26.11.2033

Nein, ich habe nicht geschlafen. Ich bin die ganze Nacht grübelnd durch Berlin gezogen.

Da landet plötzlich eine Taube vor mir.

»Vergräm mich, du Sau!«, fordert sie nachdrücklich.

»Warum sollte ich?«, frage ich die Taube.

»Frag nicht nach dem Warum. Nutze den Augenblick! Ich bin eine Taube, du bist ein Taubenvergrämer. Mach!«

»Ich vergräme dich doch nicht ohne Grund.«

»Wie? Muss ich erst schädlich werden, damit du eingreifst?«

»Besser wär’s.«

»Okay. Dann komme ich später wieder.«

Die Taube flattert davon, und ich hänge wieder meinen ­Gedanken nach. Da fällt mir im Schaufenster eines Foto­ladens ein Schild ins Auge: »Paarfotos im Sonderangebot«. Das klingt toll. Ich betrete den Laden und sage zum Verkäufer:

»Guten Tag, ich möchte ein Paarfoto machen lassen.«

»Und wo ist Ihr Partner?«, fragt er.

»Ich bin alleinstehend. Ich dachte mir, ich nehme Sie mit aufs Bild.«

»Das ist aber nett. Ich wollte schon immer mal mit einem Kunden aufs Foto. Wenn die Kunden nur nicht so bockig wären. Nie darf ich mit auf das Bild. Wissen Sie, was die mir sagen, wenn ich förmlich darum bettele, mit ihnen foto­grafiert zu werden? Ich sei ihnen, jetzt halten Sie sich fest: ›zu fremd‹.«

»Die Angst vor Überfremdung auf Paarfotos hat zweifellos zugenommen.«

»Ist das zu glauben? Sind wir wieder so weit in Deutschland?«

»Ich besitze auch eine Kamera mit Selbstauslöser. Sehr modernes Teil. Mit Internetzugang und allem Pipapo. Sagt man das heute noch? Pipapo?«

»Nein. Heute heißt es Schnickschnack.«

»Aber die Kamera beunruhigt mich. Ich habe eine Heidenangst, dass sie sich von selbst auslöst, während ich gerade etwas Schweinisches tue. Und dann lädt sie das Bild automatisch ins Internet hoch. Man weiß doch, wozu moderne Technik heutzutage imstande ist. Die ist wie losgelassen. Mit diesen Logarithmen und so.«

»Die machen mit einem, was sie wollen!«

»Auf der Nase tanzen sie einem herum! Auf der Nase!«

»Sagen Sie: Muss es unbedingt ein Paarfoto sein? Meine Schwiegermutter wollte auch immer mal mit auf ein Foto. Wäre Ihnen ein Dreierfoto recht?«

»Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, aber das Foto wird mir dann doch etwas zu voll.«

»Sie würde sich auch nur im Hintergrund herumdrücken. Wie zufällig.«

»Trotzdem. Aber sollte ich irgendwann mal das Bedürfnis nach einem Dreierfoto verspüren, komme ich vorbei, und Sie photoshoppen mir die alte Zausel nachträglich rein.«

»Ich kann kein Photoshop.«

»Dann bilde ich mir die dritte Person einfach ein. Ich kann mir gut einbilden, dass jemand da ist, der nicht da ist.«

»Ist ja auch leichter, als sich jemanden wegzudenken.«

»Oder zu denken: Der eine ist eigentlich ein anderer.«

»Beantworten Sie mir eine Frage zu Marktforschungs­zwecken?«

»Nur wenn die Antwort nein lautet.«

»Das kann ich noch nicht sagen. Das hängt von Ihnen ab.«

»Und wenn meine Antwort nicht nein lautet?«

»Ziehe ich die Frage wieder zurück.«

»Dann raus mit der Sprache.«

»Warum möchten Sie ausgerechnet mich mit auf dem ­Foto haben?«

»Nein.«

»Puh, da haben wir ja noch einmal Glück gehabt.«

»Ich fühle mich so allein, da hätte ich gern ein Foto, auf dem mir jemand nah ist. Auf das gucke ich dann einfach, wenn es mir mal wieder seelisch nicht gutgeht, und kann mir einreden: Wenigstens habe ich den Kerl!«

