Kapitel 29

Sobotka, März 1935

»Wie geht es deiner Schwester?«, fragte Gebhard und streckte die Beine vor dem Kamin aus. Jeden Tag wurde es ein wenig später dunkel, aber heute hingen tiefe Wolken über dem Himmel, und es war erst gar nicht hell geworden. Gegen Mittag war Gebhard auf Sobotka eingetroffen. Frederike war sofort mit ihm zum Gestüt gefahren. Dort hatte ihn Jan Mazur, der Gestütsleiter, in Empfang genommen. Erst am späten Nachmittag war zu Mansfeld zurückgekehrt, hatte gebadet und sich umgezogen. Jetzt saßen Frederike und Gebhard vor dem Kamin im Salon und warteten darauf, dass zum Essen geläutet wurde.

»Es geht ihr schlecht«, sagte Frederike traurig. »Der Spezialist in Kassel konnte nichts für sie tun, außer ihr Morphium zu geben. Das lindert zumindest ihre Schmerzen. Aber ihr Innerstes haben die Strahlen zerstört.«

»Und wie lange dauert es, bis es heilt?«

Frederike sah Gebhard an und schüttelte den Kopf. »Es wird nicht mehr heilen«, sagte sie leise. »Jetzt geht es nur noch darum, Gerta die Schmerzen zu nehmen, bis sie stirbt.«

Gebhard schnappte nach Luft. »Verzeih. Den Ernst der Lage hatte ich nicht erkannt.«

»Es war mir auch nicht bewusst, bis wir in Kassel waren.« Frederike räusperte sich. »Möchtest du noch etwas trinken?«

»Gerne.« Er reichte ihr sein Glas.

»Hast du etwas von Caspar gehört?«

Nun räusperte Gebhard sich. »Wir schreiben viel, telefonieren manchmal. Aber in seinen Briefen und Telefonaten ist er immer eher kryptisch.«

»Warum?« Frederike kehrte mit den Drinks zurück, setzte sich wieder.

»Er misstraut dem Staat.«

»Er ist Diplomat, arbeitet für das Reich.«

»Es ist eher das Regime, dem er misstraut. Vielleicht sieht er Gespenster, ich weiß es nicht.«

»Europa verändert sich«, sagte Frederike nachdenklich. »Im letzten Jahr ist so viel passiert.« Sie dachte kurz nach. »In Österreich gab es einen Bürgerkrieg, in Lettland einen Staatsstreich, in Bulgarien einen Militärputsch. Der Reichsrat in Deutschland wurde aufgelöst.«

»Hitler hat sich mit Mussolini getroffen – die beiden scheinen sich gut zu verstehen«, sagte Gebhard bedrückt.

»Hindenburg ist gestorben.«

»Ja, was für ein Verlust.«

»Aber Hindenburg hatte zum Schluss keinen Einfluss mehr. Hitler reißt alles an sich.«

»Genau das macht Caspar auch Angst.«

»Die UdSSR ist in den Völkerbund aufgenommen worden.«

»Und wir sind ausgetreten – was sagt uns das?«

»Glaubst du, dass es Krieg geben wird, Gebhard?«, fragte Frederike betroffen.

»Hitler tut alles, um sich den Weg dahin zu ebnen. Er hat Kanzleramt und Präsidentenamt vereint – auf sich. Nun gibt es niemanden mehr, der ihn kontrolliert. Wir haben ein Einparteiensystem, es gibt quasi nur noch die NSDAP. Was glaubst du denn, was er vorhat?«

»Er hat mit Polen den Nichtangriffspakt geschlossen.«

»Und sagt, sein erstes Ziel ist es, die Ostgegenden zurück ins Reich zu holen. Er verdammt den polnischen Korridor.«

»Das tue ich auch und viele andere.«

»Würdest du dafür einen Krieg führen?«

»Natürlich nicht. Es darf nie wieder Krieg geben.«

»Es wird Krieg geben.«

Frans läutete zum Essen, und Gebhard reichte ihr die Hand, half ihr auf, führte sie hinüber zum Esszimmer.

»Du magst Caspar, nicht wahr?«, fragte er vorsichtig.

»Natürlich. Caspar ist ein unglaublich interessanter Mensch.«

Gebhard senkte den Kopf. »Ach so. Dann muss ich das wohl so zur Kenntnis nehmen«, sagte er leise.

Frederike sah ihn an. »Ich mag ihn, Gebhard. Als Mensch. Mehr nicht.«

Sie setzten sich, die Suppe wurde aufgetragen.

»Und mich?«, fragte Gebhard, nachdem er den Teller schweigend geleert hatte. »Magst du mich auch?«

Frederike legte den Löffel zur Seite und sah ihn an. »Ja. Sehr.«

Gebhard biss sich auf die Lippe. »Aber das reicht dir nicht, oder?«

»Das reicht mir nicht wofür?«

Er zögerte, dann griff er in seine Jackentasche, just als Frans kam, um die Teller abzuräumen. Frederike und Gebhard sahen sich an, Frederike zog die Augenbrauen hoch. Nun warteten sie, bis Frans den Hauptgang aufgetragen und den Wein nachgeschenkt hatte. Es gab geschmorten Hasen mit Wurzelgemüse und Sellerie-Kartoffel-Stampf, dazu Spirkel – geräucherter Bauchspeck mit Zwiebeln, der langsam ausgebraten wurde und somit fast die Konsistenz eines Ragouts hatte.

