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D er blaue Lack an der großen Holztür blätterte bereits an einigen Stellen ab. Neben der Tür steckte ein leicht vergilbtes Namensschild hinter einer Plastikabdeckung: Nora Gülsen – stellv. Behördenleiterin. Ich klopfte an und wartete einen Augenblick, bevor ich die Klinke herunterdrückte und eintrat. Duracells Büroeinrichtung löste in mir stets den Drang aus, das Zimmer sofort wieder rückwärts zu verlassen. Hierfür waren vor allem die sorgfältig eingerahmten Fotos an den Wänden verantwortlich. Schnappschüsse von Duracells großen Momenten. Oder jedenfalls den Augenblicken, die sie dafür hielt. Auf einem Foto erkannte man mit etwas gutem Willen und einer ausreichenden Wimmelbilderfahrung Duracell im Hintergrund, während sich im Vordergrund Minister Paul Seemann und Mr. Burns die Hände schüttelten und dümmlich in die Linse grinsten. Auf einem anderen Bild stand Duracell mit neun weiteren Karrieristen in einer Reihe und wartete auf die hohe Ehre, den Handschlag eines viel zu spät pensionierten Bundesrichters zu erhalten. Der Fotograf hatte Duracells Vorfreude gut eingefangen. Ihre Augen glitzerten wie die einer Teenagerin, die kurz davor ist, ihren Lieblingspopstar zu küssen.

»Sie wollten mich sprechen?«

Duracell erhob sich von ihrem Schreibtischstuhl. Etwas zu schnell, um nicht aufgesetzt zu wirken.

»Mein lieber Herr Buckmann! Wie schön. Kommen Sie doch herein!«

Ihre Freundlichkeit ließ in mir alle Alarmsirenen aufheulen. Was auch immer Duracell wollte, für sie musste es von besonderer Wichtigkeit sein. Sie wies auf einen Stuhl an ihrem Besprechungstisch.

»Bitte setzen Sie sich, mein Lieber!«

Noch ein »mein Lieber« und ein Angriff mit schweren Waffen stand unmittelbar bevor.

»Möchten Sie einen Kaffee?« Ich lehnte ab. Und das fiel mir bei Kaffee immer schwer.

»Nun, der Grund, warum ich Sie gebeten habe, zu mir zu kommen, ist eine Bitte des Präsidenten. Er hat gestern Mittag zu mir … äh, mit mir gesprochen.«

Man sah ihr an, dass sie diesen Umstand als große Ehre empfand. Sie wartete einen Augenblick und gab mir die Gelegenheit, meine Bewunderung auszudrücken. Ich ließ den Augenblick ungenutzt verstreichen.

»Herr Buckmann«, fuhr sie schließlich fort, »Sie scheinen reges Interesse an einem Ermittlungsverfahren zu zeigen, bei dem irgend so ein Junkie gestorben ist.«

»Friedrich Diepenberg. Sein Name war Friedrich Diepenberg«, sagte ich kühl.

»Wie auch immer. Die Polizei und die Staatsanwaltschaft befremdet es ein wenig, dass Sie sich da einmischen.«

»Ach?«

»Und deshalb würde es der Präsident sehr gern sehen, wenn Sie sich etwas zurückhalten würden.«

»So?«

»Ja. Möglicherweise hat sich in dem Fall ein übereifriger Ermittler ein wenig verrannt. Soviel ich weiß, ist das Ermittlungsverfahren an einem toten Punkt angekommen.«

Damit hatte Duracell sogar recht. Jedenfalls was unsere Hauptbelastungszeugin betraf, was wir aber damals noch gar nicht wussten. Ich wollte weder von meiner Einschätzung der Situation berichten noch von den Bildern erzählen, die meine Tochter erhalten hatte. Wenn Duracell davon erfuhr, würde es der Präsident wissen, sobald ich ihr Büro verlassen hätte.

