Venedig, Herbst 1931
»Es ist wunderschön«, sagte Frederike und räkelte sich auf dem Bett. Durch die Terrassentür konnte man auf einen der Kanäle sehen, auf dem die Gondeln schaukelten. »Ich hätte nicht gedacht, dass es wirklich so ist.«
Rudolph lachte. »Alle Klischees erfüllt?«
»Kommt auf das Essen heute Abend an.« Sie zwinkerte ihm zu. »Das gestrige wird kaum zu übertreffen sein.«
»Ich habe einen Tisch in einem kleinen Restaurant reservieren lassen. Allerdings müssen wir über den Canal Grande.«
»Mit der Gondel?«, fragte Frederike entzückt.
Rudolph lachte auf. »Ja. Das macht dir Spaß, oder?«
»Ich finde es wundervoll. Die letzten zwei Tage waren die schönsten meines Lebens!«
Rudolph ging zum Tisch, schenkte sich einen Drink ein. Er wirkte plötzlich ernst.
»Hoffentlich treffen wir niemanden, den wir kennen«, sagte er leise.
Frederike setzte sich auf. »Wäre es so schlimm, wenn wir jemanden treffen? Wir können doch erzählen, dass auch wir uns zufällig getroffen haben. Niemand muss wissen, dass wir zusammen hier sind.«
»Einmal mag das vielleicht gehen.« Er seufzte. »Gerüchte irgendwelcher Art wären nicht gerade förderlich, zumal meine Familie immer mehr Druck macht.«
»Druck?«
Rudolph sah sie an. »Ja. Das ist doch nicht neu. Ich soll endlich heiraten und einen Erben zeugen.«
Frederike ließ sich zurück auf das Bett fallen. »Ach so«, sagte sie trocken. »Dann musst du das wohl machen.«
»Freddy!« Rudolph klang entsetzt. »Du weißt, dass das nicht geht. Ich liebe dich. Ich will dich heiraten, Kinder mit dir haben.«
»Ich bin verheiratet, Rudolph.«
»Lass dich endlich scheiden. Bitte! Wo ist Ax jetzt? Am Toten Meer? In Davos? Oder ist er etwa auf Sobotka? Wie oft war er in den letzten Jahren auf dem Gut?«
»Ach, Rudolph. Jetzt ist er noch am Toten Meer.«
»Bitte trenne dich endlich von diesem Mann. Was hält dich noch bei ihm?«
»Das Eheversprechen«, sagte Frederike und zog die leichte Decke über ihren nackten Körper. Plötzlich fröstelte sie.
»Eine Ehe, die keine ist und noch nie eine war. Warum befreist du dich nicht von diesen Fesseln? Ich verstehe es nicht.«
»Würde ich mich scheiden lassen, Rudolph, könnte ich dich nicht heiraten – das würde deine Familie nicht zulassen, und in der Tiefe deines Herzens weißt du das auch.«
»Ich würde es einfach tun!« Rudolph trank wütend sein Glas aus, schenkte sich noch mal nach.
»Wir haben darüber gesprochen, weißt du noch? Damals, als ich das erste Mal nach Hauptberge gekommen bin. Damals waren wir uns einig, dass dies eine rein private Sache ist – nur zwischen uns – und dass es eine Affäre bleiben wird. Bis zu dem Punkt, an dem einer von uns beiden nicht mehr will oder du heiratest. Erinnerst du dich?«
»Ja, ich erinnere mich. Du kamst aus Davos und warst ganz aufgelöst. Freddy, das ist ein Jahr her.« Er setzte sich zu ihr auf das Bett, nahm ihre Hand, küsste jeden ihrer Finger. »Ich liebe dich«, murmelte er. »Ich liebe dich so sehr.«
Frederike schloss die Augen. Damals war sie voller Verzweiflung nach Schlesien gefahren und hatte Rudolph auf seinem Gut besucht. Sie war verletzt, bis in Mark getroffen vom Verhalten ihres Mannes. Sie suchte Trost, Liebe und Leidenschaft – alles fand sie bei Rudolph. Er war liebevoll, zärtlich, fast schon übervorsichtig, als er erfuhr, dass Ax die Ehe nie vollzogen hatte. Es gab Mittel und Wege, eine ungewollte Schwangerschaft zu verhüten, sicher waren sie aber nicht. Dieses Damoklesschwert schwebte seitdem immer über ihnen.
