4. KAPITEL

Hunderte von Menschen begaben sich vom Friedhof zur Forsyth-Villa – einem modernen, kastellartigen Bau – und füllten die weitläufigen Empfangsräume, als wären sie zur Besichtigung vor einer Auktion gekommen. Nur wenige waren schon einmal dorthin eingeladen worden. Die meisten kannten sie nicht und sahen sich jetzt neugierig, erstaunt, bewundernd oder auch enttäuscht um.

Charles Forsyth stand vor einem riesigen Marmorkamin – er hätte aus einem alten Medici-Palast stammen können – und fröstelte, obwohl es ein heißer Tag war. Die höhlenartige Feuerstelle, in der mehrere Spanferkel Platz gehabt hätten, wurde von einem gewaltigen Blumenarrangement aus weißen Lilien und Palmwedeln dominiert.

„Nimm dich, um Himmels willen, zusammen, Dad“, raunte Carina ihrem Vater zu. Sie liebte ihn, aber gelegentlich brachte er sie mit seinem Verhalten zur Weißglut. Dann verstand sie, warum ihr Großvater so oft in Wut geraten war.

„Das schert mich einen Dreck“, erwiderte Charles ebenso leise. „Ich habe das Testament gelesen.“

„Und?“ Carina fuhr zurück, als wäre sie von einer besonders bösartigen Wespe gestochen worden, die sich in den Lilien versteckt hatte. „Entspricht es unseren Erwartungen?“

Charles’ Gesicht lief rot an. „Nein … durchaus nicht.“

Carina stellte sich so vor ihren Vater, dass sie das Zimmer und die Gäste im Rücken hatte. Ihre blauen Augen glitzerten kalt. „Und wann, bitte sehr, wolltest du mich darüber informieren?“

Ihr Ton war so schneidend scharf und dem ihres Großvaters so ähnlich, dass Charles erschrak. „Du wirst es früh genug erfahren“, antwortete er. „Ich wünschte, du wärst deinem Großvater weniger ähnlich. Manchmal jagst du mir direkt Angst ein. Aber du hast recht … ich sollte mich zusammennehmen und mehr um die Gäste kümmern. Die meisten sind sowieso nur gekommen, um zu gaffen und zu lästern. Dieses entsetzliche Haus! Wer hat Dad schon gemocht oder verehrt? Sogar der Erzbischof hatte Mühe, einige freundliche Worte zu finden. Er weiß, dass Dads Chancen, in den Himmel zu kommen, gleich null sind.“

Carina verzog spöttisch den Mund. „Unsinn, Dad. Es gibt keinen Himmel!“

„Vielleicht hast du recht.“ Charles lächelte traurig. „Aber wie steht es mit der Hölle? Ein riesiges Vermögen zu erben bringt keinen Segen, Carrie … egal, was du darüber denkst. Du hast keine Ahnung vom wirklichen Leben, dazu bist du zu sehr verwöhnt worden. Du solltest immer nur blendend aussehen. In die Fußstapfen deines Großvaters zu treten ist schwieriger, als wir beide uns vorstellen können. Ich weiß selbst am besten, dass ich nicht den Kopf dafür habe, und ich bin nicht hart genug. Ich gehöre zu denen, die bellen, aber nicht beißen. Wir brauchen jemanden, der so unbeugsam ist wie er … oder war, ehe seine Kräfte abnahmen. Am Ende verließ er sich ganz auf Bryn und den guten Namen Macallan. Sir Theodore war eben kein Schweinehund.“

Carina hätte ihren Vater am liebsten geohrfeigt. Sie hatte ihren Großvater verehrt, wie sie Durchsetzungskraft und Rücksichtslosigkeit bei jedem Mann bewunderte. Für sie waren diese Eigenschaften Vorzüge und keine Charakterfehler.