»Da sind Sie besser informiert als ich«, antwortete ich diplomatisch. »Ich verstehe allerdings immer noch nicht, was Sie von mir erwarten.«

»Nicht ich. Der Herr Präsident«, korrigierte mich Duracell.

»Wie auch immer.«

»Sie sind doch mit einigen Polizeibeamten und Staatsanwälten gut bekannt. Nehmen wir an, Sie würden signalisieren, dass das Ermittlungsverfahren gegen …« Duracell stockte kurz, so als ob sie sich fast verplappert hätte. »… gegen Unbekannt keine Erfolgsaussicht hat … Ich bin sicher, Ihre Meinung hätte Gewicht.«

»Der Präsident überschätzt meine Position. Ich bin nur ein ganz kleiner Amtsrichter und bewirke gar nichts. Das weiß er doch. Immerhin hat er es mir in seiner großen Güte freundlicherweise erklärt.«

Duracells Gesichtszüge wurden kälter.

»Wir können Ihnen ja nichts befehlen«, stellte sie fast bedauernd fest.

»Ja. Das ist wirklich zu ärgerlich«, unterbrach ich sie. »Immer diese richterliche Unabhängigkeit. Aber es hat auch etwas Gutes. Sie brauchen keinen Befehl zu geben. Und ich muss keinen Befehl verweigern.«

Duracell überging die Bemerkung. Sie stand auf, umrundete ihren Schreibtisch und setzte sich betont langsam auf ihren Bürostuhl. Sie lehnte sich zurück und musterte mich von oben herab.

»Ich denke, ich werde dem Präsidium bei der nächsten Gelegenheit empfehlen, Sie in den Zivilbereich zu versetzen.« Duracell lächelte giftig. Ihre Drohung war durchaus ernst zu nehmen. Unser Präsidium entschied, welcher Richter die Strafabteilung bearbeitete. Es bestand aus fünf Personen. Eine davon war der Direktor und eine weitere die Vizedirektorin. Damit fehlte Duracell nur noch eine Stimme, um ihre Drohung wahr zu machen. Wenn sie genügend Druck auf einen Kollegen ausüben würde …

»Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, erwiderte ich, wobei ich mich bemühte, möglichst gleichgültig zu klingen. Dann stand ich langsam auf und trat so nah an ihren Schreibtisch heran, dass ich sie von oben herab anblickte. »Aber bis es so weit ist, stören Sie mich nicht mehr bei meiner Arbeit!«

Mit diesen Worten drehte ich mich um und verließ ihr Büro, ohne mich noch einmal umzusehen.

Als ob ich nicht schon genug Probleme hätte. Jetzt wollte mich Duracell auch noch als Strafrichter kaltstellen. Warum hatte der Präsident so ein reges Interesse daran, dass das Ermittlungsverfahren gegen Ayaz eingestellt wurde? Um diese Frage zu beantworten, beschloss ich, meine alten Landgerichtskontakte zu nutzen. Ich kannte genau den richtigen Mann dafür: meinen alten Kollegen Dr. Wieler. Er war das lebendige »Who’s who« des Gerichtes, kannte jeden Mitarbeiter und wusste alle ihre Geheimnisse. Das lag daran, dass jeder Dr. Wieler mochte und sich gerne mit ihm unterhielt. Wachtmeister, Geschäftsstellen, Rechtspfleger, Richter. Im Kollegenkreis kursierte der Witz, dass es zwei Möglichkeiten gebe, eine Nachricht im Landgericht zu verbreiten. Entweder eine E-Mail an alle zu schreiben oder es Herrn Dr. Wieler zu erzählen. Es war schwer zu sagen, was der schnellere Weg war. Der amüsantere Weg war mit Sicherheit Dr. Wieler.

Da ich das Gespräch nicht in meinem Büro führen wollte, beschloss ich, einen kleinen Spaziergang zu machen. Kaum hatte ich das Gerichtsgebäude verlassen, zog ich mein Handy aus der Hosentasche und wählte seine Nummer.

»Wieler«, meldete er sich knapp.