»Und wenn Sie meines Anblicks in ein paar Jahren überdrüssig sind?«

»Daran habe ich noch gar nicht gedacht.«

»Oder Sie sehen sich das Foto eines Tages an und denken: ›Ach, der Typ da neben mir, der hat sich ja nur aus Mitleid mit mir fotografieren lassen. Eigentlich sind wir gar kein Paar.‹«

»Sie deprimieren mich.«

»Tut mir leid. Aber der Gesetzgeber zwingt mich, Sie auf die möglichen Folgen eines Paarfotos hinzuweisen. Paarfotos können traurig machen. Das darf man nie vergessen.«

Aufgebracht erwidere ich:

»Sagen Sie dem Gesetzgeber, er kann mich mal. Der soll sich um seine Angelegenheiten kümmern. Ich kann immer noch selbst entscheiden, ob ich mir etwas vormachen will oder nicht.«

»Und dass wir beide nicht gerade die Schönsten sind? Das stört Sie auch nicht? Jeden Tag auf zwei Fratzen zu starren wird bestimmt nicht einfach für Sie. Das ist kein Zuckerschlecken. Heißt es eigentlich noch Zuckerschlecken?«

»Nein, es heißt Bubble-Tea-Suckeln.«

»Kommen wir zur Sache. Also, was nun? Paarfoto oder nicht?«

»Von mir aus.«

»Haben Sie besondere Wünsche?«

»Ich hätte gern, dass wir uns lasziv räkeln.«

»Von mir aus.«

»Ach nee, lieber doch nicht. Ich glaube, ich bin dafür zu gehemmt.«

»Hätten Sie das nicht früher sagen können? Jetzt habe ich schon meine Hose ausgezogen.«

»Ist bestimmt ziemlich demütigend für Sie.«

»Das ist mir egal. Ist nur lästig, mich zu bücken, um die Hose wieder hochzuziehen.«

»Dann lassen wir das mit dem Paarfoto lieber. Ist mir eh zu teuer.«

»Ich habe Ihnen den Preis ja noch gar nicht genannt.«

»Ach, heute ist doch alles zu teuer.«

»Ich wünschte, wir hätten dieses Gespräch nie geführt. Kann ich noch etwas für Sie tun?«

»Ich hätte gerne zweihundert Gramm zufällige Fotos. Egal von wem.«

»Aber gern. Darf es etwas mehr sein?«

»Ja, zweihundertein Gramm. Aber das ist mein letztes Wort.«

Feder.tif

Einkaufen liegt mir einfach nicht. Sowohl an Brötchen als auch an Paarfotos habe ich mir die Zähne ausgebissen. Aber ich lasse mich nicht entmutigen. Vielleicht muss ich beim Einkaufen so tun, als wäre ich ein anderer.

»Womit kann ich dienen?«, fragt mich die Metzgerin.

»Geben Sie Napoleon mal hundertfünfzig Gramm Pfeffersalami«, antworte ich.

»Welchem Napoleon?«

»Na, mir.«

»Sie sind nicht Napoleon.«

»Sondern?«

»Keine Ahnung. Aber nicht Napoleon. Oder welchen ­Napoleon meinen Sie?«

»Den französischen Kaiser.«

»Nein. Den würde ich erkennen, wenn er mir gegenübersteht. Der ist nämlich tot.«

»Und ob ich Napoleon bin. Gucken Sie hier: mein Hüftschwung. Oh yeah.«

Ich kreise mit meiner Hüfte.

»Das ist nicht Napoleons Hüftschwung. Das ist Elvis’ Hüft­schwung. Napoleon hat nie seine Hüfte geschwungen.«

»Das weiß ich ja wohl besser als Sie. Bin schließlich Napoleon. Hier, schauen Sie, wie ich meine Hüfte schwinge. Wie Napoleon.«

Ich schwinge meine Hüfte erneut.

»Ich weiß gar nicht, warum ich mich überhaupt auf diese Diskussion einlasse«, sagt die Metzgerin genervt.

