25.11.2033

Erst war es mein exzessives Innenleben, dann meine Amokläufe – ich kann mir noch so viel Mühe geben, ich schaffe es einfach nicht auf die Straße. Ein Skorpion befreit sich schneller aus einem Eimer als ich mich aus diesem Wohnhaus. Die Party meiner neuen Nachbarin habe ich auch verpasst. Weil ich, statt mir mit jungen Menschen einen auf die Lampe zu gießen, unbedingt bei alten Menschen Amok laufen musste.

Aber heute habe ich ein gutes Gefühl. Heute wird es mir gelingen, in die weite Welt zu ziehen. Und nichts und niemand hält mich auf.

Ah, doch.

Diesmal ist es der Gedanke: Wissen die Mieter im Haus eigentlich, dass ich mit ihnen nie etwas zu tun haben wollte? Oder glauben sie, ich sei einfach nur schüchtern? Denken sie am Ende gar, dass sie diejenigen sind, die mit mir nie etwas zu tun haben wollten? Das muss ich vor meiner Abreise noch klarstellen. Sonst lassen mir diese Fragen für den Rest meines Lebens keine Ruhe.

Tamara Ostermann, der Mieterin in der Wohnung über mir, wird wohl klar sein, dass ich mit ihr nichts zu tun haben möchte und die Ablehnung von mir ausgeht.

Also klopfe ich bei Herrn Krause. Er öffnet.

»Herr Fitz«, begrüßt er mich ausdruckslos. »Haben Sie die Meisers schon getötet?«

»Lassen wir den Smalltalk und kommen wir zur Sache: Wissen Sie, dass ich mit Ihnen nichts zu tun haben möchte?«

»Was? Nein. Aber warum das denn?« Er klingt betroffen. Meine anfängliche Entschlossenheit ist verflogen.

»Nur so ein Bauchgefühl. Ich mag Sie einfach nicht.«

Herrn Krause steigen Tränen in die Augen, und ich werde weich.

»Äh … nein … das war nur ein Scherz«, besinne ich mich und trockne mit meinem Ärmel seine Tränen. »Eigentlich … wollte ich Sie fragen, ob wir nicht ein Bier zusammen trinken gehen«, heuchele ich.

Herrn Krauses Gesicht hellt sich auf. »Gern!«, sagt er, noch schluchzend. »Ich hole meine Jacke.«

Als er in seiner Wohnung verschwindet, mache ich mich aus dem Staub. Nichts wie weg, zurück in meine Wohnung. Als es wenig später klingelt, öffne ich nicht.

Ich muss meine Taktik ändern. Vor allem härter werden. Ist nicht Sinn der Sache, wenn ich mit den Leuten, die ich ablehne, anschließend ein Bier trinken muss.

Ich klingele bei Frau Mohren. Sie öffnet und raunzt:

»Ja?«

»Fitz, mein Name. Ich will mit Ihnen nichts zu tun haben.«

»Aha.«

»Und Sie brauchen gar nicht rumzuheulen. Ich werde kein Bier mit Ihnen trinken. Mein Entschluss ist unumstößlich.«

»Was habe ich Ihnen denn getan?«

»Keine Ahnung. Aber ich werde schon meine Gründe ­haben.«

Ich nicke zur Bekräftigung und gehe.

Das lief super, denke ich auf dem Weg zur nächsten Wohnungstür. Gleich den Flow nutzen und weiter.

Ich klingele bei den Petersens. Herr Petersen öffnet und knurrt:

»Hä?«

»Fitz, mein Name. Ich will nichts mit Ihnen zu tun haben.«

»Weiß ich. Haben Sie uns schon letztes Jahr gesagt«, antwortet Herr Petersen gelangweilt.

»Hab ich das?«, frage ich verdutzt. »Man verliert so schnell den Überblick.«

»Darf ich Ihnen einen Tipp geben?«

»Nein, ich habe nichts mit Ihnen zu tun.«

»Schreiben Sie sich einfach auf, wem Sie das schon mitgeteilt haben. Und lassen Sie sich das von der Person gleich quittieren. Wenn Ihnen dann mal wieder jemand einfällt, aber Sie erinnern sich partout nicht daran, ob der schon weiß, dass Sie ihn ablehnen, gucken Sie einfach auf Ihre Liste.«

Ich zücke mein Smartphone und lege eine Liste mit dem Titel »Personen, mit denen ich nichts mehr zu tun habe« an. Als ersten Namen schreibe ich den von Herrn Petersen auf.

Herr Petersen beobachtet den Vorgang interessiert und sagt dann:

»Ich heiße aber nicht Petersen. Ich heiße Koslowski.«

»Ehrlich? Warum steht dann ›Petersen‹ an der Tür?«

»Herr Petersen und ich haben die Wohnungen getauscht, aber die Klingelschilder noch nicht.«

»Und wo wohnen Petersens?«

»Im sechsten.«

»Dann entschuldigen Sie bitte vielmals.«

»Das heißt, mit mir wollen Sie noch etwas zu tun haben?«

»Nein, auch nicht … Ach, das ist alles so verwirrend heutzutage. Diese vielen Menschen. Manchmal glaube ich, ich bin für das soziale Miteinander nicht gemacht.«

»Haha, reingefallen«, sagt Herr Koslowski. »Ich bin doch Herr Petersen!«

Ich spüre, wie in mir kalte Wut aufsteigt.

»Wissen Sie was? Wegen Leuten wie Ihnen habe ich ­keinen Bock auf andere Menschen. Niemand nimmt mehr irgendetwas ernst. Aber albern sein – das können sie!«

»Falls es Sie beruhigt, ich habe auch zu ein paar Leuten im Haus keinen Kontakt mehr. Zu Herrn Lübcke zum Beispiel. Der ist aber auch wirklich ein Superarsch. Gegen den sind Sie eine Lichtgestalt. Gehen Sie zu dem auch noch?«

»Ja.«

»Na, dann viel Spaß.«

»Wieso?«

»Der ist gewalttätig. Ein falsches Wort, zack!, haben Sie eine sitzen.«

»Oh, dann verheimliche ich dem lieber, dass ich nichts mit ihm zu tun haben will.«

Wenig später klingele ich bei ›Kuhnert‹. Herr Kuhnert öffnet.

»Jan-Uwe«, begrüßt er mich fröhlich.

»Wir kennen uns?«

»Na klar. Ich bin es, dein Vater.«

»Was machst du denn hier?«

»Bin aus Juf weggezogen. Herr Menke und ich haben uns einfach nicht verstanden.«

»Seit wann wohnst du in diesem Haus?«

»Seit acht Jahren.«

»Hast du gewusst, dass ich auch hier wohne?«

»Klar.«

»Warum hast du dich nicht bei mir gemeldet?«

»Bin im Zeugenschutzprogramm. Deshalb heiße ich ja auch Kuhnert. Also pssst.«

Er legt den Zeigefinger auf seine Lippen und schaut verschwörerisch nach rechts und links.

»Übrigens …«, fügt er hinzu. »Mutter wohnt auch hier. Wir haben uns wieder versöhnt.«

»Darf ich sie mal sehen? Ich kenne sie gar nicht.«

Mein Vater macht ein unglückliches Gesicht.

»Nee, lieber nicht. Sie will mit dir nichts zu tun haben.«

»Eigentlich bin ich hergekommen, weil ich mit euch nichts zu tun haben will.«

»Dann passt das ja.«

»Aber da wusste ich noch nicht, dass ihr meine Eltern seid.«

»Pech.«

»Darf ich mal einen Blick auf Mutter werfen?«

»Nö. Die will doch mit dir nichts zu tun haben.«

»Ich will mit euch ja auch nichts zu tun haben.«

»Ist klar …«

»Wirklich.«

»Ach, Quatsch. Wir sind deine Eltern.«

»Deshalb kann ich doch nichts mit euch zu tun haben wollen …«

»Nein. So einer bist du nicht.«

»Wer ist da?«, ruft eine Frauenstimme aus der Wohnung.

»Dein Sohn!«, antwortet mein Vater.

»Sag ihm, ich habe keinen Sohn mehr!«

»Sonst noch was?« Mein Vater blickt mich ausdruckslos an und wirft die Tür zu, bevor ich antworten kann.

