. Ich bin in das Gelbe Haus gezogen, als ich sechs Jahre alt war. Ich stand auf den Stufen im Wind und im aufwirbelnden Sand, und mein Vater zog an der Messingklingel neben der großen Haustür. Gemeinsam lauschten wir dem fernen Bimmeln und den sich nähernden, tapsenden Schritten. Mein Vater vollführte ein kleines Tänzchen auf seinen kurzen Beinen und pfiff.
Es folgten knappe Szenen der Verwirrung und Bestürzung. »Tür zu. Tür zu. Der Sand, der Sand!«, und Menschen standen in der Eingangshalle auf farbigen Fliesen herum.
Wir waren nicht erwartet worden. Mein Vater brachte mich zu meinen Tanten, weil ich dort wohnen sollte — bei der spröden Miss Mary und der sanftmütigen Miss Frances. Sie waren die ältlichen Schwestern meiner jungen Mutter. Meine Mutter war tot.
Ein dickes Hausmädchen führte mich in die Küche, wo ich Tee bekam, und dann wurde ich von der sanftmütigen Tante in ein riesiges Gewölbezimmer geführt, es muss das kleine Morgenzimmer gewesen sein. Ich machte mit der sanftmütigen Tante ein Puzzle, so groß wie ein Kontinent. Ich sah nicht so weit auf, dass ich das Gesicht der Tante gesehen hätte, aber ich beobachtete unsere vier Hände, die über dem Mahagonimeer schwebten.
Dann und wann ging eine Tür auf der anderen Seite des Flurs auf und man hörte schneidende Gespräche, und einmal kam eine Frau mit einem grünen Gesicht und schwarzem Strickzeug in der Hand und gestrickter, schwarzer Kleidung und starrte mich von der Tür des Morgenzimmers aus an. Sie sagte: »Sie sieht tuberkulös aus«, hielt sich das Taschentuch vor den Mund und ging.
Vielleicht ist mein Vater ein paar Tage im Gelben Haus geblieben. Ich erinnere mich an einen Nachmittagsspaziergang mit ihm am Meer, daran, den Wellen davonzuhüpfen, und wie er (schändlicherweise schon morgens) in einem Polstersessel neben dem katafalkartigen Kaminsims im Wohnzimmer saß und döste.
Und an einem Abend hat er gesungen. Ich wusste, dass er ein wirklich fürchterlicher Sänger war, aber er tanzte dazu, und ich wusste, dass er gut tanzte — ein kleiner, schwerer Mann auf leichten Füßen. Seemannsfüßen. Er drehte Pirouetten und wirbelte im Zimmer herum, und Aunt Frances spielte in einer Kaninchenfellpelerine Klavier. Es war ein Lied von der Seefahrt.
Aunt Mary saß abseits. Die gestrickte kleine Frau hatte sich ans andere Ende des Raumes zurückgezogen und beugte sich in einer Laube aus Topffarnen über ihr Strickzeug, und das Mädchen kam mit Kohlen für das Feuer herein, stellte sie ab und barg das Gesicht in seiner Schürze, als es den Gesang hörte. Das war, wie ich bald herausfand, gar nicht ihre Art, denn Charlotte war farblos und beinahe unsichtbar. Aber sie hatte mal in einem Chor gesungen.
Ich saß auf einem Hocker und wusste, dass mein Vater all diese sonderbaren Leute um den Finger wickelte.
Es war 1904, und zwei Monate später starb mein Vater auf der Brücke seines Schiffs in der Irischen See, bei einer Kohlentour nach Belfast. Man sagte mir, er hätte einen Platz im letzten Rettungsboot abgelehnt und sei auf die traditionelle Weise an Bord geblieben — strammstehend in der Kapitänsuniform der Handelsmarine — aber schwankend und eine große Steingutflasche Gin schwenkend. Er war immer ein schnurriger Typ gewesen, sagte Aunt Frances.
Die Türschwelle, die kalten Wellen, der Polstersessel waren meine einzigen Erinnerungen an meinen Vater — dies und die Reise in das Gelbe Haus, die wir zusammen unternommen hatten. Meine Mutter war kurz vor meinem ersten Geburtstag gestorben, und die folgenden fünf Jahre hatte ich bei verschiedenen Pflegemüttern in Hafenstädten verbracht, in denen der Captain möglicherweise hätte anlegen können, das aber meistens nicht tat. Diese Leute verschwammen alle, und am meisten verschwamm die letzte, obwohl sie sich hätte einprägen müssen, denn sie war eine Quartalssäuferin und verbrachte einen beträchtlichen Teil ihres Lebens unter dem Küchentisch. Auch ich verbrachte viel Zeit auf dem Küchenfußboden, zusammen mit den anderen drei oder vier — glaube ich — Kindern in ihrer Obhut. Ich lernte, nicht ins Feuer zu fallen, und wie die Schlösser zur Speisekammer funktionierten, falls ich etwas essen wollte. Manchmal nahm sie mich in den Arm.