„Ich höre mir das nicht länger an!“, stieß sie aufgebracht hervor, und dabei wurde ihr Blick noch kälter. „Gramps war ein großer Mann.“

„Das ist deine Meinung“, entgegnete ihr Vater, „aber du wirst kaum jemanden finden, der dir beipflichtet.“ Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, Carina einige Sünden ihres Großvaters zu offenbaren und nur die tödlichen wegzulassen. Doch welchen Sinn hätte das gehabt? „Wir verdanken unseren großen Erfolg vor allem Sir Theodore und stehen tief in seiner Schuld. Jetzt brauchen wir wieder einen Kämpfer, und der bin ich nicht. Ich bin ein Schwächling. Deine Mutter hat mir das vor der Trennung bestätigt, und sie hatte recht. Sie hatte immer recht.“

„Lass Mum aus dem Spiel!“, fuhr Carina auf. „Sie hat uns beide verraten, als sie sich scheiden ließ. Hast du gesehen, wie sie bei den Macallans saß? Der schwarze Schleier war einfach lächerlich. Sie hasste Gramps.“

„Und verachtete mich“, fügte Charles traurig hinzu. „Ich mache ihr daraus keinen Vorwurf. Jedes Mal, wenn Dad mich anbrüllte, sackte ich zusammen wie ein nasser Lappen. Ich habe mein Leben lang nur Verachtung von ihm erfahren und wollte es ihm immer recht machen. Ich konnte mich nie richtig entwickeln. Wen wundert es da, dass mir mit seinem Tod eine unerträgliche Last von den Schultern genommen …“ Er schwieg erschöpft und fuhr nach einer Pause fort: „Heirate Bryn, Carrie … das ist das Beste, was du für dich und uns tun kannst. Alle unsere Probleme würden dadurch gelöst, denn er wäre der richtige Chef für den Forsyth-Konzern. Leider scheint er es damit nicht eilig zu haben.“

Damit traf Charles einen wunden Punkt. „Halt dich da heraus, Dad“, warnte Carina ihn mit blitzenden Augen. „Ich handhabe das auf meine Weise.“

„Zweifellos.“ Charles sah zu Bryn hinüber, der sich mit Francesca unterhielt. Neben seiner stattlichen, athletischen Gestalt wirkte sie trotz ihrer Größe wie eine Lilienblüte auf schwankendem Stiel. Sie war schön, in ganz anderem Sinn als seine Tochter. Sie besaß Anmut und vieles mehr, das sie auszeichnete. Hinzu kam, dass sie sich schon mit dreiundzwanzig Jahren einen Namen als Künstlerin machte …

Carina hatte sich umgedreht und war dem Blick ihres Vaters gefolgt. Wenn Bryn und Francesca zusammen waren, ließ sie die beiden ohnehin nie lange aus den Augen. „Ich mache es wie Gramps“, sagte sie giftig. „Ich erzähle dir nicht alles. Manchmal ist es besser, nichts zu wissen. Francey ist keine Bedrohung für mich, falls du das denkst. Bryn hat es auf mich abgesehen, aber er will mich erst erobern. Das gefällt mir.“ Sie sah ihren Vater verschlagen an, was ihn mehr abstieß als der wütendste Blick. Seit Jahren quälte ihn der Albtraum, seine Tochter könnte sich in seinen Vater verwandeln. Genau das spielte sich jetzt vor ihm ab.

„Die beiden verbindet etwas“, sagte er unvorsichtigerweise. „Er hat ihr vor Jahren das Leben gerettet.“

„Der große Held!“, spottete Carina. „Die süße kleine Francey hatte Mum schon damals für sich gewonnen.“

Der hämische Ton schockierte ihren Vater. „Ganz ohne Absicht, Carrie“, versicherte er. „Francesca war so ein liebliches Kind.“

„Und ich nicht?“ Carinas Wangen hatten sich hektisch gerötet, was ihre auffällige Schönheit noch unterstrich.