Feder.tif

Aber jetzt: Hinaus in die Welt! Ich komme bis zum Schwarzen Brett im Treppenhaus. Ein Zettel springt mir ins Auge. Darauf steht:

»Lernen Sie sich besser kennen!«

Wenn ein Text mit diesen Worten beginnt, dann lese ich gar nicht erst weiter. Dann vereinbare ich sofort einen Termin. Denn wann bekommt man heutzutage noch die Chance, sich selbst kennenzulernen?

Ich zücke mein Mobiltelefon und wähle die angegebene Telefonnummer. Es meldet sich eine Frauenstimme:

»Institut für Selbstfindung.«

»Fitz. Ich hätte gern einen Termin.«

»Haben Sie sofort Zeit?«

»Ich habe immer Zeit! Wo muss ich hin?«

»Am Mistwinkel 12. Keller.«

»Ach? Das ist meine Adresse. Bin sofort da!«

Die Kellertür öffnet sich, und eine junge Frau lächelt mich an.

»Dann kommen Sie herein.«

Wenige Minuten später sitze ich auf einem unbequemen Holzstuhl in einem kargen, fensterlosen Raum. Auf der anderen Seite des Tisches tippt ein Mann in einem weißen Kittel wie wild auf einer Laptoptastatur herum. Ich schätze ihn auf circa fünfzig Jahre. Nein, auf sechzig Jahre, denn ich kann nicht ausschließen, dass er sich gut gehalten hat. Ich gehe sogar fest davon aus, dass er sich gut gehalten hat, aber bevor ich mir Naivität vorwerfen lasse, schätze ich ihn auf dreißig. Vielleicht hat er seiner Karriere zuliebe nicht ausreichend auf seine Gesundheit geachtet, und nun sieht er viel älter aus, als er ist. Wäre doch möglich. Man hört ständig von Wissenschaftlern, die forschen und forschen und forschen und dabei völlig vergessen zu schlafen. So ein Leben geht nicht spurlos an einem Menschen vorüber. Am Ende sehen diese Zeitgenossen aus wie der Tod. Und wer bin ich, dass ich ausschließen kann, einem solchen Menschen gerade gegenüberzusitzen?

»Tun Sie mir einen Gefallen, Herr Wissenschaftler«, sage ich. »Ich …«

»Ich kann jetzt nicht«, unterbricht er mich barsch. »Sehen Sie nicht, dass ich beschäftigt bin?«

»Doch, aber …«

»Och, nein«, ruft der Wissenschaftler verärgert, stößt sich auf seinem Rollschreibtischstuhl ab und rollt nach hinten. »Jetzt habe ich vergessen, was ich tippen wollte.«

Dann rollt er wieder nach vorne, legt seine Hände auf die Tastatur, will etwas tippen, stutzt und lässt wieder von der Tastatur ab. Schließlich blickt er mich an und mosert:

»Sie haben meine Konzentration gestört!«

»Das tut mir leid«, entschuldige ich mich kleinlaut.

»Warum haben Sie nicht gewartet, bis ich fertig bin? Sie haben doch gesehen, dass ich arbeite.«

»Ich würde so gern wissen, wie alt Sie sind. Sobald ich das weiß, lasse ich Sie wieder in Ruhe.«

»Achtundvierzig«, antwortet er missmutig.

»Dann lag ich ja gar nicht so falsch.«

»Wie alt haben Sie mich denn geschätzt?«, fragt der Wissenschaftler misstrauisch.

»Da habe ich mir bewusst keine Denkverbote auferlegt. Und einfach jede Zahl zwischen zwanzig und siebzig getippt.«

In einer Art Übersprunghandlung krame ich in meiner Hosentasche herum und lege gedankenverloren eine unappetitliche Mischung aus Stoffbröseln und Krümeln auf den Tisch.

»Machen Sie das weg«, fordert der Wissenschaftler.

»Die sind nicht von mir«, antworte ich.

»Ich habe gesehen, wie Sie sie auf den Tisch gelegt haben.«

»Da haben Ihnen Ihre Augen einen Streich gespielt.«

»Meine Augen sind tipptopp.«

»Warum sollte ich Brösel auf den Tisch legen?«

»Der Raum wird videoüberwacht. Soll ich Ihnen vorspielen, wie Sie die Brösel aus der Hosentasche holen und auf den Tisch legen?«

»Nicht nötig«, sage ich kleinlaut. »Ich gebe es ja zu.«

Ich beuge mich vor und begutachte die Brösel-Krümel-Mischung genauer.

»Ich frage mich ja, wie das Zeug in meine Tasche gelangt ist.« Ich sehe noch genauer hin und zeige nacheinander auf drei Krümel. »Diese drei da – die sind Brot. Aber ich erinnere mich beim besten Willen nicht, in letzter Zeit Brot in der ­Hosentasche gehabt zu haben. Die Stoffflusen – okay, das kann ich irgendwie nachvollziehen, die finden sich schon einmal in der Hosentasche. Aber das Brot? Ist mir ein Rätsel!«

Ich wische das Zeug vom Tisch. Dann frage ich:

»Wissen Sie, was mir in meiner Kindheit richtig geschadet hat? ›Dalli Dalli‹. Die Rateshow mit Hans Rosenthal. Kennen Sie? Ich durfte kein ›Derrick‹ sehen, kein ›Der Alte‹, keinen ›Tatort‹, keine amerikanischen Filme, weil sie mir hätten schaden können. Aber ›Dalli Dalli‹ durfte ich gucken. Dabei hat mir das mehr geschadet als alles andere. Seit ich das erste Mal ›Dalli Dalli‹ gesehen habe, mache ich alles im ­Leben so schnell wie möglich. ›Dalli Dalli‹ hat mich total versaut. Ich dachte, im Leben käme es vor allem darauf an, so viel wie möglich in fünfzehn Sekunden zu schaffen. Konnte ich ahnen, dass das nur eine Spielshow war? Dass es im Leben nicht nur auf Schnelligkeit ankommt? Und bevor Sie mich fragen, ob ich auch beim Sex die fünfzehn Sekunden einhalte, sage ich Ihnen: Ich habe keinen Sex.«

Der Wissenschaftler sieht mich an, klatscht aufmunternd in die Hände und sagt:

»Wissen Sie was? Legen wir los.«

Das ist ganz in meinem Sinne.

»Kurz zur Erklärung: Zu uns kommen Menschen, die nicht wissen, wer sie sind«, führt er aus. »Unser Institut hat einen Test entwickelt, mit dem wir herausfinden, wer jemand wirklich ist. Die Erfolge können sich sehen lassen. Wir feiern große Erfolge bei der Bestätigung von Minderwertigkeitskomplexen und schaffen es immer wieder, Menschen, die eine hohe Meinung von sich haben, von ihrem hohen Ast zu holen. Gut, dann fangen wir an …«

Er faltet die Hände auf dem Tisch und sieht mir direkt in die Augen.

»Sie möchten sich also besser kennenlernen, Herr Fitz.«

»Ja.«

»Unser Institut analysiert zu diesem Zweck die Selbstgespräche von Menschen. Wir vertreten die Philosophie, dass die Selbstgespräche wertvolle Rückschlüsse auf den Charakter eines Menschen zulassen.«

»Klingt gut.«

»Okay. Dann machen Sie mal.« Der Wissenschaftler legt seine Hände auf die Tastatur, bereit, mitzutippen. Sein Blick sagt: Ich bin gespannt wie ein Flitzebogen.

»Womit?«, frage ich ihn.

»Reden Sie mit sich selbst.«

»Jetzt?«

»Natürlich.«

»Vor Ihnen?«

»Natürlich vor mir. Sonst höre ich doch nicht, was Sie sagen.«

»Ist das dann noch ein Selbstgespräch?«

»Nicht im klassischen Sinne. Aber anders geht’s nun mal nicht.«

»Ich weiß nicht. Das fühlt sich irgendwie komisch an.«

»War das jetzt ein Selbstgespräch?«

»Was?«

»Na: ›Ich weiß nicht. Das fühlt sich irgendwie komisch an.‹«

»Keine Ahnung. Ich habe nur laut gedacht.«

Der Wissenschaftler tippt den Satz in seinen Computer und sagt: »Das ist doch super. Damit können wir arbeiten.«

»Was?«

»›Ich habe nur laut gedacht.‹«

»Das zählt als Selbstgespräch?«

»Natürlich. Laut zu denken ist nichts anderes, als ein Selbstgespräch zu führen.«

»Sagt denn der Satz schon etwas über mich aus?«

»Solange wir keinen anderen Satz haben, nehmen wir einfach den.«

»Und was sagt der Satz über mich aus?«

»Ganze Bibliotheken! Haben Sie noch mehr auf Lager?«

»Muss ich mal nachdenken.«

»Auch ein schöner Satz«, sagt er anerkennend und tippt ihn in seine Tastatur.

