Kapitel 25

Sobotka, Februar 1933

Es schneite wieder, und Frederike zog die dicke Drillichhose und die gefütterten Stiefel an. Sie stapfte in die Küche, Lore zeigte nur auf den Eimer mit den Fleischabfällen.

»Da hasse deen Fleesch fir de Wilfe, Marjellchen«, sagte sie und verzog das Gesicht. »Awwer jern gebe ich es nich, muss ich sajen.«

»Warum, Lore?«, fragte Frederike die Köchin. Bisher hatte es keine Probleme gegeben, Abfälle für die Wölfe zu sammeln.

»Ei, wird alles immer schwerer, Marjellchen. Und dann noch Wilfe fittern?«

»Die Wölfe gab es schon vor mir auf dem Gut. Und sie werden bleiben, solange ich hier bin«, sagte Frederike und nahm den Eimer. Fortuna hatte sie in ihrem Schlafzimmer gelassen. Die Hündin war trächtig und stand kurz davor zu werfen.

»Awwer wer weiß, ob we die Fleischreste nich doch noch brochen werden«, sagte Lore und senkte den Kopf. »Menschen sin wichtijer als deene Wilfe.«

Auf dem Gut herrschte eine seltsam gedrückte Stimmung. In der letzten Woche hatte es ununterbrochen geschneit – drei Tage und Nächte. Schwerer, nasser Schnee, der die alten Bäume zum Ächzen brachte und manche schließlich fällte. Auch einige Strom- und Telefonmasten waren gebrochen. Große Schneeverwehungen versperrten die Straße nach Posen – Sobotka war wie von der Außenwelt abgeschnitten.

Seit einer Woche hatte Frederike weder eine Zeitung noch einen Brief bekommen. Sie wusste nicht, was in der Welt passierte, aber im Grunde war ihr das im Moment auch egal. Nach Gertas Hochzeit im Oktober war Frederike nach Sobotka zurückgekehrt. Sie war wieder geröntgt worden, hatte eine weitere Dosis des Schildkrötenimpfstoffs bekommen. Ihr Sputum und auch die Blutproben waren frei von lebenden Tuberkelerregern gewesen, und Doktor Kolsowski erklärte sie für geheilt. Trotzdem empfahl er eine zweite Impfung, nur um sicherzugehen. Frederike stimmte zu, fühlte sich danach jedoch schwach und krank. Obwohl sie nicht viel getan hatte, waren die Tage auf Fennhusen anstrengend gewesen. Die kleinen Geschwister wollten Zeit mit ihr verbringen, und Gerta hatte sich mehr als einmal bei Frederike ausgeweint. Es war emotional anstrengend gewesen. Frederike merkte, dass es so nicht weiterging, und auch der Doktor riet ihr zu einer weiteren Ruhephase.

»Sie sollten sich schonen, dem Impfstoff die Zeit geben, zu wirken. Anstrengung und körperliche Arbeit belasten den Körper, dabei sollte dieser gerade nur eines tun – die Erreger bekämpfen. Ich rate Ihnen, sich noch weiter zu pflegen und zu ruhen.«

Da kam Tante Edeltrauts Angebot, mit ihr ein paar Wochen auf die Kurische Nehrung zu fahren, gerade recht. Sobotka wusste Frederike mit von Aaken gut betreut und versorgt. Wieder ließ sie ihren Koffer packen, fuhr an die Ostsee. Tante Edeltraut und sie wohnten in einem kleinen Haus in einem der Dörfer an der Nehrung. Es gab ein Mädchen für alles und eine alte Köchin, die gute Hausmannskost kochte. Es war schlicht, aber sehr erholsam. Sogar die ersten Herbststürme störten Frederike nicht. Sie schlief lange und endlich wieder gut, ging viel spazieren – manchmal mit der Tante, meist aber allein. Frederike hatte sich eine mit Wachs beschichtete Pelerine und einen Lodenmantel mit einer Kapuze gekauft und konnte so dem Wetter trotzen. Außerdem hatte sie endlich einmal wieder Zeit zu lesen, saß gerne mit Tante Edeltraut am gusseisernen Ofen und trank Tee. Tante Edeltraut strickte, stickte oder stopfte, ihre Hände brauchten immer etwas zu tun. Doch sie war eine angenehme Begleitung. Ihr machte es nichts aus, einige Stunden alleine zu sein, freute sich aber über Gesellschaft, ohne dabei aufdringlich zu werden.