Treffen konnten sie sich nur selten. Mal ein paar Tage auf Sobotka, die sie gemeinsam verbrachten, dann ein Besuch auf Hauptberge, den sich Frederike irgendwie erschummelte, indem sie Pflichten beiseiteschob. Hin und wieder trafen sie sich auch in Berlin. Dies war ihr erster gemeinsamer Urlaub. Es würde wohl auch ihr letzter sein, dachte Frederike und wurde traurig.
»Du weißt, dass ich dich auch liebe«, sagte Frederike und entzog ihm ihre Hand. Sie stand auf, nahm den Morgenrock und zog ihn an. Dann schenkte sie sich auch einen Drink ein und setzte sich auf den Sessel am Fenster. »Aber du weißt auch, dass ich mich nicht scheiden lassen kann. Natürlich«, sagte sie und nippte an dem Drink, »könnte ich es rein rechtlich. Und danach könnte ich dich heiraten. Aber das tut man nicht – nicht, wenn man aus unserer Gesellschaftsschicht stammt. Scheiden lässt sich das Bürgertum vielleicht oder das Proletariat, aber ›wir‹ – wir tun es nicht. Liebschaften, so wie die unsrige, werden verschwiegen und irgendwie geduldet. Akzeptiert werden sie nur selten – obwohl ich Fälle kenne, wo die Geliebte mit dem Mann zu Anlässen eingeladen wird statt die Ehefrau, die nur auf dem Papier noch die Gemahlin ist.« Sie sah Rudolph an, er hatte den Kopf gesenkt. »Dennoch ist das etwas, was mir widerstrebt. Sollte ich mich scheiden lassen, wäre es ein viel schlimmeres Stigma als eine Affäre. Das weißt du genauso gut wie ich.«
»Wir würden es gemeinsam durchstehen.«
»Die Dreckwäsche, die bei einem solchen Prozess gewaschen werden würde, wäre meine, nicht deine. Ich würde im Fokus des Klatsches stehen. Und nicht nur ich – meine Familie ebenso. Ich habe drei noch unverheiratete Schwestern, deren Chance, einen vernünftigen Mann abzubekommen, ins Bodenlose sinken würden – und das, obwohl sie eine gute Mitgift haben.« Frederike schüttelte den Kopf. »Das kann ich ihnen nicht antun. Die Schande würde sie verfolgen. Und selbst wenn doch – wir würden heiraten … niemand würde zu unserer Hochzeit kommen.«
»Na und?«
»Niemand würde uns mehr einladen und mit uns verkehren wollen.«
»Selbst wenn.« Rudolph hatte die Stirn in Falten gezogen. »Was interessieren uns andere, wenn wir endlich zusammenleben könnten. Möchtest du das nicht? Immer neben mir aufwachen und einschlafen? Ein gemeinsames Leben führen, statt sich immer nur heimlich zu treffen? Bist du es nicht auch leid?«
»Ja, ich finde es furchtbar, und nein, mich interessiert es nicht, was andere Leute denken.«
»Dann mach es, Freddy.« Er stand auf, kam zu ihr, legte seine Hände auf ihre Schultern und sah sie an. »Mach es, lass dich scheiden, Freddy. Dann heiraten wir.« Er lächelte sanft. »Bitte.«
»Mich interessiert nicht, was andere Leute über mich sagen, aber was wäre mit unseren Kindern?« Freddy erwiderte seinen Blick. Sie lächelte nicht. »Unsere Kinder wären von Geburt an Außenseiter. Einfach nur deshalb, weil ihre Mutter geschieden ist. Du weißt, dass das stimmt.«
»Verdammt.« Rudolph drehte sich um, lief durch das Zimmer. »Verdammt.« Er blieb stehen, sah sie an. »Liebst du mich eigentlich?«
Für einen Moment schockierte Frederike die Frage. Sie schnappte nach Luft, musste an sich halten. Dann stand sie auf, ging zu Rudolph, nahm ihn in die Arme, drückte ihn an sich. Sie roch den Duft seiner Haut, der Seife und ein wenig den der salzigen Lagunenluft, die sich überall niederzuschlagen schien. Sie spürte seinen Herzschlag, die Hufe eines galoppierenden Pferdes auf einem Feld. Sie genoss seine Wärme, die sie zu umarmen schien. Sein Atem an ihrem Hals, seine Lippen auf ihrer Haut.
