17.6.2033

Die Anrufe des Überwachungsstaats haben mich verunsichert. Hat der Staat mehr Kontrolle über mich als ich selbst? Weiß er mehr über Jan-Uwe Fitz als Jan-Uwe Fitz selbst? Und falls ja, wird er es mir verraten, wenn ich ihn danach frage? Soll ich einfach mal meinen Namen in eine Suchmaschine eingeben? Und viel wichtiger: Lohnt es sich für mich überhaupt, Kontrolle über mich zu haben? Oder kann man mir ruhigen Gewissens Narrenfreiheit gewähren? Was bin ich eigentlich für ein Mensch? Bin ich überhaupt ein Mensch? Lebe ich überhaupt noch? Bin ich schon längst ein Geist?

Ich erhebe mich aus meinem Sessel und lasse mich nach vorne fallen. Wenn ich noch lebe, müssten nun meine Reflexe eingreifen, sprich: meine Arme müssten ausfahren und meinen Aufprall abfangen. Ich sehe, wie der Küchenboden blitzschnell näher kommt, und während ich mich noch frage: »Ei, wo sind denn meine Arme?«, schlage ich auch schon mit dem Gesicht auf. Ich habe nicht einmal meinen Kopf zur Seite gedreht. Das Geräusch meiner brechenden Nase hallt durch die leere Küche, so laut, dass ich höre, wie die Tauben im Schlafzimmer erschrocken aufflattern. Da liege ich nun und starre aus unmittelbarer Nähe auf die Fliesen. Meine Nase schmerzt. Aber viel schlimmer ist die Erkenntnis: Meine Reflexe funktionieren nicht. Das spricht für die These: Ich bin ein Geist. Aber meine Nase tut weh. Das spricht für die These: Ich lebe.

Ärgerlich, dass ich meine Reflexe nicht früher getestet habe. Zum Beispiel, als es in meiner Wohnung noch weiche Untergründe gab. Ein Bett, wenigstens ein Teppich – das wären für meine Reflextestversuche geeignetere Untergründe gewesen als Fliesen.

Beängstigend ist aber noch etwas: Ich gönne mir meine Schmerzen. Was nur bedeuten kann, dass ich mir nicht nur egal bin, sondern mir gegenüber sogar gehässig.

Ich rappele mich auf, setze mich in meinen Sessel und recherchiere auf meinem Smartphone nach einem Psychotherapeuten. Das hätte ich vielleicht schon längst tun sollen. Ich nehme den erstbesten. Keine Ahnung, ob er fähig ist oder in seiner Zunft das, was ich unter den Taubenvergrämern dieser Welt bin: der schlechteste. Wenn dem so ist, auch egal. Wir Inkompetenten müssen zusammenhalten.

Mein Anruf landet direkt auf seiner Mailbox.

»Heben Sie ab, ich weiß, dass Sie da sind«, rufe ich nach dem Piepton, weil ich das vor vielen Jahren im Kino gesehen habe. Das macht man so.

Wenige Augenblicke später hebt tatsächlich jemand ab.

»Kuckuck!«, sagt eine männliche Stimme.

»Fitz, guten Tag, spreche ich mit einem Psychotherapeuten?«

»Ja, aber ich habe keine Zeit. Ich stecke gerade in einem Termin.«

»Sie haben noch andere Patienten? Das ist gut. Ich hatte schon Angst, dass ich an einen Quacksalber gerate.«

»Worum geht’s denn?«

»Ich glaube, ich leide unter Selbsthass. Ich habe mich gerade mal nach vorn fallen lassen, um zu testen, ob meine Reflexe noch funktionieren, und ob Sie es glauben oder nicht: Ich bin ungebremst mit dem Gesicht aufgeschlagen!«

»Nein!«

»Doch! Meine Arme sind nicht ausgefahren, um mich zu schützen.«

»Die werden ihre Gründe haben.«

»Ist das normal?«

»Nein.«

»Was sagen Sie dazu?«

»Ich beneide Sie nicht.«

»Mehr haben Sie nicht zu sagen?«

»Was wollen Sie denn hören?«

»Ist es möglich, dass ich entmenschliche?«

»Kann ich mir nicht vorstellen.«

»Nichts an mir ist mehr selbstverständlich.«

Stille.

»Hallo? Herr Doktor?«

Stille.

»Herr Doktor???«

Er hat eingehängt. Ich weiß nicht, ob mir das hilft. Aber er ist der Profi. Die Zeit wird es zeigen.