Francesca hatte keine Sekunde damit gerechnet, dass Annette den Wunsch äußern würde, an der Jagd auf den Dingo teilzunehmen. Sie war zwar eine gute Reiterin, bösartige Tiere zur Strecke zu bringen lag ihr jedoch nicht. Obwohl sie auf mancher Outback-Ranch zu Gast gewesen war, hatte sie noch nie ein Gewehr in der Hand gehabt. Sie verabscheute Gewalt, aber „Darambas“ Tiere – die jungen Kälber, die sich noch nicht schützen konnten, und die alten, halbwilden Rinder, die am Rand der Wüste ein karges Dasein fristeten – waren in Gefahr.
Wildhunde verbreiteten oft allgemeinen Schrecken. Sie hatten schon erwachsene Männer angegriffen, und „The Ripper“ – so hieß der Killerdingo bei den Rancharbeitern – war besonders gefürchtet. Er riss die Tiere nicht, weil er Hunger hatte, sondern im Blutrausch. Wo er auftauchte, hinterließ er eine grausige Spur qualvoll verendeter Tiere. Vance Bormann, der neue Mann im Team, hatte tagelang die Guajakwälder durchstreift und den Dingo dabei abseits der Herde entdeckt. Er hatte auf ihn geschossen, ohne zu treffen. „The Ripper“ war entkommen und hielt sich jetzt irgendwo in einem schwer zugänglichen Sumpfgebiet auf.
Auch Gordon Carstairs ließ sich nicht von einer Teilnahme an der Jagd abbringen. Er war auf einem Landgut im Staat Victoria aufgewachsen und konnte reiten und schießen. Er erklärte sich sogar bereit, vor Jacob Dawson, „Darambas“ neuem Aufseher, den Beweis dafür anzutreten, der zufriedenstellend ausfiel.
„Nehmen Sie ihn mit, Miss Francey“, hatte Jacob anschließend gesagt. „Er ist zielsicher wie der Teufel.“
Annette ließ sich ebenfalls von der allgemeinen Aufregung anstecken. Vielleicht wollte sie auch nicht hinter Gordon Carstairs zurückstehen. Jeder konnte merken, wie stark sich die beiden zueinander hingezogen fühlten, aber Annette sollte hinten reiten und allenfalls dabei helfen, das Tier einzukreisen.
„Was ist bloß in Annette gefahren?“, fragte Carina irritiert. Francesca hatte ihr die Teilnahme an der Jagd nicht ausreden können. „Sie sollte vernünftig sein und zu Hause bleiben. Du musst darauf bestehen, Francey. Sie ist nur eine zusätzliche Belastung.“
Francesca war derselben Meinung, aber sie brachte es nicht übers Herz, Bryns Mutter zu enttäuschen. Aus demselben Grund hatte sie auch Carina mitgenommen und es bisher nicht bereuen müssen. Ihre Cousine war charmanter und umgänglicher als je zuvor, und es fiel Francesca schwer, ihr zu widersprechen.
„Sag Annette nichts davon“, bat sie. „Ich habe sie nie glücklicher gesehen und möchte, dass es so bleibt. Du warst bisher so nett zu ihr. Verdirb das nicht.“
„Wo denkst du hin?“ Carina schien sich mit der Entscheidung abzufinden. „Der Grund ist natürlich Gordon.“ Sie lachte gutmütig. „Er ist ein altmodischer Typ … sehr gentlemanlike und so. Das gefällt Annette.“
„Mir auch“, gestand Francesca. „Gute Manieren sind immer gefragt.“
„Annette und du … ihr beiden seid euch recht ähnlich.“ Carina musterte ihre Cousine. „Immer fein und vornehm. Deshalb hält sich Bryn jetzt wohl auch lieber an dich. Ich bin ihm zu oberflächlich … zu direkt. Wahrscheinlich wäre es mit uns nicht gut gegangen. Ehrlich gesagt, trauere ich ihm nicht einmal nach.“ Sie küsste Francesca auf die Wange. Es war der erste echte Kuss, den sie ihr gab. „Merkst du, wie gut wir uns unterhalten können? Wir sind endlich wieder Freundinnen. Wenn Gordon an Annette Gefallen findet, soll es mir recht sein.“
Die Jagdgesellschaft hatte sich in zwei Gruppen aufgeteilt. Die eine bestand aus Jacob, Carina, Vance Bormann und zwei Rancharbeitern und brach zuerst auf. Ihr folgte die andere mit Francesca, Annette, Gordon und drei Aborigines, die sich aufs Fährtenlesen verstanden.
