»Zu viel Blut«, sagte die Hebamme besorgt. »Ik brooch mehr Tücher.« Sie sah Ilse an, die nickte und eilte aus dem Raum. »Un noch abgekochtes Wasser, wa?«
Frederike drückte die Hand auf den Mund, versuchte nicht zu schreien, aber die Schmerzen waren furchtbar. Es war nicht so wie bei den anderen Geburten. Die Wehen kamen nicht in Wellen und steigerten sich, es war ein durchgehender Schmerz, als würde sie jemand aufschneiden.
Verzweifelt schnappte Frederike nach Luft.
»Ruhich«, sagte die Hebamme. »Tief einatmen, wa?«
»Ich kann nicht«, stöhnte Frederike. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn, gleichzeitig zitterte sie unkontrolliert. Die Hebamme sah sie besorgt an.
»Was stimmt nicht?«, flüsterte Frederike.
Die Hebamme schüttelte nur den Kopf. »Weeß ik nich jenau. Zuviel Blut.« Sie nahm das hölzerne Hörrohr hervor, drückte es auf Frederikes Bauch und suchte nach den kindlichen Herztönen. »Hmm«, murmelte sie und tastete den Bauch ab, drückte tief hinein. Frederike schrie auf. Vorhin hatte sie das Baby noch gespürt, aber nun waren da nur noch Schmerzen.
Ilse brachte die Tücher, und die Hebamme versuchte das Blut, das schwallartig aus Frederike herauslief, aufzunehmen und die Blutung zu stoppen. Sie tastete. »Der Muttermund is oof. Ik fühl aber dat Köpfchen nich.« Sie schob ihre Hand noch tiefer. Frederike glaubte sterben zu müssen und schrie. Dann wurde sie bewusstlos.
In den nächsten Stunden schwankte sie zwischen Ohnmacht und Bewusstsein. Sie hörte die Stimmen des Arztes und der Hebamme.
»Placenta praevia«, sagte der Arzt ernst.
»Un hat sich ooch abjelöst«, meinte die Hebamme.
»Intrauteriner Fruchttod, vermute ich.«
»Ja, awwer was machen we nun?«
»Muttermund ist vollständig. Sie hat keine Kraft, wir müssen es rausdrücken und die Zange nehmen.« Jemand schob Frederike ein zusammengerolltes Laken unter den Körper und schlang es um ihren Bauch. Dann war alles um sie herum nur noch schwarz.
Als sie wieder zu sich kam, war es schon dunkel. Nur eine kleine Lampe brannte auf der Kommode. Sie fühlte sich, als wäre sie unter ein Ochsengespann gekommen, alles tat ihr weh, und zuerst wusste sie nicht, was passiert war.
»Liebes«, sagte Gebhard, der neben dem Bett saß und ihre Hand hielt. »Sie wird wach«, sagte er zu jemandem, den sie nicht sehen konnte.
»Ich hole die Hebamme und Brühe.« Es war Ilse, das Mädchen.
»Was … was …?«, versuchte Frederike zu sagen. Ihre Lippen waren trocken und rissig, ihre Kehle brannte.
»Psst, Liebes. Ganz ruhig«, sagte Gebhard mit brüchiger Stimme.
Bruchstückhaft erinnerte sie sich an Satzfetzen, die sie gehört hatte. Placenta praevia, intrauteriner Fruchttod, keine Herztöne, Zange –, was hatte das alles zu bedeuten? Ihr war schwindelig, und sie fühlte sich kraftlos.
»Gebbi …«
»Ruhig, Liebes, ruhig. Du hast viel Blut verloren.«
Ilse kam und brachte einen Teller. »Taubenbrühe. Die bringt viel Kraft, sagt die Köchin.« Sie stellte das Tablett auf den Nachttisch. »Und warmes Bier mit verquirltem Ei, das baut auch auf«, sagte sie leise.
Ihr war die Hebamme gefolgt. »Sindse wach, Baronin?«
Als Frederike die Hebamme sah, fuhr ihre Hand zu ihrem Bauch, der schmerzte und geschwollen war, aber nicht mehr prall. Auch spürte sie das Kind nicht.
»Unser Baby?« Sie sah Gebhard an, er senkte den Kopf.
