4.9.2005
Da vorne steht sie, keine vier Meter von mir entfernt. Sie könnte jeden Moment auf und davon fliegen. Es kann aber auch noch ein paar Stunden dauern, ein paar Nächte oder ein paar Wochen, wer weiß. Sie meidet meinen Blick. Wie eine Diva hat sie sich von mir abgewendet, und bewege ich mich in ihr Blickfeld, dreht sie sich abrupt weg. Die Taube ignoriert mich, lässt mir keine Chance, ihr auch nur einen kurzen Moment in die Augen zu sehen – weil sie weiß, dass sie gegen meinen hypnotischen Blick keine Chance hätte. Dass es dann um sie geschehen wäre. Weil sie dann in einen tiefen Schlaf fiele, woraufhin ich sie packen und an einen weit entfernten Ort bringen würde, von wo sie nie wieder zurückfinden würde. Und das ganze Dorf würde jubeln: »Hurra, die Taube ist vergrämt! Hurra! Hurra! Es lebe der Vergrämer!«
Wäre. Würde. Wenn.
Denn was nützen die modernsten Hypnosetechniken, wenn mir die Taube einfach nicht in die Augen sieht?
Tauben zu vergrämen ist nicht leicht. Ich kann davon ein Lied singen. Ich mache das seit vielen Jahren beruflich. Und erfolglos. Ist aber nicht meine Schuld. Liegt am Standortnachteil. Die Bedingungen hier in Juf, meinem 13-köpfigen Heimatdorf in den Schweizer Bergen, sind nicht die besten. Denn es gibt hier keine Tauben. Gab es noch nie. Und ausgerechnet an diesem taubenverlassenen Ort musste ich geboren werden. Jan-Uwe Fitz – der großartigste Taubenvergrämer aller Zeiten. Aber weisen Sie das mal nach, wenn Sie nie eine Taube zu Gesicht bekommen.
Als Johann Uvanovich-Franceso sich vor dreihundert Jahren als erster Mensch an diesem unwirtlichen Fleckchen Erde in den Schweizer Alpen niederließ, lag eine kräftezehrende Odyssee hinter dem gebürtigen Gießener. Viele Jahre waren vergangen, seit er seine hessische Heimat verlassen hatte, um seinem Sehnsuchtsziel entgegenzustreben: Basel. Als Route wählte er die A5, was nicht ohne Risiko war, denn zu Beginn des 18. Jahrhunderts war sie noch nicht gebaut, und sogar die Erfindung des Automobils lag noch in weiter Ferne.
Doch Johann Uvanovich-Franceso war nicht nur ein mutiger und naiver Mensch – er verfügte außerdem über seherische Kräfte. Und die erlaubten ihm schon Anfang des 18. Jahrhunderts, den Verlauf des bundesdeutschen Autobahnnetzes, Stand Juli 2005, vorauszusehen.
Ich möchte der Vollständigkeit halber hinzufügen, dass Johann Uvanovich-Franceso nicht als einziger Mensch diese besondere Gabe besaß. Vor ihm hatte bereits Juan Emilio Becinha de Gossos, ein brasilianischer Regenwaldbewohner, das deutsche Autobahnnetz, Stand Juli 2005, vorausgeahnt – und das bereits im 15. Jahrhundert! Um bei seinen Stammeskollegen nicht in Verruf zu geraten, behielt er diese Vision lange für sich, bis er sich endlich im Juni 2002 als Geist dazu entschloss, mir im Traum zu erscheinen. Er sprach:
»Hier, hör mal, ich kannte schon vierzehnhundertirgendwas das Autobahnnetz von Deutschland. Stand Juli 2005. Gegen mich ist Jules Verne Inge Meysel.«
»Und warum erzählst du das mir?«
»Dachte, du könntest das mal für ein Buch gebrauchen.«
Warum Johann Uvanovich-Franceso den langen, beschwerlichen Marsch gen Basel überhaupt auf sich nahm, bleibt bis heute ein Rätsel. Über seine Motive lässt sich nur spekulieren. Was aber ohnehin angenehmer ist, als zu recherchieren, weil es Zeit und Mühe spart.