Eines Tages tauchte Captain Flint unerwartet auf und stieg mit mir in einen Eisenbahnwaggon erster Klasse (er neigte zur Prasserei), und in einer ganzen Reihe solcher Waggons reisten wir von Wales in den Nordosten.
Ich erinnere mich an Licht und Schatten auf fahlen Feldern — schwarze Städte, kalte Moore —, Steinmauern im Regen und eine Nacht in einem Eisenbahnhotel, nehme ich an, denn unter dem Fenster war ein verrußtes Glasdach. Durch die Ritzen darin stiegen kleine Dampfsäulen auf. Es donnerte und schepperte. Angst und Freude.
Auf den weichen Polstern des vorletzten Waggons, mit den bestickten Deckchen an den Kopfstützen — die für mich viel zu hoch waren —, saßen der Captain und ich nebeneinander. In der Gepäckablage über mir lag ein sehr kleiner Koffer. Auf dem Sitz neben mir ein chinesisches Nähkästchen voller chinesischer Nähsachen — ein Mitbringsel meines Vaters, seine letzte Reise war lang gewesen —, eine kaputtgeliebte Puppe oder so, und ein Porzellanchinese.
Der Zug zuckelte zwischen pflaumenfarbenen Backsteinen hindurch, den Bahnschuppen des Nordens. Sehr edel. Dann kamen hohe Blechschornsteine, Tausendfüßler aus klapprigen Güterwagen, Schlangennester aus Rohren, dann das Watt mit weißlich schimmernden Tümpeln. Es gab feuerspuckende Hochöfen, und manchmal konnte man einen Blick auf glühende Stangen erhaschen, die von riesigen Feuerzangen mitten in die Flammen gehalten wurden.
Vor dem Fenster auf der anderen Seite des Zuges erstreckten sich Felder weit hin bis zu farblosen Hügeln, auf deren Kuppe eine Reihe Bäume stand. Das Licht, das durch sie hindurchfiel, ließ sie aussehen wie Strickmaschen, die von den Nadeln gezogen worden waren. Der Zug schaukelte, und mein Vater pfiff durch die Zähne.
Der letzte Zug hielt an Bahnhöfen, die nur aus hölzernen Bahnsteigen bestanden. Dort stiegen Männer mit entschlossenen Gesichtern ein und aus, aber niemand kam in die Nähe der ersten Klasse. Wenn der Zug anhielt, war es still genug, dass man die Stimmen der Männer durch die Wände hören konnte, und als sie an unserem Fenster vorbeigingen, sah ich ihre markanten Gesichter und leuchtenden Augen und hörte das Quietschen ihrer verbeulten, blechernen Henkelmänner. Die Männer waren allesamt schwarz, aber nicht so schwarz wie die schwarzen Seeleute in Wales, die manchmal ins Haus der Pflegemutter kamen und die, wenn sie sich gewaschen hatten, immer noch schwarz waren. Diese Männer hier waren nur sehr schmutzig, und ihnen rann der Schweiß von der Stirn und hinterließ weiße Streifen. Die Männer in Wales hatten mich in die Luft geworfen, als ich klein war, und mich wieder aufgefangen. Große, weiße Zähne.
Nachdem die letzten Männer ausgestiegen waren, fuhr der Zug aus dem Ruß hinaus und von den Schornsteinen weg und hinauf in die Dünen. In den Dünen sah man in der Ferne das kalte Leuchten des Meeres.
Der Captain teilte eine riesige Fleischpastete. Er nahm sie aus einer fettigen Pappschachtel, riss sie mit der Hand in zwei Teile und legte die beiden Stücke ganz behutsam auf das chinesische Nähkästchen. Ich spürte interessante Widersprüche in meinem Vater. »Das«, sagte er, »ist eine herrliche Pastete. Es gibt wirklich gute Fleischpasteten. Dies ist eine herrliche Pastete.«
Es war Aunt Mary, die ältere Schwester, die mir mitteilte, dass er tot war. Sie stand sehr aufrecht an meiner Schlafzimmertür und wartete, bis Aunt Frances mir das Haar fertig gebürstet und geflochten hatte. Ich erinnere mich nicht an den Wortlaut, nur an die gestärkte weiße Schleife unter Aunt Marys Kinn. Ihr Haar unter der Haube war silbrig fahl, und die Stoppeln an ihrem Kinn waren ebenfalls silbrig. Hinter ihr im Regal stand das chinesische Nähkästchen mit dem Porzellanchinesen obendrauf. Sein Kopf steckte in einem Loch in den Porzellanschultern und nickte im Gleichtakt mit dem Auf und Ab der gestärkten Schleife. Durch das offene Schlafzimmerfenster wehte ein kalter Wind herein. Ein gläserner, blitzender, erbarmungsloser Morgen, das Meer brüllte.
