12.4.2027

Meine Jahre in Berlin, mittlerweile sind es zehn, zählen nicht zu den schönsten meines Lebens. Aber dazu zählen die Jahre, die ich woanders verbracht habe, auch nicht. Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, frage ich mich: Wann waren eigentlich meine schönsten Jahre? Hatte ich überhaupt welche?

Berlin war jedenfalls auch eine Minusaktion. Dabei hatte ich mir so viel von meinem neuen Leben versprochen. In Berlin, da war ich mir sicher, würde alles gut werden. Aber es wurde nicht gut. Es wurde nicht einmal einen Tick besser. Allerdings wurde es auch nicht schlechter. Mein Leben blieb, wie es immer war: irgendwie unangenehm.

Vielleicht war es einfach keine gute Idee, aus einem winzigen Dorf direkt in die Großstadt zu ziehen. Der Unterschied war für ein Provinzei wie mich einfach zu groß. So wie Taucher nicht zu schnell aus der Tiefe des Meeres auftauchen sollten, wegen des Druckausgleichs, so sollte ein Dorfbewohner nicht direkt in eine Metropole ziehen. Ich hätte mich langsam steigern müssen. So tausend Einwohner mehr pro Jahr – das hätte vielleicht geklappt.

So war die Umstellung für mich einfach zu groß. Vom ersten Tag an jagten mir die Berliner, die Enge und der Lärm der Stadt entsetzliche Angst ein. Berlin schrie mich förmlich an: »Wir wollen dich hier nicht haben!«

Und ich fragte kleinlaut zurück: »Aber warum denn nicht?«

Und Berlin schrie förmlich: »Du passt nicht hierher!«

Und ich gab kleinlaut zurück: »Aber ich passe doch auch sonst nirgendwo hin.«

Und Berlin schrie förmlich: »Das ist nicht mein Problem!«

Und ich fragte kleinlaut zurück: »Aber ich dachte, Berlin gibt jedem eine Chance?«

Und Berlin schrie förmlich: »Wer hat dir denn diesen Mist erzählt?«

Und ich antwortete kleinlaut: »Die Medien.«

»Ach, die Medien!«, schrie Berlin mich förmlich an. »Die schreiben immer eine Scheiße. Damit du es weißt: Ich bin nicht die Bohne weltoffen. Im Gegenteil! Sag das den Medien. Los! Sag es ihnen! Sag es! Sag! Sag!«

Und ich fragte kleinlaut: »Aber wie soll ich das den Medien denn sagen?«

»Was weiß ich?«, schrie Berlin mich förmlich an. »Per ­Social Media oder so. Schreib auf ihre Facebook-Seiten: ›Übrigens: Berlin ist nicht, wie ihr behauptet. Berlin ist scheiße. Sagt es sogar selbst.‹«

»Sie haben aber keine hohe Meinung von sich …«

»Ich habe die Schnauze so voll, ey, ständig meinen alle, sie wüssten, wie ich bin. Los, geh ins Internet und beschimpf mich.«

»Nee«, antwortete ich gequält. »Ich möchte im Internet lieber nicht meine Meinung sagen. Da fallen gleich alle über einen her und beschimpfen meine Mutter. Im Internet sind mir die Menschen zu losgelassen. Das Internet ist wie der Erste Weltkrieg. Wer daraus wieder zurückkehrt, ist trauma­tisiert.«

»Mein Gott, bist du empfindlich«, schrie Berlin mich förmlich an. »Du hast hier echt nichts verloren. Wer hier leben will, muss gleichgültig und schmerzfrei sein. Sonst geht er vor die Hunde.«

»Ich weiß«, sagte ich resigniert.

Feder.tif

Auch das berühmte Berliner Nachtleben hielt nie, was es versprach. Wunderdinge hatte ich darüber gelesen und gehört, aber wie ich nun weiß: völlig zu Unrecht. Seit zehn Jahren warte ich Nacht für Nacht darauf, dass der Bär tanzt. Oder wenigstens zuckt. Aber nichts passiert. Die Stimmung blieb all die Jahre mau. Nachts wie tags. Das Nachtleben Berlins unterscheidet sich nicht großartig von dem in Juf.

Ja, ja, ich weiß, was Sie denken, lieber Leser: Vielleicht fand das wilde Nachtleben nicht in meiner Küche statt. Sondern in einem anderen Raum. Aber das kann ich mir nicht vorstellen. Das hätte ich doch gemerkt. Meine Küche liegt ja nicht hinterm Mond. Sie ist außerdem das coolste Zimmer meiner kleinen Erdgeschosswohnung, nur die Küche verfügt nämlich über ein Fenster – durch das ich direkt in den Innenhof schaue. Auf den Müllcontainer. Der steht genau vor meinem Fenster. Ein majestätischer Anblick. Manchmal verdunkelt er das Zimmer. Aber nur an hellen Tagen. An dunklen projiziert er die Dunkelheit 1:1 in meine Küche. Was für ein Schauspiel. Manchmal trickse ich den Müllcontainer aus und schalte das Licht ein. Und wenn ich ganz mutig bin, denke ich mir den Müllcontainer einfach weg und genieße den theoretisch atemberaubenden Ausblick in den Innenhof. Wer braucht schon Meerblick, wenn er das Meer von Fotos kennt? So anders sieht das in Wirklichkeit auch nicht aus. Und da ist es noch nicht einmal gephotoshoppt. Ich kann dem Meer jetzt nicht mehr abgewinnen als einer Mülltonne.

