22. Oktober Früh auf. Ich muss gehen. Einfach Landschaft inhalieren. Dabei Musik hören, die Sonne auf der Nase spüren, die Hände in die Luft reißen und den Rhythmus in den Füßen erahnen – ich tänzele vor mich hin. Die Wellen sind gigantisch, ein Schauspiel ohne Eintrittskarte. Das ist Leben, ich genieße es. Ich kann mich dermaßen darüber freuen und bin glücklich und dankbar. Ich liebe diese Momente.
Auf dem Heimweg stoppe ich vor Santis Haus und rufe ihn an. »Lass uns einen Kaffee trinken.« Er öffnet die Tür. Alle Zimmer sind dunkel. Eine Eigenart der Canarios, sie halten ihre Fensterläden geschlossen. Man möchte meinen, sie täten dies wegen der Hitze, aber auf der Insel des ewigen Frühlings wird es nie wirklich heiß. Die Guanchen waren Höhlenbewohner, vielleicht liegt es an ihren Vorfahren? Jedenfalls kann man die Häuser der Ausländer an den offenen Fensterläden erkennen.
Ich grüße beim Vorbeigehen ins Wohnzimmer. Nur der Fernseher erstrahlt hell. Ein brummiges »Hola« kommt von der alten Mutter. Ich gehe mit Santi in die Küche. Ein halber Fensterladen steht offen. Der Herd hat Verbrennungsspuren dritten Grades, die Schalter oberhalb der Backofentür sind bräunlich verfärbt und teils geschmolzen. Der halbe Tisch ist voll mit Medikamenten, außerdem steht dort ein Trainingsgerät für die Armmuskulatur. Santi sitzt vor seinem Frühstück, ein Geschirrtuch als Unterlage. Rund um den Teller tummeln sich die Brotbrösel. Er trinkt seinen Kaffee, rollt das Tuch samt den Bröseln ein und legt es zur Spüle. Im Eck ein Fernseher, dessen Lautstärke mit dem im Wohnzimmer konkurriert.
»Was ist los, Santi? Wir sind Freunde, erzähl mir.« Er zeigt mir die Röntgenaufnahme eines Fußes, das Röntgenbild des anderen Fußgelenks, die von Unter- und Oberkiefer, erzählt mir von seinen Schmerzen da und dort und wo er überall operiert werden soll und welches Gel man ihm in die Gelenke spritzen will. Nachdem ich seine Krankengeschichte angehört habe, sagt er: »Aber das Auto wird fertig. Nächste Woche. Versprochen.« Er braucht das ausstehende Geld für die Ärzte.
Seine fünfundachtzigjährige Mutter schlurft im Schlafanzug durch die Küche. Sie wirkt wie ein alter, schnaufender Boxer. »Wie geht es dir?«, frage ich. »Escapando«, ihre Antwort, was so viel heißt wie »entkommen«. Der Situation entkommen. Flüchten. Sie schleppt sich Richtung Terrassentür und schnauft. Ich schaue ihr nach. »Sie scheint ja super aufgelegt zu sein«, sage ich zu Santi. »Sie ist immer so, wenn Besuch da ist.« Ich schüttle den Kopf. »Ganz ehrlich, Santi, in der Atmosphäre ist es schwierig, gesund zu bleiben.« Ich verabschiede mich.
Der Dichter ist um elf Uhr schon wach. Und gut aufgelegt. Ich ziehe mich nach oben zurück, um meine beruflichen Dinge zu erledigen, via Handy und Internet. Die Verbindung ist nicht optimal, aber es reicht. Seit Franz im Haus ist, kann ich das WLAN nicht benutzen. Er bekommt dann ein Pfeifen in den Ohren. Und der Router ist im Zimmer nebenan. Also ist WLAN nur in Ausnahmefällen angesagt. Madre mia, vielleicht würde ihm ein Aluhut nützen?