Ich sagte (glaube ich): »Kann ich jetzt rausgehen zu den Hühnern?«, und rannte an Aunt Mary vorbei auf den Hof. Durch die Rauten des Hühnerzauns nickten der Chinese und die Schleife immer noch im Takt. »So ist das jetzt«, sagten sie. »Es ist passiert. Das muss man ertragen.«
Die Hühner hüpften auf ihre Stangen und wieder hinunter und unterhielten sich in langen, eingerosteten Sätzen miteinander, und ich wickelte die Finger um den Zaun. Dann kam Aunt Frances und nahm mich mit ins Haus und gab mir in der Küche Zitronengelee — mitten am Vormittag. Die grüngesichtige kleine Frau beobachtete mich vom Treppenfenster aus, als wir über den Hof gingen.
Anfangs war es das Licht, das mir Schwierigkeiten bereitete. Das Licht und der viele Platz im Gelben Haus. Das Licht kam von allen Seiten aus dem überwältigenden Himmel ins Haus. In Cardiff und Fishguard hatte es nur wenig Himmel gegeben, und das bisschen Licht war nur eine Reflexion von den verregneten Schieferdächern der gegenüberliegenden Reihenhäuser gewesen.
Hier peitschte der Wind die Wolken über die Hügel und die Marsch und die Dünen und das Meer, bis das Haus zu schwanken schien wie ein Schiff. Ich weiß noch, dass ich mich oft an irgendetwas festhielt.
Für ein Gesicht auf Türknaufhöhe lagen die Decken und Kranzgesimse weit oben in der Atmosphäre. Zwischen dem gefliesten Eingang und der Treppe erstreckte sich eine komplette Landschaft, und man musste sich gut am Treppenpfosten und am Geländer festhalten. Der Salon war ein Dschungel von Tischen und Teppichen und Hockern und Vitrinen, das Esszimmer die Hölle. Menschen saßen da, schweigend, weit voneinander entfernt, ihre Kiefer mahlten und mahlten. Meine Augen waren auf der Höhe schwerer Gabeln und Löffel. Die Messer waren für Riesen. Unheil lag im Esszimmer.
Vor und nach dem Essen wurde feierlich gebetet, so feierlich, dass die Sonne es bemerkte und nicht hereinschien, wie sie es im Rest des Hauses tat, obwohl man sie draußen sehen konnte, wie sie fröhlich Richtung Jütland winkte.
Dass ich all das empfand, als ich sechs war, weiß ich wegen der Höhe der Ligusterhecke vor dem Fenster, einem armen Ding, ganz verwittert von der salzigen Luft. Sie ist in all den Jahren nie größer geworden als einen Meter, aber damals versperrte sie mir die Sicht.
All diese frühen Mysterien sehe ich noch sehr klar vor mir — Gabeln und Liguster; durch die gläserne Obstschale gucken, und über mir klopften die Eicheln an die Fensterläden.
Aber ich kann mich überhaupt nicht an den Tag erinnern, an dem mein Vater ging. Vielleicht habe ich es nie gewusst, oder vielleicht ist er nachts gegangen, als ich schon im Bett lag. Aber ich weiß noch genau, was in dem Moment passiert ist, als er weg war.
Wasserschüsseln wurden auf den Küchentisch gestellt, auf dem vorher Zeitungen gelegen hatten, es wurde ein Klumpen milchiger Seife herausgeholt, die aussah wie ranzige Butter, dazu eine schwarze Flüssigkeit in einer Flasche, und dann begann das große Haarewaschen. Ich kreischte, und Charlotte rubbelte und goss und wirbelte herum und sagte: »Na, kreischen kann sie jedenfalls«, und Mrs Woods — die gestrickte kleine Frau — stand an der Küchentür und schaute zu. Sie sagte: »Gut in die Wurzeln einmassieren.«
Dann, nach sturzbachartigem Ausspülen, musste ich mit dem Rücken zum Tisch sitzen, mein Haar wurde auf den Zeitungen ausgebreitet, und Charlotte zupfte darin herum und zerrte einen Kamm hindurch, einen Kamm mit feinen Zähnen wie die Rückengräte eines Fischs. Einer Seezunge. Ich kreischte und sagte ein paar Worte aus Cardiff. Charlotte schluckte laut, und Mrs Woods schrie auf wie ein Papagei.