»Was?«

»›Muss ich mal nachdenken.‹ Kann ich ebenfalls als Selbstgespräch anerkennen. Oder haben Sie das zu mir ­gesagt?«

»Nicht direkt.«

»Super. Dann nehmen wir den Satz. Sehr schön.«

»Ist es für ein Selbstgespräch egal, ob ich mich gerade im Gespräch mit einer anderen Person befinde?«

Der Mann nimmt seine Brille ab und putzt sie mit dem Ärmel.

»In einer Gesprächssituation ist natürlich nicht immer einfach auseinanderzuhalten, was Smalltalk und was Selbstgespräch ist, nicht wahr? Ideal wäre natürlich, wenn Sie ­allein im Raum wären. Aber wie soll ich Ihr Selbstgespräch analysieren, wenn ich nicht zugegen bin?«

»Mir würde es bestimmt leichter fallen, mit mir selbst zu reden, wenn ich allein wäre. Ich bin etwas gehemmt, wenn Sie mir bei meinen Selbstgesprächen zuhören.«

»Und woher soll ich dann wissen, was Sie mit sich reden?«

»Ich könnte es Ihnen später erzählen. Zumindest sinngemäß.«

»Ich weiß nicht …«, sagt der Wissenschaftler nachdenklich und setzt seine Brille wieder auf.

»Oder fragen Sie den Staat. Der hört mich seit Jahren ab. Vielleicht schickt der Ihnen seine Aufzeichnungen. Ach nee. Der zeichnet mich ja erst seit neuestem auf.«

»Oder wir machen es so …« Der Wissenschaftler blickt mich über die Brillenränder hinweg an. »Wir könnten heimlich ein Mikrofon in diesem Raum verstecken, und ich lasse Sie anschließend allein und höre nebenan alles mit, was Sie so reden.«

»Gute Idee!«, sage ich.

»Vorausgesetzt, Sie empfinden das nicht als unhöflich …«

»Solange Sie mich nicht heimlich abhören …«

»Und wenn ich Sie allein lasse, ist das für Sie in Ordnung? Nicht, dass Sie glauben, ich sei ein lausiger Gastgeber.«

»Nein, nein.«

»Okay. Dann gehe ich jetzt in den Raum nebenan.«

Wenig später sitze ich allein im Raum. Der Wissenschaftler meldet sich aus einem Lautsprecher an der Zimmerdecke:

»So, Herr Fitz. Dann reden Sie mal mit sich selbst. Ich bin ganz Ohr.«

»Was soll ich denn reden?«, frage ich.

»Das überlasse ich Ihnen. Aber es sollte etwas sein, aus dem ich Rückschlüsse ziehen kann«, antwortet der Wissenschaftler.

»99 Luftballons auf ihrem Weg zum Horizont.«

»Wie bitte?«

»99 Luftballons auf ihrem Weg zum Horizont.«

»Ach, Mist, jetzt haben Sie es wiederholt. Dann kann ich es leider nicht als Selbstgespräch anerkennen. Bei Selbstgesprächen wiederholt man den Satz auf Nachfrage nicht. Sondern man fühlt sich ertappt und antwortet peinlich berührt ›Och nichts‹. Haben Sie noch einen anderen Satz in petto?«

»Das ist aber alles kompliziert. Ich weiß nicht, ob ich gleich noch einmal mit mir reden kann.«

»Lassen Sie sich Zeit. Reden Sie einfach, wenn Sie so weit sind.«

Ich denke scharf nach, nehme alle Kraft zusammen und sage:

»Ich möchte dir so nah sein, wie dir der Heilige Geist nah ist.«

»Das haben Sie aus einem Lied von Jon Bon Jovi.«

»Ging mir gerade durch den Kopf.«

»Auch die Melodie?«

»Ja.«

»Dann zählt das nicht. Lieder sind keine Selbstgespräche.«

»Auch nicht, wenn ich sie ins Deutsche übersetze?«

»Auch dann nicht.«

»Ich hatte doch keine Melodie im Ohr. Habe mich getäuscht.«

»Das sagen Sie jetzt nur aus Faulheit.«

»Nein, nein.«

»Na gut. Dann will ich Ihnen mal glauben.«

»Und was sagt das jetzt über mich aus?«

»Dass Sie Lieder von Bon Jovi brabbeln und ins Deutsche übersetzen? Nichts Gutes.«

»Das habe ich befürchtet.«

»Lassen Sie mich mal nachsehen, welche Sätze wir jetzt haben. Also: ›Ich weiß nicht, das fühlt sich irgendwie seltsam an‹, ›Ich habe nur laut gedacht‹, ›Muss ich mal nachdenken‹, ›Ich möchte dir so nah sein, wie dir der Heilige Geist nah ist‹. Und natürlich ›Busen sind ja auch so eine Sache‹.«

»Busen sind ja auch so eine Sache? Das habe ich nie gesagt.«

»Ich meine schon.«

»Ich bin mir sicher: nein.«

»Steht hier aber.«

»Dann muss ich es vergessen haben.«

Er murmelt etwas Unverständliches.

»Und?«, frage ich vorsichtig.

»Einen Moment, bitte. Ich lasse Ihre Sätze gerade durch die Software laufen.«

»Bin schon ganz aufgeregt. Was wohl herauskommen mag?«

»So«, sagt er nach wenigen Sekunden. »Sie haben zwanzig Punkte.«

»Zwanzig Punkte?«

»Zwanzig Punkte.«

»Ist das gut?«

»Kommt drauf an, aus welcher Perspektive.«

»Aus meiner?«

»Aus Ihrer Perspektive ist es nicht so gut.«

»Wenn ich gefragt werde, wer ich bin, antworte ich also: Ich bin zwanzig Punkte?«

»Nein. Sie antworten, dass Sie zwanzig Punkte haben!«

»Kann man das in Eigenschaften übersetzen?«

»Nein. Sie haben zwanzig Punkte. Punkt.«

»Also einundzwanzig?«

»Nein, den letzten Punkt meinte ich als Ausrufezeichen.«

Ich denke kurz nach, dann frage ich:

»Kann man es vielleicht auch so formulieren: Ziemlich viele Menschen wären froh, wenn sie nicht wie ich wären?«

Er denkt kurz nach und sagt:

»Ja, so könnte man es sagen.«

»Kann ich das Ergebnis schriftlich haben?«

»Sie bekommen von uns natürlich eine UiuiuiSiemöchteichliebernichtsein-Urkunde.«

»Was steht da drauf?«

»Uiuiui, Sie möchte ich lieber nicht sein.«

»Dann kann man also sagen, dass ich niemand bin, auf den ich stolz sein kann?«

»Das auf jeden Fall. Hat Sie das Ergebnis überrascht?«

»Nicht wirklich.«

»Dann wären wir fertig.«

»Und was kostet mich der Spaß?«

»Ist bereits erledigt. Während Sie herausgefunden haben, wer Sie wirklich sind, haben wir Ihre Wohnung ausgeräumt.«

»Da war nur ein Sessel drin.«

»Und ein paar Mikrofone.«

Feder.tif

Als ich endlich vor die Haustür trete, traue ich meinen ­Augen kaum: eine Fußgängerampel! Ich drücke brav den Knopf und warte auf Grün. Keine Ahnung, was ich auf der anderen Straßenseite soll, aber wer eine Fußgängerampel sieht und nicht die Seite wechselt – der hat kein Herz.

Während ich warte und warte, tritt eine alte Dame in wallendem Gewand und mit Kopftuch an mich heran.

»Na, junger Mann?«, begrüßt sie mich mit knarzender Stimme. »Wie wäre es mit einem Blick in die Zukunft?«

Das Tuch rutscht ihr fast über die Augen, sie muss ihren Kopf weit in den Nacken legen, um noch unter dem Stück Stoff hervorzulugen.

»Können Sie nicht reden, oder was?«, raunzt sie mich an. »Was nu? Blick in die Zukunft oder nicht?«

»Nicht«, antworte ich verschüchtert.

»Dann verschwinden Sie gefälligst! Blockieren Sie nicht länger meinen Hellseherstand.«

Ich mache tatsächlich einen Schritt von ihr weg, besinne mich aber eines Kämpferischeren und mache wieder den Schritt zurück.