»Nu, nu«, sagte die Hebamme und sah Gebhard streng an. »Muss ma mit Sie Ihre Frau sprechen.«
Gebhard stand auf, küsste Frederike. Sie hielt ihn fest. »Geh nicht.«
»Täubchen, is besser, wenn er jeht, muss Sie ma untersuchen.«
»Was ist mit dem Kind?« Frederike fuhr sich mit der Zunge über die spröden Lippen, sie konnte kaum sprechen, der Hals schnürte sich ihr zu.
»So, nun nehmse ma ein paar Löffels vonne jute Suppe. Hat die Lore extra mitten Täubchen jemacht. Täubchen brinjen de Kraft zurück, und det brauchen Se.« Sie nahm den Suppenteller, führte ein paar Löffel zu Frederikes Mund. Frederike war zu schockiert, um sich zu wehren. Ihr Mund füllte sich mit der Flüssigkeit, die sättigend und salzhaltig war, sie schluckte, schluckte noch mal. Dann stellte die Hebamme den Teller zur Seite und sah Frederike an. »Es tut mir leid«, sagte sie leise, »awwer Ihre Tochter ist jestorben.«
Frederike schloss die Augen. Beide Hände legte sie auf den Bauch, presste sie fest darauf, auch wenn es schmerzte. Da hatte sie vor wenigen Stunden noch die Bewegungen des Kindes gespürt.
»Warum?«
»Nu ja, is manchmal so. Kann keener wat für, wa? Sie Ihr Mutterkuchen lach vorm Muttermund. Der hat sich jeöffnet, und dann hat sich de Mutterkuchen jelöst. Sie Ihre Tochter hat denn keene Luft mehr bekommen, um et eenfach zu sajen. Se is jestorben, als se noch in Sie Ihrem Booch wa. Könnse awwer nix für.«
»Eine Tochter?«
Die Hebamme nickte.
»Wo ist sie?«
»Nebenan. Ik finds ja immer jut, wenne Eltern dat Kind sehen und sich verabschieden können. Wollnse dat?«
Frederike nickte.
»Jut. Awwer ik muss getz erst ma nach Sie Ihrem Booch sehen.« Sie schob die Decke zur Seite, tastete Frederikes Bauch ab, untersuchte sie, nickte dann zufrieden. »Bildet sich allet zurück, wie et seen muss.«
»Kann ich noch … ich meine …?«
»Jo. Klaro. Sie können noch Kinders kriejen, wie Se wollen. Jeht allet.«
»Und kann das wieder passieren?«
»Kann man das verhindern?«
»Nö.« Die Hebamme schüttelte den Kopf. »Kann man nich. Awwer besser untersuchen kann man schon getz.«
»Und wenn es wieder passiert?«
»Na ja, dann können Sie sich hn Keeserschnitt machen lassen. Müssense nach Wittenberge.«
Frederike dachte nach. Das Kind war vier Wochen zu früh gekommen. Sie hätte es nicht nach Wittenberge geschafft. Es lag nicht an ihnen, dass die Tochter gestorben war.
»Ich möchte sie sehen.«
»Dat finne ich jut.« Die Hebamme stand auf. »Ik komm nachher nochma wieder.« Dann verließ sie das Zimmer, kurz darauf kam Gebhard zurück. Er trug einen kleinen Weidekorb, der mit Tüchern ausgepolstert war, darin lag das kleine tote Mädchen. Es war gewaschen, angezogen und in eine Decke gewickelt worden. Frederike nahm es heraus, hielt es fest und weinte bittere Tränen. Die ganze Nacht saßen sie zusammen, bestaunten ihr perfektes Kind, das nicht atmete und dessen wächserne Haut immer bleicher wurde. Sie hatte fünf winzige Finger an jeder Hand, halbmondförmige Fingernägel, ein zarter dunkler Flaum bedeckte das Köpfchen. Ihre Zehen waren perfekt, wie kleine Reiskörner.
Frederike und Gebhard hielten die Kleine abwechselnd, vergossen Tränen des Kummers und der Sehnsucht.
Zwei Tage später wurde sie auf dem Familienfriedhof in Leskow beerdigt. Sie fand ihre Grabstätte neben Gebhards Vater. Da das Kind im Bauch verstorben war und nie geatmet hatte, galt sie als keine Person mit rechtlicher Grundlage. Auch war sie deshalb nicht getauft worden.
»Für mich ist es die kleine Sophie«, sagte Frederike. »Ich hätte sie gerne nach deiner Großmutter genannt.«
»Ja, das wäre schön gewesen«, sagte Gebhard gepresst. »Es ist also unsere Sophie.« Er drückte ihre Hand.
