaz etwas von seinen Nachforschungen erfuhr. Während einige Gäste die Bar zum Chillen nutzten, trafen sich viele hier auch, um das ein oder andere krumme Geschäft abzuwickeln. Und wenn es um krumme Geschäfte in diesem Viertel ging, dann waren Ayaz und seine Leute nicht weit.
»Hallo, Hamid. Wie geht es dir, Alter?«, sprach ihn ein Mann in seinem Alter an.
»Hey, Ömer!«, freute sich Hamid. »Gut, gut. Wie geht es dir?«
Ömer und Hamid waren früher oft gemeinsam mit Yücsel durch das Viertel gezogen, hatten Fußball gespielt und Playstation gezockt.
»Gut. Alles gut. Wollte gerade gehen. Bist du verabredet?«
»Nein«, sagte Hamid. »Wollte mal gucken, wer so da ist.«
»Rauchen wir noch eine zusammen?«, fragte Ömer.
Sie setzten sich in eine Ecke auf eine bequeme gepolsterte Bank, vor der ein niedriger Tisch stand, bestellten eine Shisha mit Doppelapfel und zwei Eistee. Als die Pfeife gebracht wurde, waren Hamid und Ömer bereits im Gespräch über »die alten Zeiten« vertieft. Es war so, als hätten sie sich erst gestern gesehen, dabei waren sie sich seit mindestens zwei Jahren nicht mehr über den Weg gelaufen.
»Hast du eigentlich jemand Bestimmten gesucht?«, fragte Ömer, nachdem die Bedienung gerade frische Kohle auf den Kopf der Pfeife gelegt hatte.
»Wie man es nimmt. Ich brauche ein paar Informationen, Ömer.«
»Vielleicht kann ich helfen. Schieß los!«
»Es geht um Ercan Ayaz.«
Ömer machte ein erschrockenes Gesicht und bedeutete mit seiner freien Hand, leiser zu sprechen.
»Psst. Nicht so laut.« Ömer blickte sich verstohlen um. »Was hast du mit dem zu schaffen? Der ist gefährlich«, fuhr er mit leiser Stimme fort.
»Weiß ich.« Auch Hamid senkte seine Stimme. »Ich muss etwas über seine Organisation erfahren. Vor allem, woher er seinen Stoff bekommt. Weißt du da etwas?«
»Nein, Hamid. Damit will ich auch nichts zu tun haben. Ich sag dir jetzt mal was: Der Typ ist völlig irre. Angeblich hat der sogar seine eigene Freundin verschwinden lassen. Überleg mal, was der mit dir macht, wenn du ihm in die Quere kommst.« Ömer blickte sich erneut um. »Du kennst doch noch Justin, oder? Der wohnte früher auf der Steigerstraße. Der ist ein paar Jahre jünger als wir. Jedenfalls arbeitet der für Ercan. Hat ihn wohl bestohlen oder so. Jedenfalls hat ihm Ercan die Hände auf einen Koffer genagelt. Stell dir das mal vor! Wer macht denn so etwas? Der ist doch völlig irre.«
»Und woher weißt du das alles?«, fragte Hamid.
»Ich habe Ohren, Hamid. Und leider viele andere auch. Der Typ da hinter der Theke – guck jetzt nicht hin – arbeitet auch für Ercan. Wenn der mitbekommt, dass du nach ihm fragst … Der sieht uns sowieso schon die ganze Zeit so komisch an.«
»Verstehe.«
»Gut. Dann hör jetzt auf, über ihn zu sprechen.«
»Ist gut, Ömer. Ist gut.«
Eine halbe Stunde später verließ Hamid etwas enttäuscht den Black Orient. Er ging in die wenig beleuchtete Gasse, die die breite Hauptstraße mit einer der Nebenstraßen verband, in der Hamid seinen Golf geparkt hatte. Morgen Abend würde er noch einmal sein Glück versuchen. So schnell gab er nicht auf. Hamid war so in Gedanken, dass er die von den Verkehrsgeräuschen der Hauptstraße überlagerten Schritte der beiden Männer gar nicht wahrnahm. Sie folgten ihm, seitdem er die Shishabar verlassen hatte. Und sie holten schnell auf. Plötzlich vernahm Hamid ein lautes metallisches Schnappen hinter sich. Er wollte sich gerade umdrehen, da traf ihn mit Wucht etwas am Hinterkopf. Ein stechender Schmerz fuhr durch seinen Schädel, als würde ein Riss vom Scheitel bis zum Kinn entstehen. Hamid stolperte, fiel nach vorn. Reflexhaft streckte er seine Hände aus, um den Sturz abzufangen. Die linke Hand berührte als Erstes den Asphalt. Dann folgte sein Körpergewicht, und Hamid hörte ein knackendes Geräusch. Aus den Augenwinkeln sah er zwei Schuhe mit Stahlkappen, die direkt neben seinem Gesicht standen. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.