»Das ist kein Hellseherstand«, sage ich so entschlossen, wie es mir möglich ist. »Das ist eine Fußgängerampel. Ich warte hier auf Grün, weil ich auf die andere Straßenseite möchte. Ich darf das. Ich zahle Steuern und habe das Recht, alle Ampeln dieses Staates zu benutzen. Warum arbeiten Sie nicht auf dem Jahrmarkt?«

»Jahrmarkt! Jahrmarkt!«, zetert sie. »Sehe ich aus wie ­eine Jahrmarkt-Hellseherin? Noch so eine Beleidigung, und ich verwandele Sie in eine Kröte! Ich bin Fußgängerampel-Hellseherin! Warten Sie woanders auf Grün. Sie verschrecken meine Kunden.«

Um meinen guten Willen zu beweisen, trete ich einen Schritt zur Seite.

»Weiter!«, befiehlt sie streng.

»Nein! Gehen Sie doch woandershin.«

»Ich denke gar nicht dran, ich war zuerst hier.«

Ich ignoriere die Frau und starre auf die Ampel auf der anderen Straßenseite.

»Na?« Sie lässt einfach nicht locker. »Wollen Sie die Warte­zeit nicht nutzen, um sich von mir in die Zukunft blicken zu lassen?«

»Nein, danke.«

»Kann dauern, bis es grün wird …«

»Ich hab’s nicht eilig.«

»Wer weiß?«, sagt sie geheimnisvoll. »Vielleicht wird die Ampel ja nie grün! Wenn Sie sichergehen wollen: Ich kann voraussagen, ob sie je wieder grün wird.«

»Mein Vertrauen in Fußgängerampeln ist grenzenlos«, antworte ich.

»Das haben schon viele Passanten gedacht. Und am Ende haben sie es bereut. Sind alle verhungert. Und zwar hier. An dieser Ampel. Da, wo Sie jetzt stehen.«

»Und warum haben Sie sie nicht gefüttert? Sie haben doch gesehen, dass die Menschen verhungern.«

»Ich hatte denen ja vorhergesagt, dass sie hier verhungern würden. Ich bin doch nicht blöd und torpediere meine eigenen Prophezeiungen.«

Sie deutet auf einen kleinen Haufen Asche neben mir.

»Das da sind noch die Überreste des letzten Passanten.«

Ich besehe die Asche genauer.

»Das ist Zigarettenasche«, antworte ich. »Die Kippe liegt ja noch daneben.«

»Pfff.« Sie hebt den Zigarettenstummel mit spitzen Fingern auf und schluckt ihn runter. »Jetzt ist es nicht mehr ganz so offensichtlich.«

»Ist die Ampel denn kaputt?«, frage ich.

»Aha! Jetzt schwindet Ihr Vertrauen in die Ampel doch, was?«

Dann beugt sie sich vor und raunt hinter vorgehaltener Hand: »Vielleicht ist die Ampel verflucht? Und wird nicht grün, sondern blau? Was dann, kleiner Mann?«

Sie sieht mich herausfordernd an. Ihr Blick driftet immer wieder ins Irre ab. Ich zucke mit den Achseln.

»Jaha!«, ruft sie. »Das bringt einem keine Fahrschule bei! Damit lässt man den Verkehrsteilnehmer schön allein. Aber Banken retten – dafür ist Geld da!«

Ich tue unbeeindruckt, und sie legt nach:

»Oder Sie werden zum Frosch, sobald Sie die Straße betreten. Wer weiß?«

»Jede Straßenüberquerung birgt ein gewisses Restrisiko.«

»Ich könnte Ihnen all Ihre Fragen beantworten. Aber Sie wollen ja nicht. Oder doch? Na? Vielleicht doch ein Blickchen in die Zukunft? Los, seien Sie kein Frosch … Also, noch nicht.«

»Sie schüren meine Ängste, um meine Unsicherheit kommerziell auszubeuten.«

»Pff!«, antwortet sie gelassen. »Machen Sie doch, was Sie wollen. Ich zwinge Sie zu nichts.«

Sie summt betont uninteressiert eine Melodie, aber ich komme zum Verrecken nicht drauf, welche.

»Was summen Sie da?«, frage ich die Wahrsagerin.

»Zehn Euro, und ich verrate es Ihnen.«

»Sie sind ein Monster.«

»Ich muss auch von etwas leben.«

Dann schlackert sie mit den Armen wie ein gelangweiltes Kind. Die Ampel zeigt eisern Rot.

»Haben Sie Kinder?«, fragt sie unvermittelt.

»Nein.«

»Eine Oma?«

»Ja.«

»Wäre doch schade, wenn der etwas passieren würde, oder?«

»Wie meinen Sie das?«

»Och, nur so.«

»Wollen Sie mich erpressen?«

»Nein, ich möchte Ihre Oma beschützen«, antwortet die Wahrsagerin betont unschuldig. »Nicht, dass irgendjemand die Frau in einen Frosch verwandelt. Es passieren so merkwürdige Dinge heutzutage. Vor allem unter Senioren …«

»Versuchen Sie es jetzt mit Schutzgelderpressung?«

»Ich? Nein.«

»Wenn ich mir von Ihnen nicht die Zukunft lesen lasse, verwandeln Sie meine Oma in eine Kröte?«

»Ich doch nicht! Aber man hört ja so viel. Ständig werden irgendwo Seniorinnen in Frösche verwandelt. Da könnte es vielleicht von Vorteil sein, jemanden zu kennen, der das verhindern kann. Jemanden wie mich. Aber das müssen Sie entscheiden. Ich mein ja nur …«

»Ich werde Sie wegen Erpressung anzeigen.«

»Glauben Sie, das kauft Ihnen einer ab? Wie klingt das denn?« Die Wahrsagerin äfft meine Stimme nach: »Die alte Frau da erpresst mich, die will meine Oma in einen Frosch verwandeln, nur weil ich sie nicht in die Zukunft blicken lasse.«

Dann spricht sie mit normaler Stimme weiter.

»Ich bitte Sie …«

»Bestimmt können Sie Omas gar nicht in Frösche verwandeln.«

»Wollen Sie mich provozieren?«

»Sie bluffen nur.«

»Okay, Sie haben recht. Aber das wissen Sie nicht von mir.«

»Wann wird es bloß endlich grün?«, frage ich verzweifelt.

»Hihi.«

»Warum lachen Sie?«

»Nur so.«

»Haben Sie die Ampel verzaubert?«

»Wer weiß?«

»Na gut«, gebe ich genervt nach. »Wie viel kostet mich der Blick in die Zukunft?«

»Zehn Euro.«

»Zehn Euro? So viel ist mein ganzes restliches Leben nicht wert. Da warte ich lieber noch ein bisschen. Wenn es innerhalb der nächsten fünf Minuten nicht grün wird, komme ich vielleicht auf Ihr Angebot zurück. Können Sie mir die Vorhersage bis dahin zurücklegen?«

»Dann kostet sie zwanzig Euro.«

Mir fehlen die Worte.

»Aber eine Information gebe ich Ihnen kostenlos. In den nächsten drei Stunden wird es nicht grün. Haben Sie noch Einkäufe zu erledigen? Dann kommen Sie später wieder.«

»Vielleicht gehe ich auch einfach bei Rot.«

»Uiuiui«, sagt die Wahrsagerin unheilschwanger. »Das würde ich nicht tun. Sehr gefährlich.«

»Aber die Straße ist kaum befahren.«

»Sehen Sie das parkende Auto da drüben? Der Fahrer hat es auf Sie abgesehen. Der wartet nur darauf, dass er Sie überfahren kann.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe gestern in seine Zukunft geblickt.«

»Und diese Info geben Sie mir kostenlos?«

»Kleines Einführungsangebot, um Sie anzufüttern.«

»Wahrscheinlich stecken Sie mit dem Autofahrer unter einer Decke.«

»Wer weiß?«, raunt sie geheimnisvoll. »Für zehn Euro ­sage ich es Ihnen.«

»Der Wagen parkt so weit weg – bis der losgefahren ist, bin ich längst auf der anderen Seite. Das Risiko gehe ich ein.«

»Mein Kaffeesatz hat mir außerdem verraten, dass Sie angezeigt werden, falls Sie bei Rot über die Straße gehen. Und eine Strafe zahlen, die weit höher ist als zehn Euro.«

Ich blicke ihr resigniert in die Augen.

