9. November Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Als ich in die Küche komme, sitzt Franz total erkältet da. »Mich hat’s erwischt«, sagt er mit triefender Nase. »Das war bestimmt die hustende Dame im Konzert, die dir ihr Virus spendiert hat«, antworte ich. »Hast du einen Test da?« Ja, den hab ich und denke mir, dass da eher der Hypochonder nach Bestätigung schreit. Tief steckt er das Stäbchen in die Nase und rührt darin um bis zum Schüttelreiz. Als zertifizierte Testerin (für zehn Euro online ergattert) stecke ich das Stäbchen in die hochgiftige Flüssigkeit und träufle fünf Tropfen auf den Testerstreifen. Zwei überdeutliche Striche: Covid-19.
Ich mache meine griechische Wolkensuppe, die alles hat, was der Körper so braucht – Vitamine (Karotten), Kohlenhydrate (Reis), tierisches Eiweiß (Suppenhuhn, Eier) und heißes Vitamin C durch mindestens sechs Zitronen. Diese Suppe ist immer angesagt, wenn einer von uns krank ist, egal ob Grippe oder Magen, und hilft auch bei einem kräftigen Kater.
Ich lernte diese Suppe von der Ehefrau meiner Jugendliebe, dem Pianisten Nicolas Economou. Wir führten eine Art »Ehe zu dritt«, allerdings war die Ehe zerrüttet. Es war aber großartig, durch ihn in jungen Jahren die klassische Musik zu entdecken. Musiker wie Martha Argerich und Gidon Kremer waren bei ihm zu Gast. Er passte in mein Männerschema: älter, dominant, mit Aura, Alkoholiker und Genie mit einem Hauch von Wahnsinn. Ein Genie musste her, so suggerierte es mir meine Mutter, und leiden müsse man in Beziehungen auch. »Dans l’amour, il faut des larmes, dans l’amour, il faut donner«, sang Edith Piaf herzzerreißend. Es war das Lieblingslied meiner Mutter und auch ihr Motto. Ohne Tränen und Hingabe gibt’s auch keine Liebe. Punkt basta aus. Und somit war nicht nur ihre Abhängigkeit, sondern auch meine Co-Abhängigkeit besiegelt.
Sie liebte die »Auswahl« meiner Männer und hätte jeden gerne für sich beansprucht – und auch geküsst. Am meisten war sie von Franz begeistert. »Wenn’s den Franzl zwei Mal geben tät, einen davon würde ich heiraten.« Und das war keine Koketterie. »Mami, manchmal hab ich Sorge bei den zwanzig Jahren Altersunterschied«, sie unterbrach mich: »Du musst dir keine Sorgen machen! Wenn dir was passiert, kümmere ich mich um den Franzl.« Auch ihre allerletzten Worte galten ihm und nicht mir. Ich pflegte sie acht Tage lang im Krankenhaus. Aus ihrem Mund kam nur Lallen und Stöhnen, etwa wenn man ihr die Windel wechselte oder sie umbettete. Acht Tage saß ich an ihrem Bett, erzählte viel und machte meinen Frieden mit ihr. »Mami, heute ruft dich der Franzl an«, sagte ich und reichte ihr den Hörer. Da kam etwas Feuer in die leblosen Augen, und als sie seine Stimme hörte, sagte sie klar und deutlich: »Servus, mein Schatzi, wie geht es dir?« Ihre letzten Worte in meinen Ohren. Als ich das Krankenzimmer verließ, liefen mir die Tränen übers Gesicht. Vierzehn Tage später schlief sie friedlich ein in ihrem Haus auf der Alm.
Und just dieses Haus wird nun vom Adoptivsohn meines Onkels verkauft. Im achtminütigen Werbevideo wird ihr Sterbebett als besonderes Highlight angepriesen. »Das ist schon … ja was denn? Eine Tragödie oder eine brutale Farce«, meinte Franz, als er das Video sah.
Ich hab jetzt zwei Geckos im Schlafzimmer. Die Knopfaugen und die runden, dicken Pfötchen. Einfach süße Tiere. Der Druck mit dem Auto ist raus. Das Schicksal hat die Handbremse angezogen. Das werde ich aber nicht Santi verraten – morgen sind’s vier Wochen, dass er an dem Auto schraubt.