Die Sonne stand bereits hoch und tauchte alles in flirrendes Licht. Aus Sorge um Annettes empfindliche Haut überließ Francesca ihr ihren besten cremefarbenen, mit Schlangenhaut verzierten Akubra und setzte sich dafür Annettes schwarzen Hut auf, der weniger Schutz bot. Außerdem steckte sie Annette ein blauweißes Tuch in den Ausschnitt ihrer langärmligen Bluse, sodass auch ihr Nacken geschützt war. Anfangs trug Annette die Ärmel lang, aber schon bald krempelte sie sie bis zum Ellbogen auf. Alles in allem sah sie äußerst zünftig aus, als wäre sie noch das junge Mädchen von einst. Vor allem die Jeans standen ihr prächtig, was offenbar auch Gordon nicht entging.
Bis zum späteren Vormittag ließ sich „The Ripper“ nicht blicken. Die Reiter hatten sich über mehrere Hundert Meter verteilt. Francesca und Annette folgten mit einigem Abstand. Die Pferde waren bereits erschöpft, und die allgemeine Stimmung befand sich auf einem Tiefpunkt.
„Hierher!“ Der Ruf kam von Carina und war in der klaren Luft weit zu hören. Sie ritt mit Vance Bormann vorneweg und zeigte auf ein ausgetrocknetes Wasserloch, das von Bäumen umgeben war.
Was, zum Teufel, dachte Carina sich dabei? Falls sie den Dingo aufgespürt hatte, würde der Lärm ihn nur verscheuchen. Francesca sah ihre Begleiterin besorgt an. „Möchtest du nicht lieber umkehren?“, fragte sie. „Du könntest dir einen schattigen Platz suchen und auf uns warten.“
„Ja, das sollte ich vielleicht tun.“ Annette nahm den Vorschlag mit Erleichterung auf. „Reitest du allein weiter?“
„Nur noch ein kleines Stück“, antwortete Francesca. „Bleib in der Nähe. Wir holen dich später ab.“
„Ihr findet mich dort drüben.“ Annette lenkte ihr Pferd zum nächsten Wasserlauf. „Mach dir keine Sorgen. Ich kenne mich aus.“ Sie lächelte beruhigend. „Viel Glück bei der Jagd.“
Aus irgendeinem Grund wählte Francesca einen anderen Weg als der Haupttrupp. Sie fühlte sich dazu gedrängt, als ginge es um mehr als das bloße Auffinden des mörderischen Dingos. Eine geheimnisvolle Macht lenkte sie, und sie folgte ihr nicht zum ersten Mal. Sie kannte diese Eingebungen seit ihrer Kindheit.
Nachdem sie eine Weile im Schatten hoher Bäume geritten war, tauchte links eine Lagune auf. Sie schien flach zu sein, aber Francesca hatte gelernt, diesen Gewässern nicht zu trauen. Plötzlich bewegte sich etwas im Uferschilf. Sie erschrak, ritt jedoch, da nichts zu erkennen war, mutig weiter. So nah am Wasser war die Luft dumpf und stickig. Je weiter sie kam, desto durchdringender roch es nach Dingo. Gleichzeitig hörte sie die anderen zurückkommen. Das Donnern von Pferdehufen mischte sich mit lauten Rufen, und Francesca konnte Jacobs enttäuschte Stimme ausmachen.
„Entweder war er gar nicht hier, oder er konnte uns entwischen!“
Francesca befand sich in höchster Spannung. Dasselbe galt für Jalilah. Etwa fünfzig Meter vor ihr wurde das Ufergestrüpp so dicht, dass sie kaum weiterkommen oder etwaige Spuren erkennen konnte. Nur der durchdringende Geruch blieb. Angst packte Francesca. Hier wollte sich der Gegner stellen. Sie wusste es, denn sie hatte wie unter Zwang gehandelt. Jetzt stand sie der Gefahr allein gegenüber.
