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M akroökonomie lautete der Titel des rot-weißen Buches, das die junge Frau mit den langen blonden Haaren in den Händen hielt. Sie saß auf einer kleinen Bank auf der Uferpromenade und war offensichtlich eine Deutsche. Nun, das fiel in der kleinen niederländischen Küstenstadt nicht weiter auf. Viele deutsche Touristen machten hier halt, um den malerischen Hafen mit den vielen Fischrestaurants zu besuchen.
Auch an diesem Spätsommertag waren die kleinen Lokale gut besucht, wofür nicht zuletzt der wolkenlos blaue Himmel sorgte. Die blonde Frau mit den verwaschenen Jeansshorts und dem schwarzen Trägertop hatte das Buch schon seit einigen Minuten nicht mehr angesehen. Stattdessen beobachtete sie amüsiert, wie zwei flachsblonde Jungen, höchstens sieben Jahre alt, zwischen der Kaimauer und dem Tisch vor einem Restaurant hin- und herliefen. Sie versorgten sich mit frischen Brotscheiben, die sie an die Fische im Hafenbecken verfütterten. Ihre Eltern beobachteten sie, während sie einen Kaffee schlürften und ab und zu die typischen Anweisungen besorgter Erzieher gaben. »Nicht zu nah an das Wasser!«, »Wenn ihr reinfallt, holt Papa euch nicht raus!«, »Am Ufer wird nicht gerannt!«
Nach einigen Minuten wollte die hübsche blonde Studentin die Lektüre ihres Buches wieder aufnehmen, da erregte eine Diskussion der beiden Jungen ihre Aufmerksamkeit.
»Das ist keine Boje«, sagte der Größere.
»Was denn sonst?«, fragte sein Bruder.
»Ein Stück Holz vielleicht.«
»Nee, das glaube ich nicht. Vielleicht eine dicke Qualle oder so.«
Die junge Frau legte das rot-weiße Buch neben sich und erhob sich von der Bank. Die beiden Jungen standen nur zwei Schritte vor ihr und lehnten sich gefährlich weit über die Kante der Kaimauer, während sie immer wieder mit den Fingern auf eine Stelle unter ihnen im Wasser zeigten.
»Na, was habt ihr beiden denn entdeckt?«, fragte sie interessiert und trat an den Rand der Ufermauer.
»Guck doch mal«, sagte der Kleinere der beiden. »Weißt du, was das ist?«
Er zeigte auf einen Gegenstand, der in den leichten Wellen auf und ab schaukelte wie eine Boje. Aber es war keine Boje. Das Material schien weicher zu sein. Es war aufgequollen und löste sich an einigen Stellen bereits auf. Das Ding war etwa anderthalb Meter lang und … Die blonde Frau stieß einen markerschütternden Schrei aus. Die Jungen erschraken, machten einen Satz zurück und rannten in Richtung ihrer Eltern. Der Vater der beiden sprang auf und eilte wie einige andere Besucher der Uferpromenade zu der hübschen Frau, die noch immer wie angewurzelt am Rand des Hafenbeckens stand und in das Wasser starrte, die Hände vor den Mund gerissen.
»Was ist denn?«, rief der Vater der Jungen und ergriff die Schultern der jungen Frau. Dann folgte er ihrem Blick ins Wasser. »O mein Gott!«
Etwa zehn Minuten später bargen Beamte der niederländischen Polizei den seit mehreren Wochen im Wasser treibenden Körper einer jungen Frau, die nur noch anhand ihrer zahnärztlichen Unterlagen identifiziert werden konnte. Eine junge Deutsche, Chantal Weiler, die vor einigen Wochen in Deutschland verschwunden war und von der Polizei gesucht wurde. Sie hätte als Zeugin in einem Verfahren gegen ihren Freund aussagen sollen.
Das eingeleitete polizeiliche Ermittlungsverfahren zu den Todesumständen von Chantal Weiler wurde recht bald eingestellt. Unfall oder Selbstmord lautete das Ergebnis. Jedenfalls Tod ohne Fremdeinwirkung.