55

A nhand der Sprachnachrichten auf meinem Smartphone und Sabines Bericht konnte ich rekonstruieren, was gestern geschehen war, nachdem ich das Gericht verlassen hatte:

Etwa gegen fünfzehn Uhr erschien der Gefangenentransporter mit zwei Vollzugsbeamten, die Ayaz in die JVA Neustadt überführen wollten. Micha Petri, der Chef unserer Wachtmeisterei, übergab den Vollzugsbeamten die Papiere.

»Das geht nicht«, stellte der ältere der beiden Beamten trocken fest, als er die beiden Aufnahmeersuchen überflogen hatte. »Wenn euer Haftrichter eine Trennung anordnet, können wir die nicht beide nach Neustadt bringen. Wir haben vorhin schon einen nach Neustadt gebracht. Der andere muss jetzt nach Großdorf.«

Micha zuckte mit den massigen Schultern und brummte: »Dann bringt den doch nach Großdorf.«

Der Vollzugsbeamte schüttelte energisch den Kopf.

»Das mache ich doch nicht ohne das richtige Formular. Da könnte ja jeder kommen.«

Micha rief auf der Geschäftsstelle an und erreichte Sabine, die soeben nach Hause gehen wollte.

»Mist!«, fluchte Sabine. Zu Recht. »Das habe ich Siggi gesagt. Der war heute irgendwie komisch. Ich kümmere mich darum.«

Nachdem Sabine erfolglos versucht hatte, mich auf meinem Handy zu erreichen, das sicher und trocken unter der Akte auf meinem Schreibtisch lag, wendete sie sich an Duracell.

Duracell hatte zunächst den brillanten Einfall, mich anzurufen. Hiervon konnte auch Sabine sie nicht abhalten, obwohl sie ihr versicherte, dies bereits mehrfach versucht zu haben. Duracell startete einen eigenen Versuch. Und noch einen. Und noch einen. Insgesamt waren es dreizehn Stück. Bei den letzten vier Anrufen hinterließ sie Sprachnachrichten auf der Mailbox.

»Herr Buckmann, bitte rufen Sie zurück, es ist dringend.« Danke für die Information, das wäre mir allein anhand der vorhergehenden neun Anrufe nicht in den Sinn gekommen.

»Herr Buckmann, ich habe schon ein paarmal versucht, Sie zu erreichen, bitte rufen Sie zurück.« Na, dann ist es wohl wirklich dringend. Das unterstreicht die Bedeutung des vorherigen Anrufes. Und seiner sämtlichen Vorgänger. Hat aber genauer betrachtet keinen neuen Informationsgehalt.

»Herr Buckmann, wenn Sie nicht in den nächsten fünf Minuten zurückrufen, werde ich eine Entscheidung treffen!« Oha, dann musste es sich tatsächlich um eine wichtige Angelegenheit handeln, die keinen weiteren Aufschub duldete.

Nachdem ich trotz des Telefonterrors das gesetzte Ultimatum hatte verstreichen lassen, traf Duracell eine Entscheidung. Genauer gesagt, fragte sie, wie Bine mir später schilderte, in einem hysterischen Tonfall, was sie jetzt tun sollte. Nachdem es ihr zunächst von den Wachtmeistern, dann von den Vollzugsbeamten und schließlich auch von Sabine im Einzelnen erklärt worden war, ordnete sie mit nur noch leicht zitternder Stimme an: »Sabine, bereiten Sie ein neues Aufnahmeersuchen für Ayaz vor! Für die Vollzugsanstalt Großdorf!«

»Habe ich schon längst«, zischte Sabine gereizt und legte ihr das Schreiben zur Unterzeichnung vor. Obwohl diese Standardformulare sehr übersichtlich sind, studierte Duracell es eine geschlagene Viertelstunde, bis sie sich endlich zur Unterschrift überwinden konnte. Möglicherweise hatte die geflüsterte Drohung eines der beiden Vollzugsbeamten motivierend gewirkt: »Wenn die alte Schachtel noch eine Minute länger braucht, erwürge ich sie mit ihrem Büstenhalter!«

Letztlich konnte Ayaz doch noch vor Mitternacht abtransportiert werden. Nach Großdorf.