»Sie zeigen mich an, oder?«

»Zehn Euro, und ich sag es Ihnen.«

»Ich weiß es auch so.«

»Sind Sie auch Hellseher?«

»Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als mir von Ihnen die Zukunft vorhersagen zu lassen.«

»Sieht so aus. Hähä.«

In diesem Augenblick springt die Ampel auf Grün.

»Oh, grün«, stelle ich freudig fest. »Auf Wiedersehen.«

Ich gehe los.

»SCHEISSE. Nur eine Sekunde. Nur eine einzige Sekunde!«, schimpft die Wahrsagerin hinter mir. Aber ihre Stimme wird leiser und leiser. Und ich denke mir: Es gibt diese seltenen Momente im Leben, in denen ich tatsächlich mal Glück habe.

Feder.tif

Als ich die andere Straßenseite erreiche, fällt mir das Praxisschild eines gewissen Emil Schöppke, Zahnarzt, ins Auge. Beim Zahnarzt war ich lange nicht mehr, und da ich nichts Besseres vorhabe, beschließe ich, mal einen Blick auf meine Zähne werfen zu lassen.

Die Dame am Empfang schickt mich gar nicht erst ins Wartezimmer, sondern gleich in den Behandlungsraum. Offensichtlich handelt es sich auch bei dem Zahnarzt wieder um einen inkompetenten Vertreter seines Fachs. Für diese Spezies habe ich wohl ein Näschen.

Herr Schöppke und seine Helferin erwarten mich bereits. Ich kann es nicht beschwören, aber ich nehme eine ungute Atmosphäre wahr, als hinge der Praxissegen schief.

Ich setze mich in den Zahnarztstuhl, und Zahnarzt Schöppke fragt, wann ich das letzte Mal beim Zahnarzt war.

»Noch nie«, antworte ich.

»Oh. Na gut, dann machen Sie mal den Mund auf.«

»Dann machen Sie mal den Mund auf«, äfft ihn seine ­Assistentin nach, und er schenkt ihr einen bösen Blick.

Zahnarzt Schöppke zieht seinen Mundschutz hoch – bis über die Nase.

»Warum machen Sie das?«, frage ich.

»Mache ich immer«, antwortet Zahnarzt Schöppke. »Routine.«

»Routine!«, äfft ihn seine Assistentin erneut nach und verdreht die Augen. Herr Schöppke schenkt ihr einen bösen Blick, und sie antwortet mit einer verächtlichen Grimasse, die nicht weit vom Zungeherausstrecken entfernt ist.

»Der Mundschutz beleidigt mich aber«, sage ich. »Ich fühle mich vorverurteilt. Sie tragen das Ding doch nur, weil Sie annehmen, dass ich aus dem Mund stinke.«

In diesem Augenblick sticht mir Herr Schöppke eine Spritze in den Oberarm. Erstaunt blicke ich auf die Einstichstelle, dann auf Herrn Schöppke, mache den Mund auf, sage nichts, mache den Mund wieder zu, schaue auf meinen Arm, dann auf Herrn Schöppke, mache wieder den Mund auf, und diesmal perlen die Worte heraus:

»Haben Sie mich gerade betäubt?«

»Ja«, antwortet Herr Schöppke.

»Warum?«, frage ich.

»Weil Sie so einen Mist reden. Das ertrage ich nicht länger.«

»Ich habe ja kaum mehr als einen Satz gesagt.«

»Und schon ertrage ich es nicht mehr. Sehen Sie mal.«

»Sie haben mir aber eine ziemlich geringe Dosis verabreicht, oder?«

»Zwei mal drei Zentimeter auf Ihrem Oberarm sind betäubt.«

»Aber die taube Stelle hindert mich nicht daran, Mist zu reden.«

»Sehen Sie es als Warnbetäubung. Soll ich Ihnen noch eine stärkere Dosis in den Körper jagen, oder können wir anfangen?«

»Wir können anfangen. Aber für das Protokoll: Ein Zahnarzt sollte zuerst an seinem Patienten riechen, bevor er ­olfaktorische Schutzmaßnahmen ergreift. Danach kann er immer noch die Maske aufsetzen. Vorher sollte er jedoch noch eine zweite Meinung einholen. Kann ja jeder kommen und behaupten, ich stinke.«

»Es geht mir weniger um den Geruch als um Viren. Ich möchte mir bei Ihnen nichts einfangen.«

»Es geht mir weniger um den Geruch als um Viren!« Das war wieder seine Assistentin. Wieder hat sie ihn nachgeäfft.

Ich kann den Konflikt nicht länger ignorieren.

»Stimmt irgendetwas zwischen Ihnen beiden nicht?«, frage ich vorsichtig.

»Das geht Sie nichts an«, antwortet die Zahnarzthelferin.

Da hat sie natürlich recht. Ich lehne mich zurück und öffne meinen Mund.

»Gut, Herr Fitz«, sagt Zahnarzt Schöppke, nachdem er sich einen ersten Überblick über den Zustand meiner Zähne verschafft hat. »Dann mal ran an die Beißerchen.«

»Muss viel gemacht werden?«

»Alles. Im Prinzip sind alle Zähne im Arsch, wenn ich es so salopp ausdrücken darf. Ich würde aber heute gern nur die Vorderzähne anpacken. Vorderzähne kann ich am besten. Backenzähne sind nicht so meine Stärke. Das muss ich selbstkritisch zugeben. Aber die laufen einem ja nicht weg. Haha.«

Ich nicke zustimmend mit weit aufgesperrtem Mund.

»Die Behandlung kann allerdings ziemlich weh tun. Ich werde Sie lieber betäuben, wenn Ihnen das recht ist. Diesmal aber nicht am Oberarm, sondern im Mund. Haha. Wollen Sie vor der Betäubung eine Betäubung?«

»Hä?«, frage ich verdutzt.

»Der Stich der Betäubungsnadel tut auch weh. Ich empfehle Ihnen deshalb vorher eine Betäubung.«

»Aha. Und … äh … die Vorbetäubung tut nicht weh?«

»Doch, auch. Wollen Sie vor der auch noch eine Betäubung?« Er sieht mich mit großen Augen fragend an.

»Wie viele Betäubungen vor einer Betäubung sind denn möglich?«

»Theoretisch endlos viele. Aber irgendwann verkraftet der menschliche Körper den Wirkstoff nicht mehr. Der eine klappt früher zusammen, der andere später. Kann man pauschal jetzt nicht sagen.«

»Wie ist es mit … sagen wir … drei Spritzen?«

»Müsste ein Mann in Ihrem Alter eigentlich wegstecken.«

»Eigentlich?«

»Eigentlich. Gibt solche und solche. Wie gesagt: pauschal schwer zu beurteilen.«

»Bei wie vielen Spritzen liegt der Rekord?«

»Vierundzwanzig.«

»Hat der Patient das überlebt?«

»Ach, Herr Fitz. Sie wissen ja, wie das ist: Wo fängt Leben an, wo hört es auf, nicht wahr?«

»Verachten Sie mich, wenn ich nur drei Spritzen nehme?«

»I wo. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen am Schluss auch noch eine Spritze geben, die rückwirkend den Schmerz der ersten ungeschehen macht.«

»Das geht?«

»Nun ja. Genau genommen sorgt das Mittel dafür, dass Sie sich nicht mehr an den ersten Schmerz erinnern können. Ist von der Wirkung her ähnlich. Aber vor allem sehen Sie mich in einem freundlicheren Licht.«

»Dann machen wir es so.«

Als Zahnarzt Schöppke eine halbe Stunde später die Arbeiten an meinen Vorderzähnen beendet, bin ich wahnsinnig vor Schmerzen. Keine der 16 Betäubungen hat gewirkt, ich hatte sogar das Gefühl, sie hätten die Schmerzen noch verstärkt. Vielleicht sind die Betäubungsspritzen vor den Betäubungsspritzen auch nur eine Erfindung der Betäubungs­mittelindustrie.

»So, Herr Fitz. Das hätten wir. Hat’s weh getan?«

»Nein. Gar nicht. Die Betäubung hat toll funktioniert«, lüge ich lächelnd mit Tränen in den Augen.

»Sie wirkten etwas verkrampft. Wie Sie die Beine und die Arme gekrümmt haben. Wie ein kleiner, süßer Käfer auf dem Rücken.«

»Während Sie meine Zähne gemacht haben, habe ich die Zeit für Workout genutzt.«

»Sie können es ruhig zugeben, Herr Fitz. Hat weh getan, oder? Teilen Sie Ihren Schmerz. Das hilft!«

Von wegen, denke ich. Der Kerl will sich an meinem Schmerz aufgeilen. Aber den Gefallen tue ich ihm nicht.

