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D ie kleine Altbauwohnung hatte nur zwei Zimmer. Eine Wohnküche und ein Schlafzimmer. Beide Räume waren sehr spartanisch eingerichtet und etwas unordentlich. Diese Eigenschaft hatte Kiana definitiv von ihrem Vater. »Wer Ordnung hält, ist nur zu faul zum Suchen«, sagte Siggi immer. Im Schlafzimmer lagen ein paar Klamotten verstreut herum, und ein Korb mit frisch gewaschener Wäsche stand seit Tagen vor dem Kleiderschrank und wartete geduldig darauf, endlich ausgeräumt zu werden. Kiana schlief schon seit zehn Uhr tief und fest in dem großen Boxspringbett. Sie wollte früh aufstehen, um weiter an ihrer Arbeit über Sartre zu schreiben. Deshalb war Tobi allein auf die Party der juristischen Fakultät gegangen. Kiana hatte ihm mit den Worten »Mach nicht so viel Lärm, wenn du kommst« ihren zweiten Wohnungsschlüssel in die Hand gedrückt. Gegen halb eins wachte sie plötzlich auf und blinzelte verschlafen auf den Wecker. Ein Geräusch an der Wohnungstür hatte sie geweckt. Kiana wunderte sich. Tobi kam sehr früh heim. Für seine Verhältnisse. Wenn er eine Party vor zwei Uhr morgens verließ, dann musste sie richtig schlecht gewesen sein. Wieder hörte sie ein Kratzen am Türschloss. Oder die Party war zu gut und Tobi bereits abgefüllt. Das war die andere Möglichkeit und würde erklären, warum er offensichtlich Mühe hatte, die Tür zu öffnen. »Verflucht!« Kiana stand auf. Barfuß ging sie in ihrem Shorty in Richtung Wohnungstür. Wieder kratzte es am Schloss der Tür. »Ja, Ja! Ich komme ja schon«, grummelte sie verschlafen. Das Mondlicht erhellte den Flur ausreichend, und unter dem Türspalt schien das Licht des Hausflurs hindurch. Kiana hatte die Tür erreicht. Ihr Schlüssel steckte im Schloss. Gähnend griff sie danach und drehte ihn einmal herum. Wie üblich hatte sie zweimal abgeschlossen. Nur die kleine Kette war dieses Mal nicht vorgeschoben, damit Tobi die Tür von außen öffnen konnte. Gerade wollte Kiana den Schlüssel zum zweiten Mal drehen, als sie plötzlich zögerte und auf den Türspion blickte. Augenblicklich ärgerte sie sich über ihr Verhalten. »Ich werde noch paranoid!« Nur weil ihr so ein Spinner ein Foto über Instagram geschickt hatte. »Ach verdammt!«, fluchte sie und blickte durch das kleine Loch der Wohnungstür. Ihre Pupillen weiteten sich. Kianas Herzschlag beschleunigte, und ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken. Als wäre der Schlüssel, den sie vor einem Augenblick noch herumdrehen wollte, eine giftige Schlange zog sie ganz langsam ihre Hand zurück. Vor der Wohnungstür standen zwei schwarz gekleidete Gestalten. Groß und breitschultrig. Ihre Gesichter konnte Kiana nicht erkennen, denn beide trugen Sturmhauben, die nur die Augen freiließen. Einer der beiden machte sich an ihrem Türschloss zu schaffen. Instinktiv griff Kiana zu der Sicherungskette und hängte sie ein. Fast gleichzeitig schnappte das Schloss zurück, und die Tür öffnete sich. Kiana stieß einen spitzen Schrei aus, als eine Hand mit dunklem Handschuh durch den Türspalt nach der Kette griff. Dann warf sie sich kurz entschlossen mit ihren leichten dreiundfünfzig Kilogramm gegen die Tür. Den Bruchteil einer Sekunde später ertönte ein lauter Schmerzensschrei, der ganz offensichtlich von der Person ausgestoßen wurde, zu der die Hand gehörte, die jetzt in der Tür klemmte. Die Hand wurde zurückgezogen, und Kiana nutzte den Augenblick geistesgegenwärtig, um die Tür wieder ins Schloss zu drücken. Blitzschnell drehte sie den Schlüssel herum. Einmal. Zweimal. In diesem Moment rammte etwas wuchtig gegen die Tür, sodass Kiana reflexhaft zurücksprang. Anscheinend hatten die beiden Männer den Plan aufgegeben, dass Türschloss mit Geschick zu knacken, und versuchten nun, die Tür aufzubrechen, indem sie dagegentraten. Ein zweiter lauter Knall hämmerte gegen die hölzerne Wohnungstür. Kiana sah sich um. Wo hatte sie gestern Abend ihr Smartphone abgelegt? Sie hatte mit Ronja telefoniert und einen Tee getrunken … wieder rammte einer der Männer seinen Fuß gegen die Tür. Die Küche! Mit drei schnellen Schritten war Kiana in der Wohnküche und schaltete das Licht ein. Auf der Anrichte lag ihr Handy. Als sie es in die Hand nahm, hörte sie erneut einen lauten Knall an der Wohnungstür. Das Holz knirschte. Lange würde sie das nicht mehr aushalten. Kiana wählte die Notrufnummer. Schon nach dem ersten Klingeln meldete sich eine Frauenstimme.