Die beiden hatten eine gute Zeit, und Frederike kam erfrischt und erholt nach Hause. Dort warteten schon Nachrichten aus Davos auf sie. Ax bat sie, das Weihnachtsfest mit ihm in der Schweiz zu verbringen, und auch der Professor hatte ihr geschrieben und um einen Besuch gebeten, er wollte mit ihr weitere Therapieoptionen besprechen. Frederike konnte sich jedoch nicht überwinden, nach Davos zu fahren. Sie wollte nicht mit all den Kranken konfrontiert werden, hatte Angst davor, ihre Zukunft dort zu sehen. Und außerdem wusste sie nicht, wie sie Ax gegenübertreten sollte. Sie hatte ihm nicht verziehen, dass er ohne eingehende Untersuchungen nach Hause gekommen war und alle dem Risiko einer Ansteckung ausgesetzt hatte.

Also verbrachte sie das Weihnachtsfest alleine auf Sobotka. Auch die Einladung aus Großwiesental von Thea und der Brief ihrer Mutter, die vorschlug, die Feiertage auf Fennhusen zu verbringen, schlug sie aus. Frederike wollte niemanden sehen, mit keinem sprechen. Sie haderte mit sich, mit ihrem Leben und mit Ax.

Anfang Januar, nachdem Doktor Kolsowski alle Leute und jeden, mit dem Ax auch nur irgendwie Kontakt hatte, zweimal getestet hatte, war klar, dass sich nur bei zweien der Leute Tuberkulose nachweisen ließ. Der eine war einer der Schweizer, aber seine Großmutter litt auch an Schwindsucht und mochte ihn angesteckt haben. Er hatte eine offene Tuberkulose, und der Doktor schickte ihn in Quarantäne und impfte ihn. Beim Zweiten, einem der Burschen im Haus, war die Tuberkulose noch nicht ausgebrochen, und es war nicht sicher, seit wann er die Keime schon in sich trug. Auch er wurde mit dem Impfstoff behandelt und in Quarantäne geschickt.

Diese Woche sollten neue Abstriche genommen werden, auch wieder bei Frederike.

All das ging ihr durch den Kopf, während sie zum Wolfsgehege stapfte. Der Schnee war tief und nass, sie kam nur schwer voran. Ihre Gedanken liefen im Kreis, schienen wieder Fangen zu spielen. Sie war froh, dass Ax offensichtlich niemanden außer ihr angesteckt hatte. Aber dass er sie angesteckt hatte, konnte sie ihm einfach nicht verzeihen. Es wäre etwas anderes gewesen, wenn er ihr gesagt hätte, dass er einige wichtige Tests vor seiner Heimkehr nicht absolviert hatte. Dann hätte sie die Wahl gehabt, aber so … Mehrmals hatte sie ihn gefragt, ob er auch wirklich geheilt sei, und er hatte dies bejaht, obwohl er es nicht mit Gewissheit hatte tun können.

Sie war unzufrieden mit sich und ihrem Leben. Es gab nur wenige Dinge, die ihr Freude bereiteten – die Wölfe gehörten dazu. Sie öffnete das Gatter, pfiff und rief. Dann wischte sie den Schnee von dem Baumstamm, wartete.

Valentina kam sofort, wich ihr aber aus, als sie die Fähe kraulen wollte. Sie knurrte, wirkte unruhig.

»Ranzzeit«, sagte Frederike seufzend und schüttete den Eimer mit den Essensresten aus. »Na gut, dann streitet euch eben.« Seufzend verließ sie das Gehege, blieb am Gatter stehen. Cantaloup kam, schubste Valentina zur Seite, fraß, ließ ihr aber genügend Reste. Balandine war nicht zu sehen. Frederike hatte die Leitwölfin schon einige Zeit nicht mehr entdeckt und machte sich Sorgen um sie. Die drei Jungwölfe warteten etwas entfernt nur darauf, auch etwas zu bekommen. Da die Wölfe nicht jagen mussten, weil sie alle paar Tage Futter bekamen, gab es kein großes Gerangel. Keiner war ausgehungert, auch für den Schwächsten blieb etwas übrig.

Frederike stapfte wieder zurück zum Gutshaus, ihre Stiefel waren durchnässt, als sie ankam. Victor, der Gärtner, kam ihr entgegen.

»Es taut«, sagte er und grinste. »Der Winter ist vorbei.«

»Das ist nicht dein Ernst. Meine Zehen sind quasi erfroren.« Sie setzte sich in der Diele auf einen der Stühle, zog die Stiefel aus und wackelte mit den Zehen.

»Solange Sie die Zehen noch bewegen können, ist nichts erfroren. Aber der Schnee taut. Er ist nass und klumpig, aber er taut. Ich wette, in zwei Tagen können wir wieder nach Posen.« Victor strahlte und ging zur Tür. »Und jetzt lasse ich mir Pferdedung aus dem Gestüt bringen, das ist schön warm und wird die Frühbeete auftauen.«

»Es ist zu früh für die Setzlinge«, gab Frederike zu bedenken.