»Nein, es hat überhaupt nicht weh getan. Ein super Betäu­bungsmittel haben Sie da. Verraten Sie mir den Namen?«

»Ich kann Ihnen nachher gern eine Probe mitgeben. Ist auch im Alltag eine schöne Sache. Man gerät ja ständig in Situationen, in denen man gern betäubt sein möchte. Und Alkohol schmeckt nicht jedem.«

Zahnarzt Schöppke rollt auf seinem Stuhl ein Stück nach hinten.

Ich nicke und warte darauf, dass er die Lehne des Behandlungsstuhls wieder hochfährt.

»Die nächsten zwei Stunden mal bitte nichts essen.«

»Stimmt doch gar nicht!«, schaltet sich die Zahnarzthelferin ein. »Lassen Sie sich von dem Quacksalber nichts erzählen, Herr Fitz. Sie können sofort essen.«

Die beiden funkeln sich böse an.

»Das ist doch Unsinn«, entgegnet Zahnarzt Schöppke. »Der Patient darf bis zwei Stunden nach der Behandlung nichts essen. Sonst geht der Zahn gleich wieder kaputt. Und betäubt ist der Mund auch noch.«

»Der Patient darf sofort wieder essen!«, beharrt die Hel­ferin. »Der neue Beton ist sofort hart. Ohne Wartezeit. Und Ihr Betäubungsmittel ist ein Placebo.«

»Ist es gar nicht.«

»Ist es doch.«

»Der Patient hatte keinerlei Schmerzen.«

»Das hat er so behauptet, um Ihnen nicht den Triumph zu gönnen!«

»Der Patient muss warten, zwei Stunden lang.«

»Sie kennen sich mit den neuen Materialien überhaupt nicht aus. Das mit den zwei Stunden sagen Sie nur, weil Sie es seit dreißig Jahren sagen. Sie sind zu verbohrt, um die Zeichen der Zeit zu erkennen.«

Ich verfolge das Streitgespräch so interessiert wie angespannt. Normalerweise fliehe ich, sobald sich in meiner Gegenwart zwei Menschen streiten, weil das meine Nerven nicht aushalten, aber in diesem Fall geht es um meine Zähne – und da interessiert mich der Ausgang der Diskussion.

»Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, dass Sie mich nicht vor den Patienten belehren sollen?«, rügt der Zahnarzt seine Assistentin.

»Und wie oft soll ich Ihnen noch sagen: Bleiben Sie auf dem aktuellen Stand der Medizin!«, hält sie ihm entgegen. »Der Patient darf sofort wieder essen. Ist so!«

»Ist gar nicht so.«

»Ist doch so.«

»Wissen Sie was?«, mische ich mich ein. »Ich kann ja zur Sicherheit einfach zwei Stunden warten, bevor ich wieder esse. Dann gehen wir auf Nummer sicher. So hungrig bin ich zum Glück noch nicht.«

»Hat jemand die Null gewählt?«, schimpft Zahnarzt Schöppke. »Sie halten sich da gefälligst raus, Herr Fitz! Wenn es einer im Raum überhaupt nicht beurteilen kann, dann ja wohl Sie.«

Er rotzt verächtlich in das Spülbecken.

»So, so, der Herr will also zwei Stunden warten?«, greift mich nun auch die Helferin an. »Traut dem Herrn Zahnarzt wohl mehr als mir, was?«

Die beiden haben einen gemeinsamen Feind gefunden: mich. Das schweißt sie zusammen.

»Ich … ich dachte nur: Wenn Sie sich nicht einig sind, k-kann ich ja auf Nummer sicher gehen und einfach zwei Stunden nichts essen.« Kleinlaut würge ich noch ein »Oder?« heraus.

»Stehen Sie etwa auf der Seite von Zahnarzt Schöppke?«, fragt die Helferin drohend.

Ich stammele etwas auch für mich Unverständliches. Kein Wunder, ich weiß auch gar nicht, was ich sagen soll.

»Es ist ja wohl keine Frage, dass Sie mir, dem studierten Mediziner, mehr vertrauen als einer Zahnarzthelferin.«

»Oh!«, sagt sie pikiert. »Jetzt spielen wir wieder die Bildungskarte aus. Ich scheiße auf Ihr Medizinstudium, Herr Doktor!«

»Ach ja? Wenn mein Medizinstudium nicht wäre, wo hätten Sie denn die letzten Jahre gearbeitet?«

»Ich … ich gehe dann mal weiter, ich muss noch die Welt bereisen und Tauben vergrämen«, sage ich kleinlaut und versuche mich aus dem Stuhl zu winden.

»Vorher essen Sie noch etwas! Und zwar sofort!«, keift die Helferin. »Und zwar diese Mohrrübe!« Sie hält mir eine ­Karotte vor die Nase.

»Aber …«, wende ich ein, doch Zahnarzt Schöppke unterbricht mich.

»Wenn Sie in diese Mohrrübe beißen, können Sie sich für Ihre Backenzähne einen anderen Zahnarzt suchen!«

Ich verrate ihm nicht, dass ich das ohnehin vorhatte.

»Keine Angst, Herr Fitz«, sagt die Zahnarzthelferin. »Ich kenne eine Reihe von Zahnärzten, die deutlich besser sind als der Typ hier.«

»Ich möchte nach Hause, lassen Sie mich bitte aus dem Stuhl …«, winsele ich.

»Erst beißen Sie in diese Mohrrübe!«

»Und wenn die Zähne kaputtgehen?«, frage ich sie.

»Die gehen nicht kaputt«, sagt die Zahnarzthelferin.

»Aber …«, wende ich ein.

»Die gehen nicht kaputt«, wiederholt sie etwas schärfer.

»Wenn die Zähne kaputtgehen«, schaltet sich Zahnarzt Schöppke ein, »dann mache ich Ihnen keine neuen.«

Er verschränkt beleidigt die Arme vor der Brust und dreht sich auf seinem Stuhl weg.

»Los, beißen Sie in diese Karotte!« Die Helferin drückt mir die Mohrrübe gegen den geschlossenen Mund.

»Iff habe aber mehr Lufft auf Marmelade«, presse ich he­r­aus.

»Sie beißen jetzt in diese Karotte!«, fordert sie unerbittlich.

»Können Sie die Möhre für mich vorkauen?«, wende ich mich verzweifelt an Dr. Schöppke.

»Sie beißen jetzt in die Karotte!«

»Ich helfe Ihnen nicht!«, antwortet Zahnarzt Schöppke beleidigt.

»Karotten lutsch ich ja lieber«, presse ich heraus.

»Sie beißen jetzt in diese Karotte!«

Ich habe schließlich doch in die Karotte gebissen. Wenn ich die Wahl zwischen zwei Verhaltensweisen habe, wähle ich die, die mir größeren Schaden zufügt. Meine Vorderzähne haben es erwartungsgemäß nicht überstanden. Nun stehe ich im ungemütlichen Herbstwetter auf dem Gehweg vor der Zahnarztpraxis und lächele unglücklich. Wo einst meine Schneidezähne waren, prangt eine Lücke. Das sieht zwar nicht besonders schön aus, aber seien wir mal ehrlich: Nasenlöcher sind auch nicht hübsch, und darüber regt sich auch niemand auf. Dabei kann man die nur schwer verdecken, man hat gleich zwei von der Sorte und es wachsen Haare raus. Meine Zahnlücke hingegen ist unbewachsen. Noch. Denn spontan kommt mir die Idee, sie ein bisschen zu begrünen. Vielleicht Vergissmeinnicht. Dental Gardening könnte der nächste Trend werden.

Ich gehe in das nächste Blumengeschäft.

»Sehen Sie meine Zahnlücke?«, frage ich die Verkäuferin.

»Ja«, antwortet sie.