Frederike fand Trost bei Fritzi und Mathilde, die zu entzückenden, wachen und lebhaften Kindern heranwuchsen. Die französischen Gefangenen hatten die beiden auch in ihr Herz geschlossen, und oft verbrachten die Kinder Zeit mit ihnen.
»Dass du das zulässt«, sagte Thea im November, als sie im Burghof zusammensaßen, missbilligend. »Überhaupt, dass ihr die Schnitterhäuser so habt umbauen lassen. Bei uns leben die Fremdarbeiter in einer Scheune. Wir haben Doppelstockbetten aus Metall für sie aufgestellt, Strohmatratzen und eine Decke, das muss doch reichen. Der Krieg ist bald vorbei, die Fremdarbeiter wieder weg, und was wird dann aus dem Material?«
»Irgendjemand wird ja die Felder bewirtschaften müssen. Und für diese Leute haben wir dann Wohnungen. Noch glaube ich aber nicht an ein schnelles Ende des Krieges.« Die Totgeburt hatte Frederike ernster gemacht, schweigsamer, nachdenklicher. Gebhard betrauerte das Kind auch, aber anders. Vielleicht auch, weil es wieder ein Mädchen war und er sich so sehr nach einem Sohn sehnte.
Theas Söhne stromerten mit Frederikes Töchtern über den Hof. Pierre hatte sie immer im Blick. Nur Theas Jüngster war bei ihnen im Gartenzimmer und spielte auf einer Decke am Boden.
»Ich würde euch alle gerne am ersten Weihnachtstag zu uns einladen«, sagte Thea. »Es ist immer so mühsam, mit den Kindern nach Leskow zu fahren.«
»Was sagt Heide dazu?«
»Sie weiß es noch nicht, ich wollte zuerst mit dir sprechen und mir deine Unterstützung zusichern lassen.«
»Wenn Heide nichts dagegen hat – ob wir nun zu euch oder nach Leskow fahren, macht keinen großen Unterschied.«
»Eigentlich könnten wir ja diesmal schon den Heiligen Abend zusammen verbringen. Eine große Feier mit den Leuten wird es ja nicht geben. Die meisten Männer sind im Krieg.«
Darüber hatte Frederike noch gar nicht nachgedacht. »Aber du hast doch deine Leute im Haus noch.«
»Ja, die habe ich noch. Und ich hoffe, das bleibt so und ich habe nicht irgendwann eine russische oder polnische Köchin.«
»Das sind doch auch nur Menschen. Und ich glaube nicht, dass sie gerne hier sind.«
»Eben. Willst du eine vergiftete Suppe essen?« Thea hatte sich noch viel mehr verändert, fand Frederike. Sie war skeptisch geworden, so wie ihr Mann, kritisch. Das Hitler-Regime mochte sie jedoch zum Glück auch nicht.
»Frag Heide, was sie davon hält. Den Heiligen Abend möchte ich gerne in Burghof feiern. Wir haben noch ein paar Leute, die wir beschenken möchten.«
Frederikes Mittel waren begrenzt. Trotzdem schaffte sie es, für alle Fremdarbeiter Geschenke zu besorgen. Es waren nur Kleinigkeiten, aber Dinge, die die Männer schätzten. Rasierklingen, gute Seife, Zigaretten und Socken. Für den ein oder anderen, der keine Pakete aus der Heimat bekam, hatte sie schon warme Kleidung besorgt. Pullover, Jacken, Hosen.
»Wie feiern wir Weihnachten?«, fragte Frederike Gebhard.
»Du kommst mit Ideen! Wie sollen wir Weihnachten schon feiern? So wie immer.«
»Wir haben viel weniger Instmänner, dafür aber die Gefangenen.«
Er sah sie überrascht an. »Du hast recht.« Dann dachte er nach. »Ich werde Pierre fragen.« Der kleine Pierre hatte so etwas wie eine Sprecherfunktion der Kriegsgefangenen übernommen. Er sammelte die Klagen und Beschwerden, verteilte die Post, vermittelte. Manchmal waren die Latrinen verstopft, hin und wieder tropfte es durch Dächer, sie hatten zu wenig Holz – eigentlich, das wussten Frederike und auch Gebhard – hatten sie zu wenig von allem. Vor allem fehlten ihnen die Heimat und die Familie. Manche Dinge konnte man beheben, andere nicht.
