28. November »Hey, magst du dich nicht mal umdrehen!« Bis hierher ist alles gut gegangen. Nun lässt mich die Stimme aus dem Schlaf hochfahren. »Du darfst nicht noch mal einschlafen. Du darfst nicht noch mal einschlafen.« Gebetsmühlenartig wiederhole ich den Satz, um mich wach zu bekommen. Das Schiff fährt ruhig. Der Wind pfeift regelmäßig und irgendwelche Teile scheppern in einem ruhigen Rhythmus. Irgendwann wird er wohl schlafen, dann kann ich’s noch mal versuchen. Sonst verlasse ich die Kajüte und schlafe in einem der Liegestühle, den Schlafsack hab ich dabei. Meine Schnarcherei hängt wie ein Damoklesschwert über der Harmonie. Schuldig, ohne zu wissen, wann. Ich höre mich ja nicht. Das wird qualvoll. Da er sich auch keine Ohrstöpsel reintut, bleibt mir nur, auf der Reise nach Unterkünften mit zwei Schlafzimmern zu suchen. Merkwürdigerweise scheine ich nur bei Familienangehörigen zu schnarchen. Freundinnen oder Lover haben sich noch nicht beschwert.
So, nun bin ich wach und nutze die Zeit zum Schreiben. Die Nacht zuvor war auch schon anstrengend, da sehr unruhig. Früh bin ich auf, hab die Wäsche gewaschen, Betten bezogen, Kühlschrank geputzt, hab alles abreisedicht gemacht und gepackt hab ich auch. Um zehn Uhr vormittags bin ich schon erschöpft. Franz ist erstaunlich früh wach. Er nimmt Abschied. Ich koche noch mal zu Mittag. Schnell und lecker. Franz übernimmt den Abwasch, so wie die letzten Tage auch. Lobend hervorgehoben: Es hatte sich eingespielt, dass ER regelmäßig die Küche aufräumt, zumindest einmal am Tag!
Kurz vor der Abreise setze ich mich tatsächlich noch hin und erweitere mein Testament um den digitalen Nachlass plus aktuelle Daten. Das hatte ich mir vorgenommen und nun endlich getan. Völlig unsentimental schreibe ich meine letzten Worte. Peng. Ich quetsche das Konvolut in einen übergroßen Luftpolsterumschlag, klappe ihn in der Mitte und tacker ihn zu. »Sorry für die unromantische Verpackung, hatte kein adäquates Kuvert da«, schreibe ich hinten drauf. Es war mir ein Bedürfnis, dies zu tun. Ich möchte einfach, dass meine drei Kinder keinen Stress nach meinem Tod haben. Ich litt so darunter, weil erwachsene Menschen nicht in der Lage waren, ihren Nachlass zu regeln. Nichts geerbt von Vater (Erbin Witwe), Mutter (manisch-depressiv, nur Schulden), Onkel (im Testament berücksichtigt, aber nicht unterschrieben). Ich hoffe, Franz hinterlässt sein Erbe so, dass kein Chaos am Grab entsteht. Hauptsache, ich hab mein Zeug ordnungsgemäß geregelt.
Endlich alles gepackt und im Auto verstaut. Bilderbuchwetter. Wir fahren los. Muss über den frechen Humor unserer Tochter lachen: »Vergiss nicht, Mama, den Seniorenmaulkorb einzupacken.« Das kam von ihr so spontan, als F. X. seinen rauen »Du-Arschloch-Ton« anschlug. Seemannssprache ist auch rau. Wir fahren nach Santa Cruz und an allen Tankstellen vorbei. Günstiges Tanken vor Abfahrt ist nicht. Franz hat einen Zahn drauf. Wir fahren in den Hafen, stellen uns an und warten. Foto hier, Foto da. Mein »Dekolleté-Selfie« ist besonders gelungen. Meine Haut wirkt wie ein Plisseerock oder eine in die Jahre gekommene Ziehharmonika. Sechsundfünfzig Jahre Sonne schlummern an meiner Brust, haben sich eingraviert. Das Alter ist echt nichts für Feiglinge. Ich denke an die wunderbare Künstlerin Louise Bourgeois, die sich mit vierzig Jahren entschied, keinen Spiegel mehr daheim zu haben. Ihr Spiegelbild störte ihre innere, jugendliche Kreativität.
Es dauert, der Hafenbetrieb ist bunt zu beobachten. Auf die Fähre, geparkt und in unsere Kabine. Die ist groß, geräumig und hat ein Fenster. Wir jubeln. An Deck warten wir auf die Abfahrt. Nach zwei Stunden sitzen wir immer noch da, das Schiff hat sich um keinen Millimeter bewegt. Gottlob können wir um zwanzig Uhr essen gehen. Kaum haben wir den ersten Bissen im Mund, legt das Schiff ab.
Wir sehen die Insel in der Ferne und wie die Lichter am Horizont langsam verschwinden. Adiós, Tenerife, es war wieder mal eine gute Zeit auf »meiner« Insel. Ich liebe diesen Fleck Erde.
Die Luft ist stickig und trocken in der Kabine. Klimaanlage. Kein Wunder, dass ich schnarche.
Ich glaube, jetzt schläft er. Ich probiere es noch mal. Leise, leise, leise. Gute Nacht!
»Das Schnarchgebirge ist abgeflacht«, meinte F. X. in der Früh. Er ist gut drauf und großzügig mit Komplimenten. Nett. Der Klodeckel ist an Bord auch immer unten, aber nicht, weil er seine Gewohnheiten abgelegt hat, nein, sondern weil der Knopf zur Spülung sich direkt hinter dem Deckel befindet. Eine sehr schlaue Konstruktion. Wir schleppen uns vom Frühstück zum Mittag- und Abendessen. Zwischendrin brauche ich einen Kaugummi an Deck, damit die Nahrung unten bleibt. Die Sonne scheint, es ist windig und wir üben uns im Nichtstun. Reinste Entgiftung so ohne Handy. Angenehm, unerreichbar zu sein.