»Weil Sie es mir nicht gönnen, Napoleon zu sein. Sie sind neidisch, weil ich ein berühmter Feldherr bin und Sie eine Wurstwarenfachverkäuferin.«

»Napoleon hatte auch keine Tolle.« Sie deutet auf meine Haare.

»Ich habe eine Tolle?« Überrascht kontrolliere ich mein Spiegelbild in der Scheibe der Wurstauslage. »Sie haben recht! Keine Ahnung, wo die herkommt. Gestern hatte ich die noch nicht.«

»Napoleon würde sich schämen, so etwas zu tragen.«

»Was haben Sie gegen meine Frisur?«

»Nichts. Ich habe etwas dagegen, dass Sie glauben, Napoleon zu sein. Sie sind Elvis. Elvis! Elvis! Elvis!«

»Bin ich nicht.«

»Sind Sie doch! Finden Sie sich damit ab!«

»Na, gut«, lenke ich ein. »Dann geben Sie Elvis mal zweihundertfünfzig Gramm Schinken.«

»Das ist kein Schinken. Das ist Michael Jackson.«

»Ich wünschte, wir hätten das Gespräch nie begonnen.«

Feder.tif

Keine Ahnung, warum mir die Dame nicht gönnt, Napoleon zu sein. Kann ihr doch egal sein, wer ich bin. Wenn es mir Freude macht, kann sie sich doch einfach mitfreuen. Dass sich Menschen so schwer damit tun, anderen ihren Spaß zu gönnen. Immer klarstellen, was aus ihrer Sicht die Wahrheit ist.

Würde ich sie fragen, warum sie so reagiert, würde sie wahrscheinlich antworten, dass sie es nur gut meint. Dass sie mich davor beschützen möchte, Napoleon zu sein. Der Mann genießt ja nicht gerade den besten Ruf. Und die Metzgerin denkt sich bestimmt, dass ich es leichter haben werde, wenn ich Elvis bin.

Aber selbst wenn ich zweifelsfrei beweisen könnte, Napo­leon zu sein, würde ich es nicht tun. Dazu bin ich zu bescheiden. Meine Erziehung verbietet mir, mein Kaisertum hinauszuposaunen. Ich würde meine Bekanntheit auch nicht ausnutzen, um ein paar Prozente Extra-Rabatt im Baumarkt zu erfeilschen. Es gibt schon genug Wichtigtuer, die glauben, etwas Besonderes zu sein, nur weil sie vermeintlich wichtige Posten bekleiden. Wer bin ich denn? Doch auch nur ein französischer Feldherr, der versucht, aus seinen Minderwertigkeitskomplexen das Beste zu machen.

Nächste Woche werde ich übrigens Russland erobern. ­Habe das ungute Gefühl, es gehört gar nicht mir. Ständig höre ich in den Nachrichten »Putin, Putin, Putin«.

Natürlich werde ich bei meinem Feldzug sehr einfühlsam vorgehen. So bescheiden und zurückhaltend, wie es eben meine Art ist. Grenzenlose Demut ist mein treuer Begleiter. Quadratmeter für Quadratmeter werde ich Russland einnehmen, dabei aber auf Brandschatzungen und Vergewaltigungen verzichten, denn das liegt mir einfach nicht. Ich will nicht angeben, aber wenn man schon besiegt wird, ist es eine große Gnade, von mir besiegt zu werden.

Ich verstehe Menschen nicht, die bei einem Sieg förmlich ausrasten und vor Freude brüllen wie die Stiere. Nur weil man gewonnen hat, muss man doch kein Aufsehen erregen. Mir wäre das peinlich. Wenn ich Meistertrainer wäre, würde ich die Klappe halten und meinen Spielern das Feiern und Jubeln verbieten. Man kann sich doch auch im Stillen freuen. Diese Losgelassenheit muss doch nicht sein. Nur weil man jemanden besiegt hat. Der hat doch auch Gefühle.

Aber Sie haben recht: Zunächst einmal muss ich Russland besiegen. Das wird schwer genug. Man darf heutzutage keinen Gegner mehr unterschätzen.