„The Ripper“ kauerte auf den Hinterbeinen. Er war ungewöhnlich groß und erschrak bei Francescas Anblick nicht weniger als sie. Die Flucht hatte ihn müde gemacht, sein zottiges, schmutzig graues Fell hatte gelbliche Streifen und war schweiß-verklebt. Ein Versuch, ihn durch Schreien oder Händeklatschen zu verscheuchen, wäre sinnlos gewesen. Die Zähne gefletscht starrte er Francesca an. Sie glaubte, einen beinahe menschlichen Hass zu spüren, aber das war natürlich Einbildung. Ihre lebhafte Fantasie spielte ihr wieder mal einen Streich.
Der Dingo begann zu knurren. Seine Wildheit und Größe versetzten Francesca fast in Panik. Sie hatte schon viele dieser Tiere gesehen, aber noch nie ein solches Exemplar. Das war kein gewöhnlicher Wildhund, sondern ein Ungeheuer, das nicht weichen würde. Doch Francesca hatte sich inzwischen gefasst, und auch Jalilahs Lebensgeister kehrten zurück.
Hinter sich hörte sie Schüsse. Woher kamen sie? Jedenfalls aus ziemlicher Nähe. Einer war zu nah, das spornte sie an. Sie griff nach ihrem Gewehr und zielte. Ihre Hände, die eben noch gezittert hatten, waren jetzt ganz ruhig. Das Land gehörte ihr. Sie verteidigte nur ihr Eigentum. Für diesen frechen Eindringling war hier kein Platz.
„Also gut“, forderte sie ihn heraus und machte sich damit selber Mut. „Komm her. Na los … komm schon.“
Darauf schien die Bestie nur gewartet zu haben. Sie setzte zum Sprung an, um das nächste Opfer zu zerfleischen, aber Francesca drückte eiskalt ab. Sie musste nur einmal schießen. Die Kugel drang dem Tier direkt in den Kopf.
He, Kleines!
Francesca fuhr zusammen und drehte sich um. Sie kannte die Stimme nicht, aber es war die eines Aborigines. Sonderbarerweise war niemand zu sehen, was sie vollends verwirrte.
He, Kleines. Kannst du mich hören?
Das war wieder die Stimme, aber woher kam sie? Aus dem Wasser? Das Schilf am Ufer war weithin niedergedrückt. Der Dingo musste hier länger umhergestreift sein. Für einen flüchtigen Moment kam es Francesca so vor, als wären einzelne Schilfhalme mit Blut befleckt. Wie betäubt, schloss sie die Augen, und als sie sie wieder öffnete, waren die Blutflecke verschwunden.
Unglaublich! Francesca schwankte plötzlich im Sattel. Die Hitze und die Anstrengung … Es war einfach zu viel für sie gewesen.
„Wer ist da?“, rief sie. Es sollte entschieden klingen, aber ihre Stimme hörte sich zittrig an. „Zeigen Sie sich!“
Was erwartete sie? Dass eine Gestalt aus dem Wasser auftauchen würde? Plötzlich verwandelte sich die ganze Szene, über der bisher ein trüber grünlicher Dämmerschein gelegen hatte. Das Sonnenlicht brach durch die Zweige der hohen Eukalyptusbäume und tauchte die Lagune in hellen Glanz. Die Oberfläche begann sich zu kräuseln, obwohl es völlig windstill war. Kein Hauch war zu spüren. Kein Blatt bewegte sich.
Ein unheimliches Gefühl beschlich Francesca. Ihr war, als träumte sie, aber seltsamerweise hatte sie keine Angst. Ein fremdes, geheimnisvolles Wesen wollte ihr etwas mitteilen. Sie auf etwas aufmerksam machen. Sie besaß nun einmal diese lebhafte Einbildungskraft. Das musste sie akzeptieren. Als Künstlerin kam sie ihr zugute, manchmal erwies sie sich jedoch auch als hinderlich.