»Mein Gott, Freddy, ich liebe dich so sehr«, murmelte er.
»Ich liebe dich.«
»Dann lass es uns tun, lass uns heiraten.«
Frederike schüttelte den Kopf. Noch ein letztes Mal drückte sie ihn an sich, sog seinen Duft ein. Dann wandte sie sich ab. »Es geht nicht. Was, Rudolph, was würde mit den Kindern?«
»Und wenn wir keine hätten? Bisher haben wir es doch auch vermieden.«
»Dann könnten wir auch so weitermachen. Deine Familie möchte einen Erben, und sie hat recht.«
Rudolph senkte den Kopf. »Wie kannst du das ertragen? Aushalten?«
»Ich habe keine Wahl, mein Liebster.«
»Aber …«
»Nein, es gibt kein Aber … ich genieße die Zeit mit dir, jeden Moment, jede Sekunde. Ich bin mit dem Menschen, der mir am nächsten steht, in dieser wundervollen Stadt. Was morgen oder nächste Woche ist, weiß ich nicht. Aber heute ist heute, und heute sind wir hier. Wir lieben uns. Es ist schön, zusammen zu sein, in dieser traumhaften Stadt zu sein … essen zu gehen, mit der Gondel zu fahren – all diese Dinge vergehen, sie sind ein Windhauch im Wald des Lebens. Aber die Erinnerungen bleiben mir. Wenn ich auch sonst nichts haben werde – diese Erinnerungen nimmt mir keiner. Niemals.«
»Es ist so verrückt. Wir sind füreinander bestimmt, lieben uns … aber wir können nicht zusammen sein.« Rudolphs Stimme brach.
»Wir sind zusammen. Hier und jetzt.«
»Das reicht nicht für ein ganzes Leben. Schön für dich, wenn es dir genügt, aber ich möchte mehr. Ich möchte dich zu meiner Frau machen, offiziell. Ich möchte mit dir den Tag verbringen, mit dir leben. Neben dir aufwachen und an dich gekuschelt einschlafen. Ich möchte mit dir ausgehen, ohne dass wir uns erklären müssen. Ich möchte Kinder mit dir, ganze Scharen von Kindern. Nicht nur, um einen Erben zu haben, aber auch deshalb. Doch wenn wir jetzt ein Kind bekommen würden, würde es Sobotka erben und rechtlich wäre Ax sein Vater. Ich würde es hassen, daran kaputtgehen.«
»Es stimmt alles, was du sagst«, meinte Frederike leise. »Und wir können nicht länger so weitermachen.«
»Trenn dich, bitte trenn dich von ihm. Lass dich scheiden. Die Zeiten ändern sich. In zehn Jahren wird alles anders sein. Daran glaube ich fest.«
»Wegen der Nationalsozialisten? Das kann durchaus sein. Aber ob es sich zum Besseren wendet?«
»Verdammt, Freddy, dies ist kein Gespräch über Politik, es geht um uns. Um uns beide und um unsere Zukunft.«
»Dabei passieren gerade so viele Dinge in Deutschland, die uns viel mehr beschäftigen sollten. Die Weltwirtschaftskrise, der Machtzuwachs der Braunen.«
Rudolph wandte sich ab, schüttelte den Kopf. »Diese Dinge sind wichtig, und sie sind schwierig. Aber es geht doch hier um uns«, murmelte er.