„Natürlich … du auch. Du warst vollkommen und bist es geblieben.“ Charles log aus Verzweiflung, denn er wollte Carina nicht noch mehr reizen. Sie war als Kind manchmal abscheulich gewesen. Einmal hatte sie sogar das Zimmer ihrer Mutter verwüstet. „Die arme Francey war eine Waise. Sie brauchte liebevolle Zuwendung, und die bekam sie von deiner Mutter. Deswegen wurdest du nicht vernachlässigt, Carrie … keinen Augenblick. Warum verurteilst du deine Cousine so? Sie war das unschuldige Opfer.“

„Genau genommen, war ich das“, entgegnete Carina unerwartet ernst. „Das habt Mum und du nur nicht bemerkt. Francey war kein Unschuldslamm. Vielleicht am Anfang, aber später hatte sie sich mit Mum gegen mich verschworen.“

Charles fühlte sich hin und her gerissen. Er liebte seine Tochter und fürchtete zugleich, dass er sie nicht richtig kannte und vielleicht zutiefst ablehnen musste. „Das stimmt nicht, Carrie“, protestierte er. „Du solltest ärztlichen Rat einholen. Du scheinst an einer Phobie zu leiden, die ständig zunimmt.“

Carina lachte. „Es tut mir leid, Dad, aber in diesem Punkt bleibe ich hart. Mum lebte für Francey. Denk darüber nach. Sie liebt ihre Nichte mehr als ihre eigene Tochter.“

„Vielleicht hast du ihre Zuneigung nicht angenommen.“

„Wie konnte ich, wenn sie sich immer nur Francey zuwandte?“ Für Carina war die Sachlage klar. Sie tätschelte ihrem Vater die Wange, was ihn zusammenzucken ließ, als hätte ihn ein elektrischer Schlag getroffen. „Glaub mir, Dad … ich liebe Francey. Ich bewundere ihre Güte. Wir sind nicht nur Cousinen, sondern auch die besten Freundinnen. Sie fragt mich oft um Rat, und ich helfe ihr gern. Wenn mich Mums Vorliebe für sie manchmal ärgert, kann ich es nicht ändern. Ich bin keine Heilige.“

Nein, dachte Charles. Das bist du nicht. Gott helfe uns! In seiner rechten Schläfe pochte plötzlich ein bohrender Schmerz. Was mochte geschehen, wenn Bryn sich von Carina abwandte und Francesca umwarb? Die Möglichkeit bestand durchaus, und das Leben war voller Überraschungen.

Eine gewaltige Überraschung stand ihnen gerade bevor und würde sie mit der Wucht einer Flutwelle treffen. Wenn jetzt auch noch Carinas Pläne durchkreuzt wurden, war die Hölle los. Sie wusste ihre Waffen zu gebrauchen und besaß die sagenhafte Rücksichtslosigkeit ihres Großvaters. Er, Charles Forsyth, würde nicht gern in der Haut der Frau stecken, die versuchte, seine Tochter bei Bryn auszustechen.

Für ihn selbst war Rückzug die beste Taktik. Er wählte den Abgang von der Bühne. Man hatte ihn nicht einmal dazu drängen müssen.

Eine Stunde nachdem der letzte Gast gegangen war, sollte das Testament verlesen werden. Francesca fragte sich, ob sie so lange durchhalten würde. Sie war so unglücklich und erschöpft, dass sie fürchtete, jeden Moment umzusinken.

Bryn stöberte sie in einer Ecke auf, wo sie, halb versteckt, hinter einer üppigen Zimmerpalme saß. „Geht es dir gut?“, fragte er und zog sich einen Stuhl heran.

„Mehr oder weniger“, antwortete sie, zutiefst dankbar für seine Gesellschaft. „Der Tod wirkt ernüchternd, nicht wahr? Ich bedauere es sehr, dass ich keinen echten Zugang zu Grandpa hatte und nun nicht mehr finden werde. Carrie war sein wahrer Liebling.“

„Sie war ihm so ähnlich“, meinte Bryn, als wäre das die Erklärung.

Francesca lächelte schwach. „Ja. Ich empfand es immer als meine Aufgabe, still zu sein und allen aus dem Weg zu gehen. Wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn sich Tante Elizabeth und deine Familie nicht so liebevoll um mich gekümmert hätten. In gewisser Weise …“, sie sah sich in dem bedrückend pompös eingerichteten Raum um, „… ist dieses schreckliche Haus immer noch Feindesland für mich.“

„Es hat etwas Unmäßiges“, gab Bryn zu. Das hatte er schon vor Jahren bei seinem ersten Besuch gedacht.