Sie lauschte angestrengt. Nichts. Sie versuchte, sich zu erinnern, wer sie früher „Kleines“ genannt hatte. Vergeblich. Taree Newton wäre infrage gekommen, aber wegen seines hohen Alters hatte er nicht an der Jagd teilgenommen. Außerdem hatte die Stimme gebildeter geklungen …
Plötzlich meinte sie sich dunkel an etwas zu erinnern, konnte es aber nicht richtig fassen. „Ich komme zurück“, versprach sie, ohne erklären zu können, warum sie das sagte und zu wem. Dann kehrte sie um.
Jalilah wich dem toten Dingo geschickt aus und folgte der Spur, die sie sich kurz zuvor durch das Unterholz gebahnt hatte. Als sie die freie Ebene erreichten, sah Francesca Carina in wildem Galopp auf sich zukommen. Tränen liefen ihr über das Gesicht, und sie rang krampfhaft nach Atem.
„Es hat einen Unfall gegeben“, schluchzte sie, sobald sie nah genug war, um sich verständlich zu machen. Francesca hatte sie noch nie in einem solchen Zustand erlebt. „Annette ist erschossen worden.“
„Gütiger Himmel, nein!“ Francesca begann am ganzen Körper zu zittern. Hatte sie deshalb hinter sich die Schüsse gehört? Ihr wollte schlecht werden, aber sie trieb Jalilah weiter an.
Annette hatte versprochen, sich einen schattigen Platz an der nächsten Lagune zu suchen. Eigentlich wäre sie dort in Sicherheit gewesen …
Annette hatte außerordentliches Glück gehabt. Sie lebte nur noch, weil Vance Bormann seinen Irrtum in letzter Sekunde bemerkt und der Kugel eine andere Richtung gegeben hatte. Sie war von ihrer rechten Schulter abgeprallt und hatte nur eine kleine, oberflächliche Wunde verursacht.
Vance Bormann hatte Annette Macallan für die Forsyth-Erbin gehalten. Die beiden Frauen waren etwa gleich groß, und außerdem hatte Annette den hellen Akubra und das blau-weiße Tuch getragen, die ihm als Merkmal genannt worden waren. Als sie sich zufällig umgedreht hatte, war er völlig verwirrt gewesen, denn sie war mindestens zwanzig Jahre zu alt, um die Frau zu sein, die er töten sollte.
Schnell hatte er sich wieder in den Sattel geschwungen und war eiligst davongeritten. Wenn die Verletzte gefunden wurde, wollte er nicht mehr in der Gegend sein. Schließlich hatten die anderen auch geschossen. Die Hexe hatte sie dazu ermuntert, und jetzt sah alles wie ein Unfall aus. Die Frau konnte kaum etwas anderes behaupten. Sie hatte ihn nicht einmal gesehen …
Als Bryn von dem Unfall seiner Mutter erfuhr, brach er seinen Chinaaufenthalt ab und kam vorzeitig zurück. Er hatte seine eigene Theorie bezüglich des „Unglücks“. Annette hatte Francescas Akubra und ihr blau-weißes Tuch getragen. Das gab ihm zu denken. Von welcher Seite er den seltsamen Vorfall auch betrachtete – er kam immer zu demselben Ergebnis.
Der Schuss hatte Francesca und nicht seiner Mutter gegolten, aber er würde seinen Verdacht für sich behalten. Er wollte Francesca nicht beunruhigen, und welchen Beweis hatte er schon?
Seine Mutter war am Ufer der Lagune spazieren gegangen, als Schüsse und lautes Rufen sie erschreckten. Fast im selben Augenblick war sie von der Kugel getroffen worden, und mehr wusste sie nicht.
Jeder Jagdteilnehmer besaß ein Alibi, doch keiner hatte etwas gesehen. Mit den Schüssen hatte man den Dingo aus seinem Versteck scheuchen wollen, alles andere war ein unglücklicher Zufall. Wer hätte Annette Macallan etwas antun wollen? Sie war zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, aber das Geschoss hatte zum Glück nur ihre Schulter gestreift. Die starke Blutung hatte alles schlimmer erscheinen lassen, als es war.