»Polizeinotruf. Guten Tag. Hier spricht Polizeikommissarin Stegger.«
»Hier ist Kiana Buckmann. Ich wohne in der Otte-Straße 17, zweiter Stock. Zwei Männer versuchen, meine Wohnungstür aufzubrechen. Bitte helfen Sie mir!« Wieder schlug es krachend gegen die Wohnungstür.
»Verstanden, Frau Buckmann. Otte-Straße 17, zweiter Stock. Ich schicke sofort eine Streife. Sind Sie allein in der Wohnung?«
»Ja.« Kiana fiel ein, dass sie sogar im ganzen Haus allein war. Zwei Wohnungen standen ohnehin leer. Und der nette Informatikstudent aus dem Erdgeschoss war für eine Woche zu seinen Eltern gefahren.
»Können Sie sich in irgendeinem Zimmer einschließen?«, fragte die Polizeikommissarin routiniert.
»Nein … Doch … Im Bad vielleicht.« Das laute Knirschen bei dem erneuten Aufschlag verriet, dass die Tür bald nachgeben würde.
»Bitte gehen Sie ins Bad und schließen Sie sich ein. Nehmen Sie das Telefon mit. Die Kollegen sind gleich da. Reden Sie weiter mit mir.«
Kiana rannte ins Bad, knipste das Licht an und schloss die Tür.
»Ach, Scheiße!«
»Was ist los, Frau Buckmann?«
»Der Schlüssel ist nicht im Schloss«, antwortete Kiana und riss den kleinen Spiegelschrank auf. Fehlanzeige.
»Frau Buckmann, sehen Sie bitte oben auf dem Türrahmen nach. Liegt der Schlüssel vielleicht dort?«
Kiana blickte nach oben. Tatsächlich. Sie griff nach dem Schlüssel und schloss die dünne Sperrholztür ab. Einen guten Schutz würde sie nicht bieten.
»Woher …?«
»Da liegt er meistens.« Die Stimme der erfahrenen Beamtin wirkte beruhigend auf Kiana.
Ein wuchtiger Tritt zerschmetterte das Schloss der Wohnungstür. Jetzt wurde sie nur noch von der kleinen Sicherheitskette gehalten. Im gleichen Moment erklang durch das gekippte Badezimmerfenster eine Polizeisirene. Sie wurde schnell lauter. Aus dem Hausflur vernahm sie Geräusche. Die beiden Männer rannten offensichtlich die Holztreppe des Flurs herunter. Ein paar Sekunden später hielt ein Fahrzeug mit quietschenden Reifen und eingeschalteter Sirene vor dem Haus.
»Ich höre Ihre Kollegen!« Kiana atmete erleichtert auf.
»Bleiben Sie bitte genau da, wo Sie jetzt sind, Frau Buckmann! Ich gebe Ihnen Bescheid, wenn die Kollegen vor Ihrer Wohnungstür stehen.«
Kiana setzte sich auf den Rand der Badewanne. Sie hatte Tränen in den Augen. Jetzt erst nahm sie die kühlen Fliesen unter ihren nackten Füßen wahr. Sie zitterte am ganzen Körper. Mit der rechten Hand drückte sie weiterhin krampfhaft ihr Smartphone an das Ohr.
»Danke!«, flüsterte sie. »Danke!«