»Es ist Weihnachten. Lass es uns so feiern wie immer. Und lass sie uns mitnehmen in die Kirche. Ich spreche mit dem Pfarrer, aber er wird nichts dagegen haben.«
»Ich glaube, viele sind katholisch.«
»Und wennschon. Weihnachten ist Weihnachten, wir feiern die Geburt Christi. Überhaupt sollten wir überlegen, ob wir ihnen nicht auch Gottesdienste anbieten.«
»Grundgütiger, Freddy, das bringt uns in Teufels Küche.«
»Küche – ich muss runter«, sagte Frederike und sprang auf.
»Was ist denn nun schon wieder?«
»Heute wollen Pierre und Lore den ersten Käse anstechen, und ich will dabei sein.«
»Man könnte fast meinen, du profitierst von unseren Franzosen.«
»Vielleicht«, sagte Frederike und lachte.
***
Weihnachten 1941 feierten die französischen Kriegsgefangenen zusammen mit den Putlitzern in der evangelischen Kirche am Burghof. Der Bereich für sie war abgetrennt worden und wurde bewacht. Nicht jeder konnte das gutheißen, aber der Pfarrer fand einfühlsame Worte. »Jesus Christus wurde für uns alle geboren und ist für uns alle gestorben. Seine Botschaft an die Welt war, dass wir uns lieben sollen, so wie sein Vater, Gott der Allmächtige, uns liebt. Auch wenn es Grenzen gibt, Fronten und verschiedene Meinungen und Ansichten, so sollten wir uns in diesem Moment vereinen und die Geburt Christi zusammen feiern. Amen.«
Dann stimmte der Chor »Stille Nacht« an, und nicht nur Frederike kamen die Tränen.
Nach dem Gottesdienst kamen die Leute in die große Halle. Sie sangen, die Kinder trugen Gedichte vor, und Frederike verteilte Geschenke. In diesem Jahr musste sie einige Geschenke an Familien verteilen, in denen der Vater, Bruder oder Sohn gefallen war. Tränen liefen auf beiden Seiten. Erst als das Gesinde beschenkt war, durften die Franzosen in die Halle kommen. Sie standen staunend vor der großen geschmückten Tanne, an der schon einige Kerzen heruntergebrannt waren.
Dann stellten sie sich auf, Pierre trat vor, drehte sich zu den Männern um. Sie summten erst, fingen dann an zu singen: »Il est né le divin enfant«. Danach sangen sie noch die französische Version von »Oh Tannenbaum«. Es war ergreifend. Frederike wischte sich die Tränen von den Wangen, verteilte ihre Geschenke an die Männer und wünschte ihnen ein schönes und friedliches Weihnachtsfest. Lore hatte für die Männer einen glasierten Honigschinken zubereitet. Davor gab es eine französische Zwiebelsuppe und als Nachtisch einen Vanillepudding.
Die Männer bedankten sich artig und sehr gerührt, gingen zurück in ihre Baracken.
Auch für die Männer auf Kleinwiesental hatte Frederike extra Essen und kleine Gaben bereitgestellt. Heide hat es ihr auf Leskow nachgetan.
Endlich durften Fritzi und Mathilde in den Salon und zu ihren Geschenken. Fritzi hatte sich eine Puppe gewünscht und Mathilde einen ganz besonderen Stoffhund, den sie bei ihrem Besuch in Heiligendamm gesehen hatte. Die Geschenke für die Kinder waren bescheiden, aber erfüllte die Hoffnung, stellte Frederike fest. Wenn der Krieg noch länger dauern würde, gäbe es bald nichts mehr zu schenken.
Gebhard tat sich ein wenig schwer. »Ich habe da etwas für dich, aber ich weiß nicht, ob du dich darüber freust oder nicht. Es war eine spontane Idee, ein Einfall – aber jetzt gefällt es mir gerade gar nicht mehr. Ich will dich nicht traurig machen.«
»Du machst es auf jeden Fall spannend«, sagte Frederike. »Nun spuck es schon aus! Ich kann ja immer noch weinend zu meiner Mutter laufen«, sagte sie und schmunzelte.