„Ich habe immer gehofft und dafür gebetet, dass Carrie und ich unzertrennlich sein würden“, gestand Francesca wehmütig. „Als die Forsyth-Mädchen.“

„Dazu ist es nie gekommen.“

„Nein. Trotzdem gehören wir irgendwie zusammen, obwohl ich eine innere Unruhe und Befangenheit nie losgeworden bin. Seit ich mein eigenes Leben führe, selbstständig bin und die Zukunft vor Augen habe, bin ich viel glücklicher.“

„Nur die Zukunft zählt, Francey“, bestätigte Bryn, der sie unausgesetzt beobachtete. Sie war sehr blass und wirkte viel betroffener als Carina. „Lass alles andere, vor allem das Böse, vergangen sein. Mein Gefühl sagt mir, dass du dazu bestimmt bist, dich für das Gute einzusetzen.“

„O Bryn!“ Ihr Herz bebte vor Freude, aber sie hob abwehrend die Hand.

„Ich meine es ernst“, beharrte er. „Von dir geht etwas Strahlendes aus … schon seit deiner Kindheit. Das hat mich immer angezogen.“

Er verwirrte sie immer mehr. Was ging nur in seinem Kopf vor? Oder in seinem Herzen? „Denkst du an den Tag, an dem ich fast ertrunken wäre?“, fragte sie.

„An den Tag … und heute.“ Bryn legte ihr kurz eine Hand auf den Arm und lächelte so, wie nur er es konnte. „Hör zu, Francey, ich muss kurz mit den älteren Forsyths sprechen. Bleib einfach hier sitzen. Ich bin bald wieder da.“

„Mach dir um mich keine Sorgen“, beruhigte sie ihn. „Mir fehlt nichts.“

„Ich komme wieder“, versprach er noch einmal. Es war ihm anzusehen, wie ernst er seine Beschützerrolle nahm.

Lass es gut sein, dachte Francesca, während sie ihm nachsah. Alles geht vorüber.

Sekunden später kam Carina quer durch das Zimmer auf sie zu. „Du darfst dich nicht so gehen lassen, Francey“, schalt sie. „Wir müssen uns gegenseitig beistehen.“ Sie musterte Francescas schlanke Figur. „Konntest du nichts Besseres finden als dieses Kostüm? Sicher, es passt für die Gelegenheit, aber du versuchst zu sehr, das Aschenputtel zu spielen, wo doch jeder weiß, wie reich du bist.“

„Vielleicht hast du recht“, gab Francesca zu. „Dafür wirkst du wie eine echte Milliardärin.“

„Dazu bin ich verpflichtet. Gramps freute sich immer über mein Aussehen. Es ist nicht leicht, sich jeden Tag von der besten Seite zu zeigen … besonders dann nicht, wenn man an dem Begräbnis des Menschen teilnimmt, der einen am meisten geliebt hat.“

Francesca vermutete, dass Carina damit recht hatte. Musste sie ihn jedoch immer „Gramps“ nennen? „Es tut mir leid, Carrie“, sagte sie leise. „Wirklich … sehr leid. Grandpa hat dich geliebt. Du warst sein Idol.“

„Er hätte dich auch geliebt, Francey, aber du warst immer so schwierig. Du konntest dich nicht einfügen und hast ihm nie den Respekt erwiesen, der ihm gebührte. Er war ein bedeutender Mann, nur das interessierte dich nicht.“

Dem musste Francesca widersprechen, ob sie wollte oder nicht. „Das stimmt nicht, Carrie. Ich habe Grandpa sehr geachtet, aber nicht haltlos verehrt. Verehrung gebührt moralischen Menschen … etwa toten Kriegshelden oder wahren Menschenfreunden. Außerdem, das gebe ich offen zu, besaß ich nicht deine bewundernswerte Selbstsicherheit, und ich entsprach auch nicht dem blonden, blauäugigen Schönheitsideal der Forsyths.“