Befassen wir uns also mit der Frage: Warum verließ Johann Uvanovich-Franceso überhaupt Gießen? Und warum zog es ihn ausgerechnet nach Basel? Kannte Uvanovich-Franceso selbst überhaupt die Gründe?
Es mag die Sehnsucht nach Stille gewesen sein, der Wunsch, ein Leben jenseits der lauten und rücksichtslosen Menschen zu führen. Gießen war Anfang des 18. Jahrhunderts eine der weltweit führenden Metropolen im grundlosen Lärmen. Nervensägen aus aller Welt zogen an die Lahn, um hier keine Rücksicht auf irgendjemanden zu nehmen. Der Gießener war der Inbegriff der Losgelassenheit und Verrohtheit und hatte einen Heidenspaß daran, anderen auf die Nüsse zu gehen. Für einen Menschen wie Uvanovich-Franceso, der die Stille liebte, war es keine rechte Freude, hier sein Dasein zu fristen.
Doch warum Basel? Auch in näher an Gießen gelegenen Orten hätte unser Held die nötige Einsamkeit und Stille gefunden, um als Eremit zu leben. Doch stattdessen wanderte er weiter und weiter, als zöge ihn ein unsichtbares Band. Leitete ihn eine innere Stimme? Folgte er dem Ruf seines Herzens? Oder vernahm er den Ruf der Berge?
Zeitzeugen wie Elfriede Meffert aus Hansgezarten im Landkreis Ulmenau-Burgburg erinnerten sich:
»Ich fütterte gerade die Enten, als ich plötzlich einen Mann hörte, der wie ein Rohrspatz vor sich hin schimpfte. ›Ich habe die Nase so voll von den Menschen, die gehen mir vielleicht auf den Sack, ey …‹, hat er gesagt, und: ›Ich freu mich so auf die Einsamkeit. Ich freu mich so, ich freu mich so.‹ Ich hielt ihn an und fragte, ob ich ihn denn auch nerve, und er antwortete: ›Ja, jetzt schon.‹ Er hatte eine besondere Gabe: Er musste Menschen nur sehen, schon gingen sie ihm auf den Sack.«
Und Malermeister Schorschi Bargfrede schrieb in seinen Memoiren:
»Ich weiß noch, dass ich gerade Enten anmalte, als ich plötzlich eine Männerstimme hörte, die ein Lied sang. Es war Uvanovich-Franceso. Die Zeilen lauteten:
›Ich bin der Johahn,
lauf entlang der Autobahn,
nach Basel zieht es misch,
die Menschen hab satt isch.‹
Ich wusste gleich: ein ganz besonderer Mensch, aber ein Scheißdichter. Ich habe dafür ein Näschen.«
Natürlich konnte Johann Uvanovich-Franceso Gießen nur Hals über Kopf verlassen, weil er keine privaten oder beruflichen Verpflichtungen hatte. Abgesehen von einer schwerkranken Ehefrau, fünf minderjährigen süßen Kindern und einem Betrieb mit mehr als hundert Mitarbeitern, die ohne ihren Chef völlig aufgeschmissen waren, gab es nichts und niemanden, auf den er hätte Rücksicht nehmen müssen. Da fiel es ihm natürlich leicht, ganz egoistisch ein neues Leben zu beginnen.
Doch als Johann Uvanovich-Franceso schließlich Basel erreichte, geschah Merkwürdiges: Er ließ die Stadt rechts liegen – und wanderte weiter. Was war geschehen? Hatte er Basel nicht erkannt? War er überrascht, dass es auch in Basel Menschen gab? Oder kam er nach der langen Wanderung nicht rechtzeitig zum Stehen und schoss deshalb über das Ziel hinaus?
Jedenfalls ging er weiter bis in die Alpen. Dort angekommen, sagte er seinen wohl berühmtesten Satz: »Oh, die Alpen.« Ein letzter Gewaltmarsch, und der Hesse erreichte eine Lichtung. In sein Tagebuch schrieb er: »Oh, eine Lichtung.«
Der hessische Immigrant wusste intuitiv: An diesem Ort wollte er den Rest seines Lebens verbringen. Nach dieser Lichtung hatte er sich immer gesehnt. »Nach Basel wollte ich ja nie wirklich«, redete er sich ein. »Das habe ich nur so gesagt, weil mein wahrer Sehnsuchtsort noch keinen Namen hatte. Ich werde ihn Juf nennen. Nach meinen Initialen.« Johann Uvanovich-Franceso hatte sein Traumziel entdeckt. Auch wenn er anfangs glaubte, es sei Indien.