Die Schattenseite eines Müllcontainers vor der Wohnung ist schnell abgehandelt: Wenn ich das Fenster öffne, strömt schlechte Luft herein. Habe ich früher noch geglaubt, der Mensch, also in diesem Falle ich, gewöhne sich an unangenehme Gerüche, denke ich heute: Nee, doch nicht. Deshalb öffne ich das Fenster so gut wie nie. Eigentlich nur, wenn ich meinen Müll entsorge. Fenster auf, Müllcontainer auf, Müll rein, Müllcontainer zu, Fenster zu. Ein Müllcontainer, den man aus der Wohnung heraus befüllen kann, ist eine praktische Angelegenheit, ein Privileg, denn es erspart einem ­viele Wege – auch die anderen Hausbewohner profitieren davon. Bei schlechtem Wetter stellen sie ihre Mülltüten einfach vor meiner Wohnungstür ab und klingeln kurz, bevor sie wieder verschwinden. Ich entsorge den Müll dann für sie. Durch mein Fenster. Eine Win-win-Situation: Meine Nachbarn werden nicht nass, wenn es regnet. Und ich habe das gute Gefühl, nützlich zu sein.

Natürlich bin ich in meiner Wohnung nicht sonderlich glücklich. Aber immerhin glücklicher als außerhalb meiner Wohnung. Keine zehn Pferde würden mich vor die Tür bringen. Zehn Pferde würden mich nicht einmal in mein Schlafzimmer bringen. Denn das ist voller Tauben – und die bringen bekanntlich Tod und Vernichtung. Ich ekele mich ein bisschen vor Tauben. Aber sagen Sie es nicht weiter. Das steht einem Taubenvergrämer nicht gut zu Gesicht.

Und einen Lärm machen die Viecher, es ist kaum auszuhalten. Wenn das Schlafzimmer voller Tauben ist, dann können Sie Schlafen aber vergessen. Das kann ich Ihnen sagen. Und bevor Sie fragen: Nein, ich habe keine Ahnung, wie die Vögel in mein Schlafzimmer gekommen sind.

Möglich, dass ich mir etwas Arbeit mit nach Hause genommen habe. Dagegen spricht allerdings, dass ich niemals andere Lebewesen anfassen würde. Erst recht keine Tauben. Die bringen bekanntlich Tod und … Aber das wissen Sie ja.

Ich frage mich, was die Vögel an meinem Schlafzimmer finden. Die Küche müsste sie viel mehr interessieren, schließlich lagern hier die ganzen Pizzareste. Und sie liegt nur einen Katzensprung vom Schlafzimmer entfernt. Die Tauben könnten sich in der Küche nach Lust und Laune die Bäuche vollhauen, aber nein, die Viecher bleiben lieber im Schlafzimmer. Als hätte ihnen jemand verboten, das Zimmer zu verlassen. Ich war es jedenfalls nicht. Im Gegenteil. Ich habe den Tauben sogar einen goldenen Teppich ausgerollt, sprich: eine Spur aus Pizzastücken, die aus dem Schlafzimmer in die Küche führt. Denn wenn das Schlafzimmer taubenfrei wäre, könnte ich dort mal wieder übernachten. Schließlich ist es mein Schlafzimmer. Ich habe ein Recht darauf, dort zu schlafen. Aber erklären Sie das mal den Tauben.

Die Vögel picken meine Pizzaspur bis zur Türschwelle auf, dann bleiben sie stehen und sehen das nächste Stück, wenige Zentimeter vor ihnen im Flur, sehnsüchtig an. Als wäre es durch eine unsichtbare Mauer von ihnen getrennt. Oder als ahnten die Tauben, dass ich sie nur aus dem Schlafzimmer locken möchte. Doch dagegen spricht ihr sehnsüchtiger Blick, der sagt: »Schade, dass ich an das Stück Pizza nicht herankomme.« Der Blick sagt nicht: »Haha, Fitz! Das haste dir so gedacht! Wir bleiben im Schlafzimmer.«

Ich möchte mir lieber nicht weiter den Kopf über Tauben zerbrechen, möchte nicht ergründen, warum sie das Schlafzimmer nicht verlassen, genauso wenig möchte ich darüber nachdenken, wie sie überhaupt hergekommen sind. Die Antwort würde mir wahrscheinlich auch gar nicht gefallen. Das lehrt mich die Erfahrung. Erst fragt man sich: »Warum?« Und hat man eine Antwort, denkt man sich: »Ach, ich würde es lieber doch nicht wissen.« Na gut, ich denke doch weiter nach: Wie kommen die blöden Viecher in mein Schlafzimmer? Der Raum hat kein Fenster, und meines Wissens führen auch keine Schächte oder Leitungen hinein.

Eine Theorie: Tauben sind Einbrecherkönige. Kein Raum ist vor ihnen sicher. Nur machen sie sich keinerlei Gedanken, in welchen Raum sie einbrechen. Sie sehen einen x-beliebigen Raum und sagen sich: »Super, da breche ich ein.« Ob es eine Bank ist oder mein Schlafzimmer – egal. Da sitzen sie nun. Und bleiben.

Feder.tif

Nein, es war keine gute Idee, nach Berlin zu ziehen. Die Stadt liegt mir nicht. So wenig, wie mir Juf gelegen hat. Wenn ich nur wüsste, welche Stadt mir liegt. Dann müsste ich nicht dauernd umziehen. Schließlich ist Berlin schon der zweite Ort, an dem ich wohne. Und im Taubenvergrämen habe ich hier auch keine Erfolge gefeiert. Nach wie vor lautet meine Bilanz: null vergrämte Tauben. Dabei leben die Viecher sogar in meinem Schlafzimmer. Ich hätte sogar ein persönliches Interesse daran, sie zu vergrämen. Mein Schlafzimmer wäre ein Schlaraffenland für jeden Taubenvergrämer. Aber für mich ist es die Hölle. Ich bin eine Schande für meinen Berufsstand.