Annette befand sich bereits auf dem Weg der Besserung. Gordon Carstairs bemühte sich rührend um sie und vergaß für eine Weile seine Arbeit. Überall herrschte helle Aufregung, und Carina steigerte sich in einen Erregungszustand, der die Verabreichung starker Sedativa notwendig machte. Francesca übernahm es, dafür zu sorgen, und wunderte sich darüber, wie leicht es ihr fiel.
Die Polizei wurde nicht verständigt. Sie wäre ohnehin zu spät gekommen, um noch etwas festzustellen. Nur ein Arzt war gerufen worden, um Annette fachgerecht zu versorgen. Sie würde eine Narbe zurückbehalten, aber für einen geschickten Schönheitschirurgen war das kein Problem.
Obwohl niemand auf sie hörte, nahm Francesca einen Teil der Schuld auf sich. Carina hatte sie beschworen, Annette die Teilnahme an der Jagd zu verbieten, und sie hatte nicht darauf gehört. Dass sie sonst wahrscheinlich selbst dem Anschlag zum Opfer gefallen wäre, behielt sie lieber für sich.
„Ich werde mir ewig Vorwürfe machen“, klagte sie, doch Bryns Mutter schüttelte energisch den Kopf.
„Es war meine eigene Schuld, Francey. Du hattest gesagt, ich sollte mich ausruhen. Warum musste ich auch als lebende Zielscheibe herumlaufen?“
Ihren Sohn überzeugte das nicht. Warum hatte sich Carina so aufgeregt, dass man ihr Beruhigungsmittel geben musste? Sie war nie gut mit seiner Mutter ausgekommen und kaum aus Sympathie so hysterisch geworden. Viel mehr deutete darauf hin, dass ein von ihr geplanter Mordversuch fehlgeschlagen war. Damals an der Koopali-Lagune hatte sie ebenfalls wie verrückt geschrien …
Jetzt fiel Bryn auch wieder ein, dass sein Großvater kurz vor seinem Tod angedeutet hatte, Gulla Nolan sei von Sir Francis umgebracht worden. Möglich, dass Gulla etwas gewusst hatte, womit er dem „Eisernen Mann“ hätte schaden können. Nein, es war kein Unfall gewesen – heute so wenig wie damals. In Carinas Adern floss das Blut ihres skrupellosen Großvaters, und überdies war sie ein Meisterschütze. Als sie erkannte, dass sie das falsche Ziel anvisierte, hatte sie den Schusswinkel in letzter Sekunde verändert und sich schnell wieder unter die anderen Jagdteilnehmer gemischt. Wer würde eine Carina Forsyth mit dem unglücklichen Treffer in Verbindung bringen? Eine Frau, die sich so offen ihrer Verzweiflung hingab? Bryn nahm sich vor, sie zu einem Geständnis zu zwingen. Nur so konnte er Francesca wirksam schützen.
Ein zweites Rätsel fand wenig später ebenfalls seine Lösung. Jetzt kam endlich heraus, aus welcher Quelle Carinas intime Kenntnisse stammten. Valerie Scott hatte sich aus alter Anhänglichkeit zu ihrem verstorbenen Chef als Spitzel missbrauchen lassen und Francescas Telefon angezapft. So war sie über alles bestens informiert gewesen, und Carina hatte in Ruhe ihre Pläne schmieden können. Ihre Abneigung gegen Valerie war nur vorgetäuscht gewesen. Dass ausgerechnet ihre Mutter den „Maulwurf“ entlarvt hatte, entbehrte nicht einer gewissen Ironie.