Das beweist ein Tagebucheintrag vom 23.4.1705:
»Bin gerade auf Indien gestoßen. Keine Ahnung, was es in den Schweizer Bergen macht. Aber so ist das eben mit Entdeckungen. Man macht sie und denkt zunächst: Huch, Indien! Immer. Es ist wie verhext. Die Medien sind schuld. Seit Kolumbus Amerika entdeckt hat, erzählen die Medien nichts anderes, als dass Kolumbus dachte, auf Indien gestoßen zu sein. Klar, dass heute jeder Depp glaubt, er habe gerade Indien entdeckt, wenn er irgendeinen Dreck entdeckt.«
Uvanovich-Francesos neues Leben begann vielversprechend: Aus herumliegendem Laub und Ästen baute er sich in Windeseile eine Doppelhaushälfte mit Carport – da war er trotz aller romantischer Anwandlungen durch und durch bürgerlich. Doch schon bald vermisste er Brötchen. Sosehr Uvanovich-Franceso seine Einsamkeit auch liebte, so sehr fehlten ihm Backwaren. Das hatte er unterschätzt, als er Hals über Kopf Gießen verlassen hatte. Das Gras mag woanders grüner sein, aber das heißt nicht, dass es dort auch Brötchen gibt. Und so jammerte er fortan nächtelang: »Brötchen! Ich will Brötchen!«
Eine Elfe hörte sein Wehklagen und bekam Mitleid.
»Was ist los?«, fragte sie Johann Uvanovich-Franceso, und der antwortete: »Brötchen! Ich will Brötchen!«
Die Elfe, die diesen Wunsch nicht nachempfinden konnte, sagte: »Das kann ich gut nachempfinden«, und fügte hinzu: »Du hast Glück, seltsamer Alm-Öhi mit Doppelhaushälfte und Carport. Ich erfülle dir deinen Wunsch und sorge dafür, dass sich eine Bäckerei in Juf ansiedelt.«
Johann Uvanovich-Franceso blieb das Weinen im Halse stecken.
»Wie? Nein, nein. Moment!«, stammelte er fassungslos. »Wenn ich einen Wunsch frei habe, wünsche ich mir natürlich etwas anderes. So wichtig sind mir Brötchen jetzt auch nicht.«
»Zu spät.«
»Ich bitte Sie! Wer ist denn so blöd, sich ein Brötchen zu wünschen, wenn er einen Wunsch frei hat?«
»Aber warum haben Sie dann ständig gejammert, dass Sie so gern ein Brötchen hätten? Sie sind doch selbst schuld.«
»Konnte ich ahnen, dass mich eine Elfe belauscht und mir den Wunsch erfüllt? Brötchen rangieren weit, weit hinten. Sie können doch nicht einfach den erstbesten Wunsch erfüllen, ohne nachzufragen!«
»Aber jetzt habe ich den Wunsch bereits angeleiert. Der ist schon in Bearbeitung.«
»Habe ich noch einen zweiten Wunsch frei?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Ich bin wie eine Biene, die einmal sticht und dann stirbt.«
»Sie sterben, sobald ich mein Brötchen habe?«
»Hoffentlich nicht!«
»Aber Sie sagten doch …«
»Das war metaphorisch gemeint.«
»Und wofür steht die Metapher ›Tod der Biene‹?«
»Pff. Keine Ahnung«, antwortete die Elfe ratlos. »Ist mir spontan eingefallen. Gut, ne?«
»Geht so.«
»Was ich damit sagen will: Ich kann Ihnen nur einen Wunsch erfüllen. Und der ist jetzt unterwegs. Kann ich nicht stornieren.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja!«
»Es soll Ihr Schaden nicht sein.«
»Mir sind leider die Hände gebunden.«
»Und außerdem wollte ich nur ein Brötchen. Keine ganze Bäckerei. Was glauben Sie, warum ich hier so zurückgezogen in den Bergen lebe? Weil ich keinen Bock auf Menschen habe. Und jetzt kommen Sie und zaubern eine Bäckerei hierher. Und wo eine Bäckerei ist, da ist auch ein Bäcker! Ein Mensch! Iiiih!«