»Weiß ich doch, will nur die Beete vorbereiten, Gnädigste.«

Frederike sah ihm hinterher. Mit Elan ging er durch die Tür und die Treppe hinunter. Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Er war so engagiert, es war fast ansteckend.

»Der Gärtner sagt, es taut, aber ich merk da nichts von«, sagte Minna und reichte Frederike trockene und warme Kleidung. »Ich finde diesen Winter schrecklich. Kalt, aber auch nass. Trockene Kälte mit Schnee macht mir nichts aus, aber so?«

»Kann ich verstehen«, sagte Frederike. »Hat der Verwalter zugesagt, heute Abend zum Essen zu kommen?«

»Ja, sie kommen beide.«

»Ach, wie schön. Das freut mich. Dann kommen ja wohl die Kinder auch mit.«

Minna senkte den Kopf. »Die Kinder sollen bei uns unten essen.«

»Oh.« Frederike ahnte, dass die von Aakens eine Entscheidung getroffen hatten. Sie konnte es ihnen nicht verübeln.

»Steckrübensuppe. Köstlich«, lobte Frau von Aaken. »Aber alles, was Lore kocht, ist köstlich.«

»Ja, selbst am Ende des Winters schafft sie es immer noch, leckere und abwechslungsreiche Mahlzeiten zu zaubern.«

»Gnädigste«, sagte Heinrich von Aaken leise. »Wir müssen etwas mit Ihnen besprechen.«

»Das habe ich mir schon gedacht. Sie gehen, nicht wahr?«, sagte Frederike.

»Ja«, sagte Frau von Aaken. »Wir haben lange überlegt, aber nun …«

»Ich verstehe das sehr gut. Niemals hätte ich gedacht, dass Hitler an die Macht kommt. Doch nun ist es geschehen. Es kommen schwere Zeiten auf uns zu.«

»Das war schon abzusehen, als Hindenburg von Papen absetzte und stattdessen Schleicher ernannte«, sagte von Aaken leise. »Aber nun machen wir uns wirklich Sorgen. Haben Sie ›Mein Kampf‹ gelesen?«

Frederike schüttelte den Kopf.

»Ich aber«, sagte von Aaken. »Auch wenn es nicht leicht war. Dieser Hitler ist … krank.«

»Das ist nicht zu übersehen. Ich fürchte um die Weimarer Republik.«

Ruth von Aaken seufzte. »Müssen wir darüber reden?«, fragte sie. »Wir haben es uns wirklich nicht leichtgemacht, diesen Entschluss zu treffen. Und hätten wir keine Kinder, würden wir hierbleiben. Ich habe mich noch nirgendwo so wohl gefühlt wie hier auf Sobotka.«

Frederike griff über den Tisch und drückte Ruths Hand. »Sie haben eine wichtige und richtige Entscheidung getroffen. Für sich und vor allem für Ihre Kinder. Wissen Sie schon, wann Sie gehen?«

»Danke. Ich warte auf Post von meinem Cousin«, sagte Ruth von Aaken und erwiderte Frederikes Händedruck. »Aber im Moment kommt ja keine Post durch. Wir wollen zu ihm nach Amerika. Er will meinem Mann dort eine Anstellung vermitteln. Wohnen können wir erst einmal bei ihm.«

»Es gibt so viel zu tun«, sagte von Aaken und schüttelte den Kopf. »Die Visa, Einreiseerlaubnis, wir brauchen eine Überfahrt.«

»Dann müssen wir überlegen, was wir mitnehmen und was nicht. Vielleicht können wir die Möbel verkaufen – oder zumindest einen Teil davon«, sagte sie.

»Den Rest kann ich wohl auf dem Gut meines Vaters einlagern. Wer weiß, vielleicht ist der Spuk ja bald vorbei und wir können zurückkehren«, meinte er.

»Sollte das so sein, sind Sie hier immer herzlich willkommen. Ich kann mir keinen besseren Verwalter vorstellen.«

»Ich habe Ihnen gegenüber ein schlechtes Gewissen. Sie haben so viel für meine Familie und mich getan. So viel. Und jetzt lassen wir Sie einfach im Stich.«

Frederike lehnte sich zurück, sah ihn an. »Ich bin dankbar, dass Sie hier waren und sich um das Gut gekümmert haben. Aber die Sicherheit der Familie geht immer vor. Und Ihre Familie ist jetzt gefährdet. Leider habe ich keine Kontakte ins Ausland und kann Ihnen auch nicht helfen.«

Frans kam und räumte die Suppe ab, brachte dann den Hauptgang.

»Was sagt denn Ihre Familie dazu, dass Sie das Land verlassen wollen?«, wollte Frederike wissen.