„Ich kann es einfach nicht glauben“, sagte Francesca, als Bryn ihr seinen Verdacht mitteilte. „Carrie kann nicht die Absicht gehabt haben, mich zu töten.“ Schon der Gedanke flößte ihr Entsetzen ein. „Das ist unfassbar. Wollte sie mich vielleicht nur erschrecken?“
„Zu Tode erschrecken“, erwiderte Bryn mit grimmiger Miene. „Ich habe Elizabeth gebeten, sie für heute Abend, Punkt sieben Uhr, hierher in dein Apartment zu bestellen. Carina hat zugesagt.“
Francesca sah auf die Uhr. „Du meine Güte … das ist in zwanzig Minuten! Willst du sie zur Rede stellen? Immerhin könntest du dich irren.“
„Das tue ich nicht, Francey. Carrie steckt hinter dem Anschlag, wenn vielleicht auch ein anderer abgedrückt hat. Ich habe mit meiner Großmutter lange über Gulla Nolan gesprochen. Sie hat meinen Verdacht, dass Sir Francis etwas mit Gullas Verschwinden zu tun hatte, bestätigt. Es klingt unglaublich, aber Gulla hat meine Großmutter einmal vor Francis’ unliebsamen Nachstellungen bewahrt. Er drohte sogar, ihn auf der Stelle zu erschießen, und meinte es ernst damit. Das hat ihm Francis nie vergeben und sich auf seine Weise dafür gerächt. Carina ist genauso. Sie wollte endlich ihre Rache haben. Hast du ihr schon erzählt, dass wir verlobt sind?“
„Nein … natürlich nicht.“ Francesca war ganz durcheinander. Zu viel stürmte auf sie ein. „Ich habe es niemandem mitgeteilt. Das wollten wir gemeinsam tun.“
„Wir werden es Carina heute Abend eröffnen“, entschied Bryn.
„Du musst es machen und vorher deinen Ring anstecken. Ich bleibe im Hintergrund und warte auf mein Stichwort. Dabei fällt mir ein … Vance Bormann ist verschwunden. Er scheint ebenso Carries Verbündeter gewesen zu sein wie Valerie Scott. Alles zusammen werden wir der lieben Carrie nachher auftischen.“
„Das Ganze ist ein Albtraum“, stöhnte Francesca. „Allein wäre ich dem nicht gewachsen.“
Bryn nahm sie in die Arme und küsste sie. „Du bist nicht allein, Francey. Wir gehören von jetzt an zusammen.“
Der Zorn auf Carina und ihre mörderischen Absichten ließ in ihm den Gedanken aufkommen, dass sie es nicht verdiente, in Freiheit zu sein. Sie gehörte ins Gefängnis, nur welches Aufsehen hätte das gegeben. Und wie würde Francesca darunter leiden!
„Um den Albtraum Carina loszuwerden, schickt man sie am besten irgendwohin, wo sie dir nicht mehr schaden kann“, sagte er. „Hat sie nicht immer von Monte Carlo geschwärmt? Dem Eldorado der Reichen und Schönen? Soll sie sich dort ein Apartment kaufen und weiter ihr Schickimickileben führen. Einen Skandal können wir uns nicht leisten, also verfrachten wir sie ans andere Ende der Welt. Sie hat genug Geld und wird es nicht wagen, sich zu widersetzen.“
Francesca sah Bryn an, dass er es ernst meinte. „Das alles ist ein großer Schock für mich“, gestand sie. „Eine furchtbare Katastrophe. Annette hätte sterben können.“
„Nein, Francey.“ Francesca bemerkte, dass er erschauderte. Die Angst um die beiden wichtigsten Menschen – seine Mutter und die Frau, die er über alles liebte – wirkte noch in ihm nach.
„Ich weiß, wo sich Gullas sterbliche Überreste befinden“, sagte Francesca leise.
„Francey!“ Bryn starrte sie an, als wäre sie ein Geist.
„Wenn alles vorbei ist, zeige ich dir den Ort … so wie Gulla ihn mir gezeigt hat. Seine Stammesbrüder wollen ihm bestimmt ein feierliches Begräbnis ausrichten.“
Bryn drückte sie an sich und barg sein Gesicht an ihrem Hals. „O Francey. Du bist die beste, tapferste und schönste Frau auf der ganzen Welt!“
„Vielleicht auch die verrückteste?“ Sie lächelte zum ersten Mal an diesem Abend.
„Nein!“, protestierte er heftig. „Du bist ein Kind des Lichts.“
Das war das Besondere an ihr. Es würde die Menschen immer anziehen, aber nur er, als ihr zukünftiger Ehemann, durfte sich daran erwärmen. Wenn einer verrückt war, dann Carina. Jetzt musste sie endlich für ihre Taten einstehen.
– ENDE –