»Ich habe es doch nur gut gemeint«, sagte die Elfe traurig. »Ein einziges Brötchen hätte Sie doch auf Dauer nicht zufriedengestellt. Da hätten Sie doch morgen gleich weitergejammert.«
»Ich möchte die Bäckerei stornieren.«
»Geht nicht.«
»Ich möchte von meinem vierzehntägigen Widerrufsrecht Gebrauch machen.«
»Nein.«
»Ich bezahle das Brötchen nicht.«
»Müssen Sie nicht. Ist ja eine kostenlose Wunscherfüllung.«
»ICH HABE MIR ABER KEINE BÄCKEREI GEWÜNSCHT!«
In diesem Augenblick schlug hinter den beiden ein Blitz ein. Als der Rauch sich verzogen hatte, stand direkt neben der Doppelhaushälfte eine Bäckerei. Ein Bäcker trat heraus und sagte:
»Guten Tag, hier wurde eine Bäckerei gewünscht?«
»Ja«, antwortete die Elfe zufrieden.
»Nein!«, antwortete Uvanovich-Franceso missmutig.
Der Bäcker sah sich um.
»Nettes Örtchen«, sagte er gut gelaunt. »Hier werde ich mich wohl fühlen.«
»Das ist mein nettes Örtchen«, knurrte Johann Uvanovich-Franceso.
»Der Herr hat sich hierher zurückgezogen, um seine Ruhe vor den Menschen zu haben«, erklärte die Elfe dem Bäcker. Der machte eine abwehrende Geste und sagte:
»Oh, ich werde Sie nicht stören, mein Herr, keine Angst. Ich habe auch gern meine Ruhe. Wir können uns gern gegenseitig ignorieren. Ich bin auch nicht gerade ein Menschenfreund.«
Von diesem Satz fühlte sich Uvanovich-Franceso herausgefordert, und er antwortete:
»Ich ertrage Menschen schlechter als Sie.«
»Na, das würde mich wundern«, erwiderte der Bäcker lässig.
»Wollen Sie ein Duell?«, fragte Uvanovich-Franceso angriffslustig.
»Gerne.«
Die beiden schauten sich mit zu Schlitzen verengten Augen an, wie zwei Katzen, die gleich übereinander herfallen.
»Verstehe ich das richtig?«, meldete sich die Elfe irritiert zu Wort. »Sie wollen gegenseitig unerträglich sein, und wer zuerst verschwindet, hat verloren?«
Die beiden antworteten nicht, sondern schauten sich weiter scharf an.
»Ich glaube, ich lass die beiden Herren dann mal allein«, besann sich die Elfe. »Sie haben sich sicher viel zu, äh, verschweigen.«
Doch kaum hatte sich die Elfe aus dem Staub gemacht, meldete sich eine dritte Männerstimme zu Wort.
»Hallo. Hier wurde eine Bäckerei gewünscht?«
»Jetzt ist aber langsam gut«, antwortete Uvanovich-Franceso. Und der erste Bäcker versetzte: »Hier ist schon eine. Ich war vor Ihnen da. Bäckern Sie gefälligst woanders.«
»Dann muss es sich um eine Fehlwunscherfüllung handeln«, sagte der zweite Bäcker verwirrt. »Hm. Ich habe leider keine Ahnung, wie ich von hier wieder wegkomme.«
»Hier wurde eine Bäckerei gewünscht?«, fragte daraufhin die Stimme eines weiteren Bäckers.
Fassungslos starrte Johann Uvanovich-Franceso auf die drei Bäckereifilialen neben seiner Doppelhaushälfte.
Dann sank er auf die Knie, riss den Mund auf und sagte verdutzt:
»Oh, drei Bäckereien.«
Wo war ich stehengeblieben? Ach ja. Neuerdings wird unser Dorf von einer Taube terrorisiert. Ein Fall für den Taubenvergrämer! Ein Fall für mich. Es war die Chance, auf die ich ein Leben lang gewartet hatte. Endlich konnte ich meiner Bestimmung nachkommen und eine Taube vergrämen.