»Sie halten uns für hysterisch. Zum einen ist ja nur die Mutter meiner Frau Jüdin gewesen, sie selbst ist es ja nicht, und auch meine Familie hat keinen jüdischen Ursprung – sie meinen, dass wir übertreiben. Zum anderen halten sie Hitlers Parolen für überzogen. Er wird das nie in die Tat umsetzen können.«

»Das hoffe ich tatsächlich auch«, sagte Ruth von Aaken leise. »Neben ihm sind Männer wie von Papen als Vizekanzler, Hindenburg ist auch immer noch da. Und in der Regierung sind nur zwei weitere Nazis – Frick und Göring. Vermutlich kann Hitler gar nicht so viel Schaden anrichten.«

»Er wird auf Neuwahlen drängen«, meinte Frederike. »Und er wird danach die Demokratie abschaffen.«

»Das wird ihm nicht gelingen, nicht in Deutschland.«

»Das hat man über Italien auch gesagt und nun haben wir dort Mussolini, der ein faschistisches Regime führt. Genau das hat Hitler auch vor.«

Sie waren fast mit dem Essen fertig – Lore hatte zu früh geworfene Ferkel in Weinsoße geschmort, dazu gab es Porree und Stampfkartoffeln –, da klopfte es an der Eingangstür.

»Besuch?«, wunderte sich Frederike. »Es kommt doch keiner durch, die Straßen sind doch noch nicht geräumt.«

Gespannt sahen sie alle zur Tür. Frans war in die Diele gegangen und öffnete die Tür.

»N’abend, Frans«, hörten sie jemanden sagen. »Ei, ich komm aus Posen, war meine Mutter besuchen. Und da hat mich der Postmann jefracht, ob ich nich die Briefe fürde Baronin mitnehmen will. Hab ich jemacht.«

»Das ist einer der Schweizer«, sagte von Aaken. »Der Wilbur, ein guter Mann.«

»Er hat es von Posen bis hierher geschafft«, sagte Frederike. »Respekt. Ich bin ja schon beinahe beim Gang zum Wolfsgehege gescheitert. Der Schnee ist so nass und tief, es war eine Qual.« Sie stand auf und ging zur Tür, die zur großen Eingangshalle führte.

»Frans, lassen Sie dem Mann etwas zu essen und einen Schnaps geben. Und er kann sich in der Küche aufwärmen.«

»Danke, Baronin«, sagte Wilbur, der nicht mehr an der Tür, sondern in der Halle stand. Er zog seine Mütze und verbeugte sich. Um seine Stiefel hatte sich eine Wasserlache gebildet. »Awwer ich will nach Hause. Min Fruww wartet auf mich. Wollte ja nur de Post abjeben.«

»Danke. Ich schätze das sehr.« Sie machte Frans ein Zeichen. Er wusste Bescheid und würde dem Schweizer einen kleinen Obolus und sicherlich auch einen Schnaps geben. Sie nahm die Briefe entgegen und wünschte ihm noch einen schönen Abend. Es war auch ein Brief aus Amerika für die von Aakens dabei, den sie ihnen gab. Außerdem die letzten Zeitungen, eine Nachricht von ihrer Schwester und ein Brief aus Davos. Er war nicht von Ax, sondern von Professor Wagner. Unschlüssig sah Frederike ihren Besuch an. Sie hielten den Brief ihres Cousins in den Händen, und Frederike wusste, dass sie ihn jetzt öffnen und lesen wollten, genauso wie sie die Post aus Davos. Natürlich schickte es sich nicht, bei einem Essen Briefe zu lesen.

»Bitte entschuldigen Sie mich einen Moment«, entschied Frederike. »Diese Mitteilung ist aus Davos.« Sie ging nach nebenan in ihr Arbeitszimmer, setzte sich an ihren Sekretär. Für einen Augenblick hielt sie den Brief in den Händen, er schien schwer zu wiegen, auch wenn das Papier hauchdünn war. Dann nahm sie den Brieföffner, schlitzte ihn auf, nahm das Schreiben heraus.

Sehr geehrte Frau Baronin zu Stieglitz,

leider war es Ihnen, trotz meiner Bitte, nicht möglich, Ihren Mann zur Weihnachtszeit zu besuchen. Sein Zustand hatte sich verschlechtert, aber wir haben dennoch darauf gehofft, dass eine Operation eine Verbesserung bringen würde.

Ich muss Ihnen jetzt mit großem Bedauern mitteilen, dass Ihr Mann einen Tag vor der Operation, am 4. Februar 1933, verstorben ist. Telefonisch konnte ich Sie nicht erreichen.

Mit freundlichen Grüßen

Professor Dr. Dr. C. Wagner

Frederike schnappte nach Luft. Ax war tot.