»Sind da welche?«, fragte Mrs Woods.
»Nee«, sagte Charlotte.
»Sicher? Die Waliser sind ziemlich schmuddelig.«
»Keine einzige.«
»Würdest du sie erkennen, Charlotte?«
»Allerdings. Unten in den Cottages haben sie jede Menge.«
Dann ging Mrs Woods schnell weg, und ich setzte mich auf den Kaminschutz, wo Charlotte mir das Haar trockenrubbelte.
»Kein schlechtes Haar«, sagte sie. »Das muss man sagen. Als nächstes kümmern wir uns um deine Kleider.«
Ich erinnere mich an die Kleider. Sie kamen aus dunklen Geschäften weit weg in einer schwarzen Stadt, möglicherweise Middlesborough. Zwei dünne Damen änderten sie für mich, in einem Haus, das für Prinzessinnen gebaut war — es hatte eine Turmspitze und lag am Ende weißer Reihenhäuser irgendwo am Meer nach einer langsamen Fahrt in einem Einspänner.
Lange, lange Nachmittage, Aunt Frances saß in der Nähe und aß Teekuchen, während ich mich auf einem Tisch immer wieder drehte und mit Stecknadeln besteckt wurde. Eine der Näherinnen hatte kreisrunde rote Wangen aufgemalt, beide trugen Perücken. Eine streichelte mich einmal von oben bis unten und schnurrte wie eine Katze, als Aunt Frances nicht im Zimmer war, und ich schrie und trat um mich und sagte wieder die walisischen Worte, und die Dame wurde auch über die roten Kreise hinaus rot im Gesicht, und das muss der letzte Besuch dort gewesen sein.
Dann die Bündel auf dem Bett, die offenen Kommoden mit frischem Schrankpapier darin, die schweren Wollhemden, die Bauchbinden und Mieder und langen Unterhosen und Rüschenschlüpfer und Unterröcke mit Trägern und flachen, leinenbezogenen Knöpfen; die Strümpfe und Strumpfbänder und Gamaschen und Knopfhaken; die Mäntel und Hauben und Fäustlinge und Tam O’ Shanter-Mützen und der Sonntagshut mit Krempe; und die Schuhe für drinnen und Schuhe für draußen und die dicken Wollstulpen und die Galoschen und ein Paar Stiefel, das mit Blei gefüllt zu sein schien.
Charlotte sagte: »In denen fällst du besser nicht ins Moor. Da versinkst du wie ein Anker.« Die Stiefel waren schwarz wie Eisen. Alle anderen Kleidungsstücke waren graubraun.
Als die Kommodenschubladen und der Schrank voll waren und ich alle Schichten anhatte wie eine dicke Zwiebel, sagte Charlotte: »Das ist doch was!«
»Ich finde, sie sieht sehr hübsch aus«, sagte Aunt Frances, als ich ins Wohnzimmer geschoben wurde.
»Mehr konnten wir nicht tun«, sagte Mrs Woods.
Aunt Mary sagte nichts, denn sie schien nichts wahrzunehmen. »Komisch«, sagte sie, »für Kleidung kann ich mich gar nicht begeistern.«
Das verstand ich. Ich fühlte mich unbehaglich und gedrungen, ich war plötzlich so umfangreich. Ich blickte auf eine Kugel hinunter, an der unten zwei schwere Stöcke hingen. Ich setzte mich auf den Sessel und ließ diese Gewichte baumeln.
»Humpty Dumpty sat on a wall«, sang ich.
»Baumel nicht mit den Beinen, Polly«, sagte Mrs Woods. »Nicht in diesen schönen Stiefeln.«
»Ich habe fast gar keinen Hals, oder?«, fragte ich Charlotte, als ich vor dem Zubettgehen in den Spiegel sah. Auf dem Bett wartete ein neuer Haufen Kleider, in denen ich für die Nacht fertiggemacht wurde.
Charlotte sagte: »Vielleicht kommt das noch.«
Nicht ein Mal, kein einziges Mal nach den kurzen Überraschungsschreien am allerersten Morgen kam es meinen Tanten in den Sinn — sie hießen Miss Younghusbands —, dass ich nicht für immer da sein könnte.