„Ja, das fehlt dir“, gab Carina zu, „aber du siehst trotzdem gut aus. Leider machst du nichts aus dir.“

Francesca richtete sich gerade auf. „Ich habe mir vorgenommen, endlich damit anzufangen … vielleicht schon morgen. Entschuldige, dass ich etwas mitgenommen wirke. Ich habe schlecht geschlafen.“

„Glaubst du etwa, ich habe süß geträumt?“ Carina verdrehte die Augen. „Es stimmt … du siehst übermüdet aus. Kein Wunder, dass du dich hinter der Sonnenbrille versteckt hast. Vielleicht sollte ich dich einmal tüchtig durchschütteln. Weißt du noch, wie ich dich als Kind wachgerüttelt habe? Du hattest Albträume, die mich nicht schlafen ließen. Mum hatte sogar eine Lampe für dich aufgestellt, die nachts eingeschaltet war. Im Flur brannten die Wandleuchter, und die Tür zu meinem Zimmer musste offen bleiben. Ob mich das viele Licht störte, interessierte niemanden.“

„Arme, arme Carina. Ja, ich erinnere mich noch gut daran.“ „Du hattest immer so schlimme Träume. Wovon handelten sie eigentlich? Vom Ertrinken?“

Warum muss sie immer wieder davon anfangen?, dachte Francesca. Manchmal kam ihr der Verdacht, dass es nur einen Grund geben konnte: zu überprüfen, wie viel sie von damals behalten hatte.

„Sie waren qualvoll.“ Noch in der Erinnerung überlief es Francesca eiskalt. War sie ausgerutscht oder kopfüber in das dunkelgrüne Wasser gestoßen worden? Die Träume beantworteten diese Frage nicht, und das Aufwachen brachte keine Erleichterung.

„Natürlich musste Mum immer aufstehen und dich trösten. Ich kleines, dummes Ding genügte dir nicht. Mum musste dich streicheln und wieder in den Schlaf wiegen. Wirklich rührend! Manchmal kam es mir so vor, als würde sie dich mehr lieben als mich.“ Carina lächelte, als hätte sie nur eine harmlose Frage gestellt. Etwa die Frage: Kann es so eine Mutter überhaupt geben?

„Sei fair, Carrie.“ Francesca bekam langsam Kopfschmerzen. „Ich war ein kleines, verlassenes Kind. Deine Mutter hat sich nur um mich gesorgt.“

„Das tut sie bis heute.“ Es gelang Carina kaum noch, ihren tief sitzenden Groll zu verbergen. „Dad und ich waren entsetzt, dass sie in der Kirche bei den Macallans saß. Wir empfanden es als Verrat.“

„Vielleicht wollte sie nicht als Heuchlerin erscheinen“, gab Francesca zu bedenken. „Sie hatte kein gutes Verhältnis zu unserem Großvater. Das war seine, nicht ihre Schuld.“

„He, jetzt musst du fair sein!“ Carina verlor allmählich den umgänglichen Ton. „Es war wohl eher Dads Schuld, dass sie auf und davon ging.“

Francesca merkte, dass Carina auf ihre Weise genauso erschüttert war wie sie selbst. „Reg dich nicht auf, Carrie“, bat sie. „Deine Mutter wollte einfach nicht länger in einer unglücklichen Ehe gefangen sein.“

„Woher willst du das wissen?“ Carina stieg wieder das Blut in die Wangen. „Du weißt nichts über menschliche Beziehungen. Himmel, du hast ja selbst noch keine richtige gehabt! Greg Norbett zählt nicht … genauso wenig wie Harry Osbourne.“

„Sicher nicht, weil du Jagd auf ihn gemacht hast.“ Francesca wunderte sich über ihren Mut. „Warum eigentlich? Harry interessierte dich doch gar nicht.“