»Das ist köstlich«, sagte zu Mansfeld, legte dann aber das Besteck auf das Messerbänkchen. Wieder griff er in die Jackentasche und zog eine kleine Schmuckschatulle hervor. »Dies ist der Verlobungsring meiner Großmutter. Sie hat bis zu ihrem Tod im Burghof in Mansfeld gewohnt, in dem Haus, wo ich nun lebe. Eigentlich erbt der älteste Sohn diesen Ring, aber Caspar hat ihn mir überlassen …« Er stockte, stand auf. »Frederike«, sagte er ernst, »möchtest du meine Frau werden?«

»Grundgütiger«, wisperte Frederike. »Das kommt jetzt aber überraschend. So zwischen Hauptgang und Nachspeise.« Sie merkte, was sie gesagt hatte, und kicherte nervös.

»Das ist keine adäquate Antwort«, meinte Gebhard und grinste ebenfalls.

»Ich … ich bin gerade sprachlos. Setz dich bitte wieder.«

»Das heißt, du willst nicht«, sagte er und setzte sich. Sein Gesicht wurde bleich.

»Doch … nun ja, ich weiß nicht.«

»Was denn nun – ja? Oder nein? Ich habe damit noch nicht so viel Erfahrung. Um ehrlich zu sein, ist dies mein erster Antrag.«

»Ich mag dich sehr, nein, ich bin mir sicher, dass ich dich liebe. Ich frage mich nur gerade …«, sie stockte.

»Ja?«

»… wie viel Wert du auf den Nachtisch legst?«

»Wie bitte?«

»Lass uns rausgehen. Spazieren gehen. Bitte. Den Nachtisch können wir immer noch essen.«

»Wenn du das wünschst«, sagte er unsicher. Sie zogen sich Stiefel und Mäntel an, gingen nach draußen. Es war kühl, aber die Luft war klar.

»Ein wenig«, sagte Frederike und nahm Gebhards Hand, »kann man den Frühling schon riechen, findest du nicht?«

»Freddy, worüber möchtest du mit mir reden?«, fragte Gebhard und klang nervös.

»Über uns.«

Gebhard blieb stehen, entzog ihr die Hand, rieb seine Hände aneinander. »Dann bitte.«

Der Antrag war überraschend gekommen, auch wenn sich Frederike Gedanken über eine mögliche Zukunft mit Gebhard gemacht hatte. Sie ging mit forschen Schritten durch den Park, versuchte ihre Gedanken zu sortieren. Frederike mochte Gebhard, ja, sie mochte ihn sehr. Jeden Tag dachte sie inzwischen an ihn. Wenn eine Karte oder ein kurzer Brief von ihm kam, klopfte ihr Herz schneller und war dies die erste Post, die sie öffnete, die anderen Briefe legte sie zur Seite.

Aber wie sollte sie herausfinden, ob sie ihn liebte? Sie dachte an den Schmerz, den sie empfunden hatte, als Rudolph heiratete und ihr bewusst wurde, dass nun alles anders war. Der Schmerz war schrecklich gewesen, und so manche Nacht hatte sie sich in den Schlaf geweint.

Was wäre, fragte sie sich nun, wenn ich Gebhard nie wiedersehen würde? Was wäre, wenn er sich in eine andere Frau verliebte? Sie spürte in sich hinein und fühlte das Entsetzen, das diese Gedanken auslösten. Gebhard war nicht so leidenschaftlich wie Rudolph, bis jetzt zumindest noch nicht. Er war ernsthafter und bodenständiger – aber gerade das mochte sie an ihm. Er lebte für sein Land, das Land seiner Väter. Und er würde ebenso für seine Familie leben und da sein. Zuverlässig, liebevoll und mit einem gewissen Quäntchen an Humor, das sie wirklich an ihm liebte.

Ja, dachte sie, ich möchte ihn nicht verlieren. Und ja, ich möchte mein Leben mit ihm verbringen. Aber …

»Ich glaube, dass ich dich liebe, Gebhard. Bei Ax war ich mir sicher, aber es war eine andere Art von Liebe, eine große Schwärmerei. Doch … die Ehe mit ihm war so ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Und es gab keinen Weg hinaus …« Sie hielt inne, sah Gebhard an. »Ich kann nicht … einfach so ›Ja‹ zu dir sagen.«

»Du musst noch überlegen?«

»Ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Es ist wichtig für mich.«

Gebhard nickte.

»Ich möchte, dass wir zusammen wegfahren. Für eine Woche. Nur du und ich.«

»Als Hochzeitsreise? Gerne.«

»Nein. Vorher. Erst dann möchte ich mich entscheiden.«

Er sah sie mit großen Augen an. »Was?«