Ich stelle mich ja gern auf die Bedürfnisse anderer ein, aber auf Dauer wären die Probleme vorprogrammiert. Oder: Franz will netterweise alle Einkäufe finanzieren. Sozusagen als Dankeschön, dass er hier wohnen darf und ich koche etc. Er wird mir tausend Euro überweisen, ich soll die Auslagen davon abziehen. »Lass uns doch zur Bank gehen und das Geld abheben. Du willst doch eh dein Konto hier auflösen«, sagte ich. »Online kann ich es dir sofort überweisen.« Das war vor einer Woche. Seitdem mache ich eine Liste für die Ausgaben und sammle die Belege. Ich käme gar nicht auf die Idee, mir etwas auslegen zu lassen, ich würde immer gleich danach verrechnen oder vorab zahlen. Ohne Zweifel ein weiterer Brennpunkt.
Er wird zahlen, ganz sicher, aber dann wirkt es im Anschluss wie ein Geschenk und nicht wie das, was man einfach verbraucht. Die regulären Preise sind einem nicht bewusst. Das geht auch unseren Politikern so, drum machen sie ja so eine beschissene Politik fernab jeder Realität. Auch innerhalb der Ehe bekam ich von ihm ein Jahresbudget und damit musste ich haushalten. Manchmal war es schwierig, mit drei Kindern und mehreren Wohnsitzen das Geld einzuteilen. Damals war er noch – alkoholbedingt – sehr jähzornig. Ich wurde Meisterin im Sparen. Eine Umstellung im Lebensstil, zumal ich ja genau mit dem Gegenteil aufgewachsen bin. Meine Mutter ließ immer verlauten: »Nicht sparen, verdienen!« Das hat sie dann wohl auch mit galoppierender Krankheit in den Ruin getrieben.
Am Abend gingen wir auf die Eröffnung der Feria de Artesanía in Garachico. Kanarische Musik und Männer und Frauen in Trachten tanzen. Die Tracht erinnert an das bayerische Dirndl und der Tanz an den der Schäffler. Hat der Dichter früher solche Fiestas gemieden, ist er heute ganz begeistert von der bunten Pracht. Wir steuern auf die Bude unseres Dorfes zu. Vino, Bier, Fleischspieße und Lapas. Die Freude ist groß und Franz wird begrüßt wie ein Heimkehrer. Manche von ihnen kennen wir seit sechsundzwanzig Jahren, wie Pablo, der uns früher vom Flughafen abholte und in unserer Abwesenheit unser Auto in seiner Garage hatte. Mittlerweile ist er in Pension. Ein Bild, tief im Herzen, ist sofort präsent: Als Pablo uns mit dem alten Mercedes abholte und nach Hause brachte, stellte sich unser Sohn bei Erreichen des Dorfes auf die Mittelkonsole, steckte seinen Kopf und Oberkörper durch das geöffnete Schiebedach, streckte die Hände in die Luft und schrie vor Begeisterung »Garachicooo«. Der kleine Körper bebte vor Erregung und er grüßte jeden, als sei er mit seinen fünf Jahren schon der Bürgermeister.
Pablo hatte sein Leben lang ein ununterbrochenes Zwinkern in den Augenlidern, das Zittern wirkt vertraut. Wir erinnern uns an viel gemeinsam Erlebtes und werden pausenlos auf Wein eingeladen. Alle paar Minuten kommt jemand und begrüßt uns herzlich. Álvaro fällt Franz um den Hals und beginnt fast zu weinen. Ich sei immer wie eine Mutter für ihn gewesen und er, also Franz, sei immer ernst gewesen und streng mit dem Mercedes vorbeigefahren, er aber hat unseren Sohn und ihn immer in der Wohnung an der Playstation spielenlassen. Álvaro, alkoholisch angeschlagen, ist sehr emotional. Mit seinen siebenundzwanzig Jahren fehlen ihm schon drei Zähne, die wohl nie ersetzt werden. Franz ist sich vor lauter Zuneigung nicht ganz sicher, ob er weiterhin gerührt sein oder sich langsam unwohl fühlen soll. Das Dorf mag uns. Vor allem unsere drei Kinder, die mehr Canarios als Deutsche sind. Die Herzlichkeit hier ist einmalig, ich liebe diesen Menschenschlag.
Auch Franz hat den Abend genossen.