»Hallo, Herr Dr. Wieler. Wie geht es Ihnen? Siggi Buckmann hier.«

»Oh, hallo, Herr Buckmann«, antwortete Wieler freundlich. »Danke, gut geht’s mir! Und Ihnen? Was macht Ihre kleine Tochter? Wie war noch der Name … Ronja, stimmt’s? Gefällt es ihr noch in England? Ist doch schon zur Hälfte rum, das Semester.« Dieser Satz bestätigte, dass Wieler genau die richtige Adresse war, um eine Information zu erhalten. Denn von mir wusste er nicht, dass Ronja momentan im Ausland studierte.

»Ja, es gefällt ihr sehr gut, danke! Herr Dr. Wieler, hätten Sie ein paar Minuten Zeit für mich?« Mit so wenigen Worten wie möglich erzählte ich ihm von dem Gespräch mit Duracell und der Bitte des Landgerichtspräsidenten. Mit den Informationen zum Fall Ayaz hielt ich mich dabei bewusst zurück. Als ich jedoch den Namen von Rechtsanwalt Schedel erwähnte, wurde Dr. Wieler hellhörig.

»Ach, Herr Schedel ist da beteiligt. Unangenehmer Kerl. Hat aber gute Beziehungen. Wissen Sie, wer seinerzeit mit ihm in derselben Arbeitsgemeinschaft für Referendare war? Ein sehr erfolgloser kleiner Rechtsanwalt, der den Weg in die Politik gesucht hat. Paul Seemann. Unser Justizminister. Hat Schedel mir mal voller Stolz erzählt. Die beiden duzen sich. Vielleicht hat Schedel den Justizminister um einen kleinen Gefallen gebeten. Der alten Zeiten wegen.«

Aus dem Lautsprecher meines Handys ertönte der Signalton, um anzuzeigen, dass ein weiterer Anruf in der Leitung war. Ich nahm das Handy vom Ohr und blickte auf das Display. Hamid Bahar. Ich würde gleich zurückrufen. Vielleicht hatte Hamid endlich gute Neuigkeiten.

»Sehr interessant, Dr. Wieler.«

»Und wissen Sie auch, wem es der Präsident zu verdanken hat, dass er überhaupt Präsident geworden ist? Dem Justizminister.« Wieler schien für den Präsidenten ähnlich tiefe Gefühle zu hegen wie ich selbst. »Zum Glück hat Mr. Burns dasselbe Parteibuch wie Paul Seemann. Und ist ihm oft und tief genug in eine unappetitliche Körperöffnung gekrochen, als er noch im Ministerium Klinken geputzt hat.«

»Dafür hat der Präsident die passende Figur«, stellte ich zustimmend fest.

»Fürs Klinkenputzen oder Arschkriechen?«

»Für beides.«

Wieler lachte herzhaft.

»Danke, Herr Dr. Wieler. Sie haben mir sehr weitergeholfen.«

»Ich? Kommen Sie doch mal wieder auf einen Kaffee vorbei«, sagte Dr. Wieler freundlich. »Es gibt so viel Neues zu erzählen!«

Wir verabschiedeten uns, und ich rief Hamid zurück.

»Hallo, Herr Buckmann.« Hamid klang, als würde er unter einem Kater leiden, nachdem er sich auf ein Wetttrinken mit drei schwergewichtigen russischen Austauschstudenten eingelassen hatte.

»Sie klingen ja furchtbar. Was ist los?«

»Ich muss leider unsere Verabredung für heute Nachmittag absagen. Es tut mir wirklich sehr leid.«

»Geht es Ihnen gut?«

»Ja. Ganz gut. Wenn es so weitergeht, werde ich übermorgen entlassen.«

»Was?! Wo sind Sie?«

»Im Krankenhaus St. Paulus. Ich lehne mich jetzt mal ganz weit aus dem Fenster und sage: Meine Fragen bezüglich eines gewissen Drogenrings haben jemandem so gar nicht gefallen.«

»Ich bin in einer halben Stunde da!«