»Ich würde sie gern ein bisschen begrünen. Was können Sie mir empfehlen?«

»So ist das richtig, der Herr! Immer positiv denken! Wenn das Leben dir Zitronen gibt, mach Limonade draus.«

»Hä?«

»Wenn man eine Zahnlücke hat, nicht dem nächsten Zahn­arzt das Geld in den Rachen schmeißen, sondern der nächsten Blumenverkäuferin.«

»Eben. Zumal ich die Lücke auch dem Zahnarzt zu verdanken habe. Beziehungsweise seiner Zahnarzthelferin. Sie müssen wissen: Die mochte mich nicht.«

»Die kann mit Menschen wie Ihnen vielleicht einfach nicht umgehen.«

»Mit Menschen wie mir?«, frage ich interessiert. »Was bin ich denn für ein Mensch?«

»Na, ein positiver! Nicht so ein schlechtgelaunter Miese­peter wie viele andere! ›Hast du eine Zahnlücke, lächele nicht weniger, sondern bepflanze sie!‹ Das ist der richtige Geist!«

»Das sagen Sie nur, weil Sie mir Blümchen verkaufen möchten.«

Sie sieht mich an und sagt:

»Okay, ich nehme mein Loblied auf Ihre Person wieder zurück. Wäre ich Zahnarzthelferin, würde ich auch versuchen, Sie zu schädigen.«

»Das war aber ein schneller Meinungsumschwung.«

»Ich habe Sie plötzlich durchschaut.«

»Das heißt, Sie empfehlen mir jetzt kein ­Vergissmeinnicht, um meine Zähne zu begrünen, sondern giftige Pilze?«

»Ich habe ein paar da. Wollen Sie? Macht sich sicherlich gut.«

»Ich glaube, ich kaufe mir lieber Brötchen.«

Feder.tif

Eine kurze Inventur meines Körpers:

1. Meine Nase ist gebrochen, vermutlich mehrfach.

2. In der oberen Zahnreihe klafft eine Lücke.

Aber so ist das eben: Wer ein neues Leben beginnt, zahlt erst einmal Lehrgeld. Da läuft nicht gleich alles glatt. Das Schicksal nimmt keine Rücksicht auf dich, nur weil du sagst: »Wenn ich jetzt ganz anders lebe, dann wird alles gut.« Sonst würden das ja alle machen. Ich muss mit mir selbst Geduld haben. Gestern noch Mensch A mit Sorgen und Problemen, heute Mensch B mit eitel Sonnenschein? So zu denken wäre doch etwas naiv. An mein neues Leben muss ich mich erst einmal gewöhnen. Oder mein neues ­Leben sich an mich. Mal gucken, wer den ersten Schritt macht.

Der größte Unterschied zu meinem Leben in der Einsamkeit: Verletzungen werden mir jetzt nicht mehr von mir selbst zugefügt, sondern von anderen. Das ist doch schon ein Fortschritt. Denn an anderen Menschen kann ich mich rächen. Da wird einem nicht langweilig. Natürlich könnte ich mich auch an mir selbst rächen – aber wie sieht das denn aus?

Um ehrlich zu sein: Ich werde ganz gern schlecht behandelt. Ich liebe es, wenn Wut in mir aufsteigt und alles in mir nach Rache schreit. Dann weiß ich: auch nicht weiter.

Die Frage ist nicht, ob ich schlecht behandelt werde, sondern wie schlecht. Ich halte es vor Spannung kaum aus, als ich die Bäckerei betrete.

Meinen ersten Eindrücken nach begegnet die Verkäuferin allen Kunden ausnehmend freundlich. Sie lächelt, scherzt und zeigt sich von ihrer charmantesten Seite. Die Chancen, unfreundlich behandelt zu werden, stehen schlecht. Doch als ich schließlich an der Reihe bin, kommt es, wie es kommen muss: Die Dame hinter dem Tresen schaltet von einem Moment auf den anderen auf »angepisst«.

»Und was wollen Sie?«, fragt sie mich auf die denkbar unfreundlichste Weise.

»Warum sind Sie so unfreundlich?«, frage ich die Verkäuferin.

»Servicewüste. Also? Brot? Brötchen?«

»Zu den Kunden vor mir waren Sie aber freundlich.«

»Und zu den Kunden nach Ihnen werde ich es auch wieder sein.«

»Ich habe ja nichts dagegen, dass Sie mich schlecht behandeln. Aber dann möchte ich auch, dass Sie alle Kunden nach mir schlecht behandeln. Sonst nehme ich das persönlich.«

»Dann machen Sie das! Soll ich Ihnen zeigen, wie ich die Kunden nach Ihnen behandele? Passen Sie mal auf.«

Sie setzt wieder ihr strahlendes Lächeln auf und wendet sich an den jungen Mann hinter mir.

»Hallo, junger Herr. Was kann ich für Sie tun?«

Dann fällt ihr das Lächeln aus dem Gesicht, und sie sieht mich wieder grimmig an.

»Sehen Sie?«

»Das ist gemein.«

»Aber ich kann noch besser.«

»Ja?«

»Ja. Ich kann Sie bis Ladenschluss ignorieren.«

»Das wagen Sie nicht.«

Bei Ladenschluss bin ich der letzte Kunde in der Bäckerei.

»Sie sind ja immer noch da«, motzt die Bäckerin und ­reinigt ihre Fingernägel mit dem Brotmesser.

»Sie haben mir nicht zu viel versprochen«, sage ich. »Sie waren tatsächlich zu allen Kunden freundlich, außer zu mir.«

»Habe ich’s nicht gesagt?«

»Ich frage mich nur: Warum?«

»Was weiß ich. Wie man in den Wald ruft, so schallt es zurück.«

»Aber ich bin nett und freundlich zu Ihnen.«

»Sie sind aber auch ein schlechter Rufer. Ich würde auf jemanden wie mich anders reagieren, das können Sie glauben.«

»Ich dachte mir, ich erobere vielleicht noch Ihr Herz.«

»Dann erobern Sie mal. Aber eins sage ich Ihnen jetzt schon: Das wird nichts.«

»Was habe ich Ihnen denn getan?«

»Nichts. Muss an Ihrer Physiognomie liegen.«

»Davon habe ich schon mal gehört«, sage ich interessiert. »Es gibt Menschen, die muss man nur sehen, schon mag man sie nicht. George W. Bush zum Beispiel wird von vielen Menschen aufgrund bestimmter äußerlicher Merkmale abgeleh…«

»Gehen Sie jetzt. Wir schließen.«

»Ein Junggesellenbrot, bitte.«

»Sie sollen gehen.«

»Ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass es nur mein Gesicht ist. Da ist noch mehr. Irgendetwas nehmen Sie mir übel. Verraten Sie mir doch, was ich Ihnen getan habe. Vielleicht kann ich es abstellen!«

Sie spielt gedankenverloren an ihrem Brotmesser herum.

»Na gut!« Sie hebt den Kopf und sieht mir scharf in die Augen. »Sie kaufen gerade zum ersten Mal bei mir ein. Und das in Ihrem Alter. Wo waren Sie all die Jahre zuvor?«

»Zu Hause«, antworte ich zaghaft. »Ich habe meine Wohnung nie verlassen.«

»Na toll. Und jetzt kommen Sie angeschissen. Ich sage es Ihnen mal ganz deutlich: Sie sind der schlechteste Kunde, den ich je hatte. Wahrscheinlich boykottieren Sie mich. Sie wollen, dass ich schließen muss, damit hier ein ›New Yorker‹-Shop einzieht.«

»Warum sollte ich wollen, dass hier ein ›New Yorker‹-Shop einzieht?«

»Was weiß ich? Um sich die kleinen Mädchen anzusehen, Sie krankes Schwein.«

Sie tippt mir über den Verkaufstresen hinweg mit dem Zeigefinger auf die Brust und betont jedes einzelne Wort:

»Wenn-alle-Kunden-wie-Sie-wären-würde-ich-nicht-mit-einem-Lächeln-für-jeden-meine-Backwaren-verkaufen.«

»Für jeden außer für mich«, stelle ich klar.

»Und jetzt verpissen Sie sich und kommen Sie nie wieder.«

»Ich möchte gern Stammkunde werden.«

»Dafür ist es zu spät. Mein Großvater hat immer gesagt: ›Wer einmal nicht kommt, dem glaubt man nicht. Und wenn er sich noch so einen abbricht.‹ Das haben Sie sich selbst zuzuschreiben. Und jetzt gehen Sie!«

Feder.tif

Seit zehn Minuten stehe ich fassungslos auf dem Bürgersteig vor der Bäckerei. Die Verkäuferin hat den Laden abgeschlossen und ist nach Hause gegangen, nicht ohne mich vorher noch zu treten. Dann ist sie weit genug weg, dass ich den Mut finde, aus vollem Hals zu brüllen:

»Rachäääää!«

Ein Auto hält direkt neben mir. Der Fahrer kurbelt das Beifahrerfenster herunter und fragt:

»Alles okay?«

»Nein, ich bin voller Hass und Rachegelüste.«

»Oha. Aber doch nicht gegen mich?«

»Noch nicht. Sondern gegen die Bäckerin.«

Ich deute mit einer Geste auf die Bäckerei hinter mir.

