57. Eintrag Die Stadt ist faszinierend und lässt uns nicht los, drum bleiben wir noch eine Nacht. Wir rennen viel rum, es geht nicht anders, man muss zu Fuß sein und mit den Füßen sehen, sonst kriegt man die Stadt nicht mit.
Ich hab ja gedacht, das Reiseabenteuer bringt mich aus der Depression zurück in mein Stück. Aber ‚Der Herrgottschnitzer und der liebe Gott‘ sind inzwischen Lichtjahre von mir entfernt, da führt kein Weg zurück. Ein paar Wochen Leben und der tönerne Koloss „das neue Stück“ zerfällt wie eine abgeschossene Tontaube. Das wird nichts mehr, das kommt auch nicht mehr zurück.
Das, was ich JETZT hier hinkritzle, ist anders, ist „unbetreutes“ Schreiben, ich versuch einfach, wie man würfelt, ein paar Sätze auf den Tisch zu werfen, und wenns zu viele Nieten sind, kann ichs unendlich wiederholen und ICH BIN FREI. Vielleicht bin ich auch nur frei, weil mich die Ex aus der Depression gerissen hat, denn auch wenn sie schnarcht, konfrontiert sie mich mit Leben und nicht mit Museumskunst.
Vor ein paar Tagen saßen wir in einer armseligen stinkenden Kneipe, neben einer Tankstelle, wo wir dem Mercedes seine 98 Oktan geben konnten (an den meisten Tankstellen hier gibts nur 95 und 95 plus).
Wir saßen da mit einem Dutzend vom Leben, von der Not, von Suff, Drogen und Hoffnungslosigkeit zerstörten Figuren, und als eine vielleicht Sechzehnjährige im Anorak überm pink-gelben Pyjama reinkam, ein Baby im Arm, und Zigaretten wollte, wirkte das wie aus einem frühen Pasolini-Film.
Sentimental, wie ich mein Leben lang war, sage ich zur Ex: Man vergisst immer wieder, was für ein mental und finanziell beschissenes Leben die meisten Menschen von Geburt an auf dieser Welt führen. Die Ex schaut mich strafend an und sagt: Ich nicht, ich denke immer daran. Da nicke ich nur und schaue der Pyjamalady zu, wie sie sich mit dem Baby auf dem Arm eine Zigarette anzündet und vor die Tür geht. Sie sieht genauso aus, dass sie für die meisten meiner frühen Stücke die ideale Besetzung gewesen wäre: hellwach und tot, jung und uralt, zu allem bereit und zu nichts fähig, ein kleiner Haufen Mensch, der Leben heißt und nichts bedeutet.
Während das Pyjamamädchen dem Baby den Zigarettenrauch ins Gesicht bläst und in den Pyjamataschen nach dem klingelnden Handy sucht, erklärt mir die Ex, warum sie immer an die denkt, denen es scheiße geht. Ich kanns nicht wiedergeben, denn ich hab nicht zugehört, ich schaute dem Pyjamamädchen zu, bis es wegging, zwischen parkenden, glänzenden, schwarzen SUVs durch und verschwand.