Doch elf Tage später bin ich von der Erfüllung meines Lebenstraums so weit entfernt wie eh und je. Denn trotz aller Anstrengungen lässt sich die Taube einfach nicht vergrämen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie mich überhaupt wahrgenommen hat. Sie ist ein würdiger Gegner, das muss ich ihr lassen. Und zurzeit liegt sie in unserem Duell leicht vorne. Den Triumph kostet sie voll aus. Wie sie über den Dorfplatz stolziert, zwischendurch immer wieder an einem achtlos weggeworfenen Marmeladenbrötchen herumpickt, es mit dem Schnabel in die Höhe wirft, um es in schnabelgerechte Stücke zu portionieren – und mich dabei keines Blickes würdigt –, demonstriert sie mir mit jeder Feder ihre Verachtung. »Du kannst mir gar nichts, Vergrämerchen«, sagt sie körpersprachlich. »Mit dir werde ich locker fertig.«
Langsam muss ich mir etwas einfallen lassen. Sonst wird es peinlich. Was bin ich für ein Taubenvergrämer, wenn ich schon an der ersten Taube scheitere. Von selbst wird dieses Exemplar jedenfalls nicht verschwinden. Dafür geht es ihr in unserem Dorf viel zu gut. Die wäre ja bekloppt, wenn sie dieses Schlaraffenland je wieder verließe.
Was mir die Sache zusätzlich erschwert: Jemand versorgt die Bestie heimlich mit Marmeladenbrötchen. Kaum hat sie eins vertilgt, liegt auch schon das nächste bereit. Wie von Geisterhand. Ein terroristischer Akt. Wenn ich das kranke Schwein hinter dieser teuflischen Aktion erwische, dann vergräme ich das gleich mit.
Bisher geht der Täter allerdings äußerst geschickt vor. Dass er bereits ein neues Marmeladenbrötchen nachgelegt hat, merke ich immer erst, wenn es bereits zu spät ist und die Taube sich schon über die Nahrung hermacht.
Im Ernst: Wie krank muss man sein, um eine Taube zu füttern? Jedes Kind weiß doch, dass Tauben nur Kot, Erreger, Krankheiten und Tod bringen.
Ich kenne prosperierende Volkswirtschaften, die von ein paar Tauben innerhalb von Tagen zu Krisenländern gekotet worden sind. Schon eine Taube, das muss man sich mal vorstellen, kann kraft ihres Darms in wenigen Minuten eine Millionenmetropole auslöschen. Das heißt nach Adam Riese: Eine halbe Taube kann in einer halben Stunde locker eine halbe Millionenmetropole dem Erdboden gleichkoten. Da kann man sich leicht ausrechnen, wie wenig Taube es braucht, um das kleine Juf mit seinen 13 Einwohnern und drei Bäckereien in eine Geisterstadt zu verwandeln. Wenn diese Taube, die dort drüben gerade genüsslich Marmeladenbrötchen auf Marmeladenbrötchen verzehrt, nicht in absehbarer Zeit vergrämt wird, dann war es das mit Juf. Und dann war es das mit den Menschen im Dorf. Ich bin ihre letzte Hoffnung!
Als Erstes habe ich gleich mal den Ausnahmezustand über unser Dorf verhängt. Und ich muss sagen: Die Bevölkerung verhält sich vorbildlich. Sie ist sich der Gefahr bewusst, niemand verlässt sein Haus. Das hat zwar auch vor dem Ausnahmezustand niemand getan, aber aus anderen Gründen. Juf ist ein Dorf, in dem ausschließlich Menschen leben, die vor anderen Menschen Angst haben. Hier ist jeder ein sozialer Phobiker. Niemand geht grundlos vor die Tür. Die Angst, einen Menschen zu treffen, ist zu groß. Seit elf Tagen aber verlassen die Jufer wegen des grauenhaften Vogels nicht mehr ihre Häuser. Das weiß aber nur ich. Habe dafür einen siebten Sinn.