»Was hat sie Ihnen denn getan?«

»Mich wie Dreck behandelt.«

»Das müssen Sie nicht persönlich nehmen.«

»Sie hat nur mich wie Dreck behandelt.«

»Das müssen Sie persönlich nehmen. Entschuldigen Sie mich. Die Pflicht ruft.«

Mit diesen Worten fährt er auf und davon. Ohne ein Wort des Abschieds.

Und wieder brülle ich: »RACHÄÄÄÄÄÄ!«

Aber so leicht wie die Bäckerin kommt er mir nicht davon. Ich habe gelernt und bin nicht länger bereit, die Dinge auf sich beruhen zu lassen. Ich springe in das nächstbeste Taxi und fordere den Fahrer auf, die Verfolgung des Wagens aufzunehmen.

Der Taxifahrer gibt Gas, holt den Wagen nach wenigen Sekunden ein und drängt ihn von der Straße. Das Auto knallt ungebremst gegen einen Brückenpfeiler.

»So, da wär’ ma«, sagt der Taxifahrer.

»Ich kann für Sie nur hoffen, dass der Mann noch lebt«, sage ich vorwurfsvoll. »Sonst gebe ich Ihnen eine schlechte Bewertung in der Taxi-App. War Kurzstrecke, gell?«

Der Taxifahrer murrt, ich bezahle vier Euro und steige aus. Trinkgeld gebe ich keins. Stattdessen winke ich dem davonfahrenden Taxi hinterher. Ein kleiner Beitrag zu mehr Freundlichkeit im menschlichen Miteinander.

Das von der Straße gedrängte Auto ist ein Wrack. Mit Gewalt öffne ich die Fahrertür, die durch die verzogene Karosserie verklemmt ist. Zwischen Sitz und Lenkrad eingequetscht, stöhnt der Fahrer: »Warum?«

»Was denn warum?«, frage ich.

»Warum haben Sie das getan?«

»Rache. Außerdem habe ich noch ein paar Fragen.«

»Rufen Sie den Notarzt«, stöhnt er.

»Mir schien, Sie kennen sich mit Rache ganz gut aus?«

»Wie bitte?«, antwortet er schwach. »Sprechen Sie mir bitte ins andere Ohr. In das hier hat sich der Blinker gebohrt.«

»Ob Sie sich mit Rache auskennen …«, wiederhole ich lauter ins andere Ohr.

»Ja.« Er spuckt einen Zahn aus. »Einigermaßen.«

»Dann können Sie mir vielleicht helfen. Und zwar möchte ich mich an der Bäckerin rächen, von der ich Ihnen eben erzählt habe. Aber ich habe riesige Angst, dass ich etwas falsch mache, ich bin in diesen zwischenmenschlichen Emotionen nicht so gut«, füge ich hinzu.

»Merkt man gar nicht.«

»Können Sie mir sagen, worauf man bei Rache besonders achten muss?«

»Wichtig … wichtig ist vor allem, dass Sie sich für Ihre Rache Zeit nehmen. Viel Zeit. Wirkungsvolle Rache geht nicht husch, husch. Finden Sie in aller Ruhe heraus, was den Berächten am meisten schmerzt. Suchen Sie seine Schwachstellen.«

Er pult sich eine Scherbe aus dem rechten Auge.

»Ist dieses ›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹ noch ­aktuell?«, frage ich nach.

»Nein. Diese Zeiten sind längst vorbei. Sie ahnen ja nicht, wie viele kranke Schweine es auf der Welt gibt. Wenn Sie denen antun, was die Ihnen angetan haben, merken die entweder gar nichts oder freuen sich nur. Viele von denen sind randvoll mit Medikamenten und haben keinerlei Gefühle mehr. Oder haben sie sich in einem Seminar abtrainiert. Ein Beispiel: Wenn ich Ihnen auf die Nase haue, dann tut Ihnen das weh. Wenn Sie aber mir auf die Nase hauen, dann finde ich das geil und freue mich wie ein Schneekönig.«

»Verstehe«, sage ich nachdenklich.

»Man hat heutzutage so schnell jemandem eine Freude gemacht, obwohl man ihm eigentlich nur so richtig eine reinwürgen wollte«, fährt der schwerverletzte Rache-Experte fort. »Wie oft ich mich in meinem Leben schon verrächt habe. Ich kann Ihnen sagen. Es gibt nichts Frustrierenderes, als wenn sich Ihr Feind von Herzen bei Ihnen bedankt.«

»Aber wie ist das, wenn jemand so unsympathisch ist wie ich und permanent wie der letzte Dreck behandelt wird – der kommt doch im Leben zu nichts anderem mehr als zu Rache.«

»Sie meinen, bis Sie sich an einer Person gerächt haben, müssen Sie sich schon an zehn weiteren rächen?«

»Genau! Das wächst mir doch über den Kopf. Und dann: Zack! Burn-out. Habe ich mich überrächt.«

»Da gibt’s nur eins …«

»Sagen Sie jetzt nicht: lernen zu vergeben.«

»Um Gottes willen! Nein!«, ruft er entsetzt. »Vergeben heißt im Endeffekt nur, seine Wut runterzuschlucken. Das wäre Gift für jemanden wie Sie, der ständig einstecken muss und der auch noch nachtragend ist. Nein, nein, es geht nicht ohne Rache. Aber Sie müssen sich zwischendurch Pausen gönnen. Eine Auszeit. Sourcen Sie die ein oder andere Vergeltungsmaßnahme out. An einen Dienstleister. Oder in Ihrem Fall besser gleich an eine ganze Armee von Dienstleistern.«

»Ich befürchte nur, dass die mich ebenfalls nicht gut behandeln werden. Und dann muss ich mich an denen auch wieder rächen.«

»Hm, guter Punkt«, sagt der Racheberater nachdenklich.

»Ich finde es schade, dass Rache so ein schlechtes Image hat. Kaum rächt man sich, heißt es gleich: ›Pfui! Wie kleingeistig.‹ Wenn man sich nicht alles gefallen lässt, ist man sofort Persona non grata.«

»Aber das dürfen Sie doch nicht ernst nehmen. Warum jemand Rache diskreditiert, liegt doch auf der Hand. Der hat Angst davor, dass man sich an ihm rächt. Weil er andere per se schlecht behandelt. Davon darf man sich nicht stören lassen. Wissen Sie, was ich mache? Ich räche mich einfach an allen, die behaupten, Rache wäre kleingeistig.«

»Ist das dann noch Rache?«, frage ich nachdenklich. »Ist das nicht schon Verfolgungswahn?«

»Nein, das ist ›cleverer rächen‹. Wer behauptet, Rache sei stillos, macht sich in meinen Augen verdächtig. Der will mir etwas antun und versucht deshalb, mir die Rache schon vorher auszureden. Weil er Angst vor meiner Retourkutsche hat.«

»Und was soll ich tun, wenn ich mich an jemandem aus dem Internet rächen möchte? Den ich gar nicht kenne, der mich anonym anfeindet?«

»Das Internet!«, ruft er laut aus. »Was das schon an ­Rachegelüsten in mir geweckt hat! Wunderbar! Es gibt mittlerweile mehr mir völlig unbekannte Menschen, an denen ich mich rächen möchte, als mir bekannte. Das ist das Großartigste überhaupt: auf jemanden wütend sein, von dem man gar nicht weiß, ob er wirklich existiert!«

Er blickt versonnen auf seinen dreifach gebrochenen rechten Arm, dann fügt er hinzu:

»Ich wollte mich sogar schon einmal an Donald Duck rächen. Und jetzt quält mich die Frage, ob ich mich jemals an Ihnen rächen kann.«

»Sie wollen sich an mir rächen?«

»Wenn ich diesen Unfall überlebe: ja.«

»Aber ich war das nicht, das war der Taxifahrer.«

»Haben Sie zufällig sein Kennzeichen aufgeschrieben?«

»Nein.«

»Rufen Sie den Krankenwagen?«

»Nein.«

»Dann werde ich mich auch an Ihnen rächen.«

»Wegen unterlassener Hilfeleistung?«

»Genau.«

»Das ist Selbstjustiz. Pfui!«