»Schatz.« Frederike ging zu ihm, doch er drehte sich weg. Sie legte dennoch ihre Arme um ihn, schmiegte ihren Kopf an seinen Rücken. »Ich liebe dich. Ich liebe dich mehr, als ich jemals jemanden bisher geliebt habe. Alles mit dir ist wunderschön. Die Zeit, die wir zusammen verbringen, Liebe mit dir zu machen, die Welt mit dir zu entdecken. Es ist traumhaft.« Sie schluckte. »Und tatsächlich ist es ein Traum, den wir uns erschaffen haben – fernab der Realität.« Wieder hielt sie inne. »So sehr ich es mir wünsche, aber es gibt für uns kein gemeinsames Leben. Das wird es nicht geben, solange ich verheiratet bin, und ich werde mich nicht scheiden lassen.«
»Was wird dann aus uns?« Rudolph drehte sich um, schlang die Arme um sie. »Was ist mit uns?«
»Etwas Wunderschönes, aber leider nicht die Realität.« Frederike schüttelte den Kopf. »Jedenfalls nichts, was wir so weiterführen können.«
»Du willst dich trennen?«
Frederike seufzte. »Nein, das will ich nicht, es bricht mir das Herz, aber wir haben keine Wahl. Deine Familie hat recht – du solltest heiraten und Kinder zeugen. Du verdienst es, glücklich zu werden.«
»Ich bin mit dir glücklich.«
»Es sind nur Momente, Rudolph. Nur kurze Momente. Sie sind so voller Glück, wie manche es in einem ganzen Leben haben. Kurz, aber intensiv. Und ich bin so froh, dass ich das erleben durfte.«
»Was ist, wenn Ax stirbt?«
Frederike sah ihn entsetzt an. »Diesen Gedanken erlaube ich mir nicht. Ich bin immer noch mit ihm verheiratet, und ich wünsche ihm, dass er gesund wird.«
Rudolph ging zum Sessel, ließ sich fallen und seufzte tief. »Ich kann das nicht glauben, Freddy. Du kannst doch nicht alles, was zwischen uns ist, hinschmeißen.«
»Vor mehr als einem Jahr, als ich zu dir nach Hauptberge kam, da hatten wir ein Gespräch. Ich habe dir gesagt, dass ich immer noch Ax’ Frau bin und bleiben werde, solange er lebt. Du hast das in Kauf genommen, denn das war Voraussetzung für uns …«
»Aber wir haben doch keine billige Affäre«, sagte er und klang nun wütend. »Dies hier ist viel mehr. Es ist Liebe.«
»Ja, ich weiß.« Wieder klang Frederike traurig. »Aber dennoch …«
»Was machen wir denn nun? Lass uns zusammen weggehen. Nach Amerika. Oder nach Südamerika. Nach Namibia – dort habe ich Verwandte. Lass uns zusammen weggehen und neu anfangen.«
Frederike biss sich auf die Unterlippe, sagte aber nichts mehr. Es war alles gesagt worden, und nichts änderte die Tatsachen. Sie wusste, sie musste Rudolph gehen lassen, ihn freigeben, damit er zu seinem eigenen Leben fand. Es fiel ihr unglaublich schwer, nicht nachzugeben und Hals über Kopf mit ihm wegzulaufen, aber es musste sein, ihm zuliebe.
Sie ging zu ihm, beugte sich vor und küsste ihn sanft. »Lass uns die Zeit in Venedig noch genießen. Lass uns so tun, als gäbe es kein Morgen. Lass uns hier und jetzt sein.«
»Ich weiß nicht, ob ich das schaffe«, sagte Rudolph und senkte den Kopf.
»Ich auch nicht, aber einen Versuch ist es doch wert.«
Vier Tage blieben sie noch. Sie genossen das gute Essen, den Wein, die Wärme und hatten sogar Spaß an den Tauben auf dem Markusplatz. Sie ließen sich von den Gondolieri durch die großen und kleinen Kanäle fahren, lauschten ihren Liedern. Es war eine wundervolle Zeit, sie lachten viel, liebten sich, genossen die Nähe. Über die Zukunft sprachen sie nie wieder. Am Ende der Woche fuhren sie nach Padua und von dort aus mit dem Nachtzug nach München. Dort trennten sich ihre Wege. Frederike fuhr weiter nach Posen, Rudolph in Richtung Berlin.
Sie verabschiedeten sich mit einem Kuss, einem langen, weichen, warmen und sehnsüchtigen Kuss. Ohne es ausgesprochen zu haben, wussten beide, dass dies ein endgültiger Abschied war.