Carina lenkte ein und berührte sacht Francescas Wange. „Ich habe es nur getan, um dir seinen wahren Charakter vorzuführen. Du solltest nicht verletzt werden. Ich konnte dich nie leiden sehen, Francey. Du bist immer noch meine kleine, verlorene Cousine. Ich muss auf dich aufpassen, und Harry Osbourne war der Falsche.“

„Nicht falscher als andere“, widersprach Francesca. „Außerdem haben wir uns nicht so nahegestanden, wie du angenommen hast. Wir waren kein Liebespaar …“

„Dann bist noch unschuldig?“ Carina machte aus ihrer Belustigung keinen Hehl. „Darum möchte ich wetten!“ Sie lachte so ungeniert, dass sich die Leute nach ihr umdrehten.

„Vielleicht mag ich es nicht, wenn man öffentlich über mein Privatleben herzieht. Ich bin schließlich eine Forsyth.“

Damit hatte Francesca es getroffen. Carina hörte auf zu lachen und fragte scharf: „Was soll das nun wieder heißen?“

Francesca zuckte die Schultern. „Nichts Besonderes.“ Sie verzichtete darauf, sich weiter mit Carina anzulegen. „Leider werden nicht alle Paare nach der Hochzeit für immer und ewig glücklich.“

„Ich will das aber werden.“ Ein vernichtender Blick traf Francesca. „Ich liebe Bryn. Ich habe ihn immer geliebt. Er ist für mich bestimmt, und ich werde ihn mir nehmen. Sei also nicht so dumm, mir in die Quere zu kommen, liebe Cousine.“

Francesca kannte Carinas Drohungen. Genauso hatte ihr Großvater ausgesehen, wenn er anderen seinen Willen aufzwang. „Wann habe ich das jemals versucht, Carrie?“, fragte sie ruhig. „Wir hätten gute Freundinnen sein können, wenn du mir die Chance dazu gegeben hättest.“

„Welche denn?“ Carina war völlig überrumpelt. „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst. Meiner Meinung nach sind wir die besten und engsten Freundinnen.“

„Sollten wir nicht endlich der Wahrheit ins Gesicht sehen? Wir sind keine Freundinnen, Carrie. Lass uns mit der Heuchelei aufhören.“

Carina presste ihre Hände zusammen, als fürchtete sie, sonst um sich zu schlagen. „Ich glaube das einfach nicht“, stieß sie hervor. „Und ausgerechnet an diesem Tag!“

„Vielleicht ist das der richtige Zeitpunkt, Carrie. Eine Epoche ist zu Ende gegangen und mit ihr das alte Leben. Ich wollte immer zu euch gehören. Du solltest mehr meine Schwester als meine Cousine sein, dazu ist es jedoch nie gekommen.“

Carinas Zorn legte sich schlagartig. „Es kränkt mich, wenn du so sprichst, Francey“, sagte sie. „Du vergisst dabei, wie viel Zuneigung ich dir entgegengebracht habe. Das klingt ja fast, als wärst du neurotisch. Was kann ich dafür, dass du mich in all den Jahren so glühend beneidet hast? Aber keine Angst … ich vergebe dir. Schließlich konnte ich nichts anderes erwarten. Trotzdem wollte ich immer für dich da sein und dich vor unangenehmen Erfahrungen schützen. Sogar gegen Gramps habe ich dich abgeschirmt. Du konntest ihn in Wut bringen mit diesem ewig tragischen Ausdruck in den großen Kinderaugen … als hätte er dir irgendetwas angetan.“

Francesca schüttelte den Kopf. „So ein Unsinn!“

„Nein, das ist kein Unsinn. Ich an deiner Stelle würde mich glücklich schätzen.“

„Meist tue ich das auch“, gab Francesca ehrlich zu. „Oh, da kommt Bryn zurück.“

„Er kommt zu mir“, trumpfte Carina auf und sah ihm mit Besitzerstolz entgegen. „Ich brauche jetzt seinen Beistand.“

„Natürlich.“

Er sprüht förmlich vor Kraft und Energie, dachte Francesca. Ich fühle es bis ins letzte Glied, aber sie spürt es auch. Wir leben beide durch ihn.