2. Eintrag Bevors richtig losgeht, ein kleiner, giftiger writer’s block. Die Gegenwart ist die Gegenwart, ist die Wahrheit. Aber ist, was wahr ist, auch wichtig? Dichtung und Wahrheit? Die Lüge hat so viele Möglichkeiten, aus der Wahrheit ein paar glühende Funken zu schlagen; drum lass den ehrlichen Ackergaul im Stall, schwing dich auf den Pegasus, der hat Flügel und wird mit Fantasie gefüttert. Er kann dich in heitere Lüfte ziehen oder abwerfen, dann stürzt du ins Unendliche. Ist das nicht verlockend? Du bist ein toter Dichter, aber kein toter Buchhalter. Schreib, was du willst, aber schreib!

Mit diesen Gedanken sitz ich neben der Ex in ihrem Clio, mit dem wir die Insel entlangfahren, bis der Himmel blau wird. Dann ein für mich langer, in Wirklichkeit kurzer Spaziergang am Meer, und die alte Zeit wölbt sich über uns. Sie weiß alles und erzählt trotzdem nur das, was sie schon hundertmal erzählt hat, jetzt wieder, und meine Demenz ist nicht in der Lage, das restlos zu absorbieren. Einiges weiß ich immer noch von dem, was ich nicht mehr weiß. Sie erzählt es trotzdem und meine Laune wird schlecht.

Das Problem ist das Knie, das mich demütigt und zum Krüppel macht: Ich kann wirklich kaum laufen. Ich hätte in München bleiben sollen und mich operieren lassen können, wär vielleicht besser gewesen. Aber jetzt bin ich da, auf wackeligen Beinen. Und sie redet ohne Unterlass, ich kann nicht davonlaufen. Ich schau aufs Meer und auf mein Knie.

Endlich merkt sie es und sagt: Sollen wir umkehren, hast du Schmerzen? JA!

Es stört sie nicht, sie redet weiter. Sie weiß, dass ich übertreibe. Dass ich nicht normal kann. Dass wir uns so furchtbar vertraut sind, macht unsere gemeinsame Sache glitschig. Können wir überhaupt etwas schreiben, was der andere nicht weiß? Und wenn wir beim Schreiben ausrutschen, tritt der andere nach, wenn er schon nicht hilft? Keine Ahnung. Was sie von mir in fünfunddreißig Jahren gelernt hat zu wissen, das bist du für sie. Sie gestattet keine Räume, die sie nicht weiß. Da würdest du ihr ja entgleiten.

Unglücklicherweise hat sie schon als Reiseleiterin Touren mit jeweils fünfzehn alten Menschen durch Teneriffa geguidet. Sie nimmt dich als eine sehr verkleinerte Reisegruppe wahr, wenn sie dich fragt, ob du aufs Klo musst, ob du dich kurz hinsetzen willst, ob du keine Luft kriegst, ob du ein Glas Wasser willst. Ihre Sorge um dich hat etwas Beleidigendes. Sie verortet dich zwischen Altersheim und Friedhof.

Ich weiß nicht, wies weitergeht, wie lang ich das aushalte. Jetzt halt ich es noch gut aus, ich denke an München. Ich denke daran, wie ein Restgreis dasitzt und vor sich hinschaut und definitiv nicht weiß, warum er aufgestanden ist, warum er da ist und wie er sich am besten abschaffen kann.

Also die Bewegung tut gut, die Selbstverteidigung auch, und die Hobby-Krankenschwester, die es bestimmt nicht mit dir, sondern mit sich gut meint, wenn sie dich pampert, schwankt zwischen begeisterter Hilfs-Onanie und „was geht mich das alte Arschloch an?“ Nichts, gar nichts.