»An dem Tag, an dem du zu deiner Mutter läufst, fallen Weihnachten und Ostern auf ein Datum. Ob du dabei nun lachst oder weinst.«
»Was ist es, Gebbi?«
Er senkte den Kopf und zog eine Schmuckschatulle hervor. »Es ist eine silberne Anstecknadel. Ich habe sie für dich anfertigen lassen.«
Frederike öffnete die Schatulle. Es war ein Wolfskopf – nicht irgendein Wolfskopf, es war Valentina. Überrascht sah sie Gebhard an, dann füllten sich ihre Augen mit Tränen.
»Das habe ich befürchtet«, sagte er bedrückt. »Es tut mir leid, ich lass es einschmelzen.«
Wortlos ging sie zu ihm und küsste ihn. Es war nicht nur ein leichter Kuss auf die Lippen, es war ein richtiger Kuss, voller Leidenschaft und Innigkeit.
»Danke«, presste Frederike hervor.
»Der Arzt hat mir erklärt, dass Valentina dein Leben gerettet hat. Hätte sie nicht geheult, hätte dich Pascal nicht gefunden und dann wäre nicht nur Sophie verstorben, sondern du auch. Valentina wird immer eine Zuflucht bei uns haben, jetzt noch mehr als zuvor.«
Frederike nickte. Sie wusste, welchen Anteil die Fähe an der Geschichte hatte, aber hatte nicht darüber reden wollen. Vorsichtig nahm Frederike die Nadel aus der Schatulle, steckte sie an ihre Bluse. »Es ist wunderschön. Danke. Es ist nicht nur eine Hommage an Valentina, sondern auch an unsere kleine Sophie.«
»Ja.«
***
Am 7. Dezember 1941 hatten die Japaner Pearl Harbor angegriffen. Es war eine unfaire Schlacht, unvorhergesehen und mit den Kamikazefliegern etwas, was den westlichen Truppen nicht erklärbar war. Es gab Menschen, die sich bereit erklärten, in den Tod zu fliegen, sich für die Sache zerbomben zu lassen.
Jeder Soldat wusste, dass er dem Tod gegenüberstand, dass er sterben konnte. Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht würde er überleben und seinen Enkeln von diesem Krieg erzählen können. Die Kamikazeflieger würden niemandem irgendetwas berichten können. Sie ließen sich wissend in den Tod fallen.
Amerika, das bisher nur die Alliierten unterstützt hatte, trat daraufhin in den Krieg ein.
Die zu Mansfelds trafen sich, wie immer, am ersten Weihnachtstag auf Leskow. Heide hatte den Vorschlag ihrer Schwiegertochter, doch auf Großwiesenfeld zu feiern, mit einer Handbewegung weggewischt.
»Leskow ist der Stammsitz der Familie. Punkt.«
Es gab reichlich zu essen, aber andere Speisen als in den Vorkriegsjahren. Die Kinder wurden beschenkt, doch die Geschenke waren eher praktischer Natur – Kleidung, Schuhe, für Harry ein Ranzen, Bettwäsche. Natürlich gab es auch ein wenig Spielzeug, und so waren die Kinder zufrieden unter der großen Tanne.
Die Erwachsenen tauschten ihre Befürchtungen aus. »Amerika wird das Kriegsblatt wenden«, sagte Werner.
»Du kannst froh sein, wenn das so ist. Noch wurdest du nicht eingezogen, Skepti«, meinte Heide. »Aber das kann sich ändern.«
»Das möge Gott verhüten«, seufzte Thea.
»Der Gott der heutigen Tage ist Hitler, und er hat wenig Einsehen«, sagte Frederike sachlich.
»Der Russlandfeldzug ist aussichtslos«, meinte Werner. »Ich weiß gar nicht, was sich der kleine Österreicher dabei denkt.«
»Psst«, flüsterten Thea und Heide. »Wie kannst du nur?«
»Die Braunen sind mir egal«, sagte Werner und zog an seiner Zigarre.
»Mir nicht«, seufzte Gebhard. »Ich war einmal im Gestapogefängnis in Potsdam. Es waren nur drei Tage, und ich war in Untersuchungshaft, aber ich möchte da nie wieder hin.«
»Bist du jetzt in der Partei?«, fragte Skepti.
»Nein. Bisher nicht. Obwohl es mir immer wieder ›nahegelegt‹ wird.«
»Ich bin eingetreten. Ich hatte keine Wahl«, sagte Skepti leise.
»Es ist nur ein Abzeichen«, meinte Heide. »Es bedeutet nichts.«