Es war gar keine Frage. Ich gehörte ihnen. Ich war angekommen und würde bleiben. Sie haben in all den Jahren nie angedeutet, dass sie gut zu mir waren oder dass ich auch nur den geringsten Grund zur Dankbarkeit hätte oder dass ich auf irgendeine Weise in ihr Leben eingedrungen sei.
Tatsächlich war mir recht bald selbst nicht mehr ganz klar, ob ich jemals anderswo gelebt hatte, und die Zeit, bevor ich auf den sandigen Stufen angekommen war, versank im Nebel. Es kam mir vor, als wäre ich im Gelben Haus geboren worden, dort abgeliefert ohne die ganzen Peinlichkeiten und Zumutungen von Zeugung und Geburt.
Diese absolute Gewissheit von Aunt Mary und Aunt Frances war so großartig und so still, dass sie sich im ganzen Gelben Haus auszubreiten schien, und nicht einmal Mrs Woods erhob Einwände, nicht einmal, wenn wir allein waren, was ich tunlichst vermied. Charlotte schien ohnehin alles zu akzeptieren, was ihr begegnete. Das Leben ging einfach weiter.
Es war natürlich keine Rede davon, mich liebzuhaben, noch gab es sonstige Zuneigungsbekundungen, aber das machte nichts, denn ich hätte auch nicht gewusst, wie ich mit Liebe hätte umgehen sollen. »Sie ist wirklich ein braves Kind«, sagten sie. »Was für ein braves kleines Mädchen sie ist.« Das sagten sie sogar vor mir, was ich wirklich nett fand. Nach den dunklen, heruntergekommenen Jahren war es schön, mit Güte bedacht zu werden. Es war, wie ins Bett gebracht und zugedeckt zu werden, was Aunt Frances manchmal tat, und dann setzte sie sich noch ans Fußende und lächelte mich an und erzählte mir fromme Geschichten über irgendwelche Apostel und die Heiligen, während ich meine Milch trank. »Kein besonders offenes Kind«, sagten sie manchmal, und auch das durchaus vor mir. »Überhaupt nicht wie ihre Mutter. Aber vielleicht ist das ganz gut. Mit noch einer Emma wären wir nicht zurechtgekommen. So ein stures Ding. Aber sie ist gut. Und wenn man bedenkt …«
Ich hörte zu und beobachtete und gestattete es mir nach und nach, dass man sich um mich kümmern durfte, und ich war etwas verärgert, als ich sehr schnell feststellte, dass Gutsein zwar ein Geschenk Gottes war, ich mich aber dennoch darum bemühen musste. Denn anscheinend konnte ich es auch wieder verlieren. Ich musste es festhalten. Ich musste mich daran klammern wie an den Treppenpfosten, wie an die Schnur eines Drachens. Ich musste es im Auge behalten wie meine neuen Kleider. Sobald ich Anzeichen von Verschleiß und Abnutzung entdeckte, sollte ich es berichten.
Dafür waren die Samstage da, nachdem die drei Damen selbst zur Beichte in der Kirche gewesen waren. Ich wurde zu Aunt Mary gebeten, saß mit ihr am Fenster ihres Arbeitszimmers, und wir sprachen über Sünden. Ich wusste von Anfang an, dass diese Gelegenheiten die einzigen waren, bei denen sie von mir enttäuscht war, und von sich selbst, denn sie sah ihr eigenes Versagen darin. Ich fürchtete mich vor den Samstagen.
»Also, Polly, ist das alles?«
»Ja, Aunt Mary.«
»Du hast wirklich nichts vergessen?«
»Nein, Aunt Mary.«
»Tritt nicht gegen die Fensterbank, Polly. Wollen wir einen Moment schweigen?«
Wenn wir schweigend dasaßen, kam alles Mögliche aus der Vergangenheit in mir hoch, aber ich wusste nicht, ob es da wirklich um Sünde ging.
»Was denkst du, Polly?«
»Nichts, Aunt Mary.«
Aber ich hatte die Quartalssäuferin an der alten, schmutzigen Spüle stehen sehen, wie sie plötzlich die Röcke hochraffte und in eine Schüssel pinkelte.
»Wollen wir ein Gebet sprechen, Polly?«
»Ja, Aunt Mary.«
Und dann war da noch der Mann, der nachmittags kam und mit ihr in der Küche Dinge tat. Auf dem durchgesessenen Sofa liegen und sich auf sie rollen und ihre Beine spreizen und Geräusche machen und grausam zu ihr sein, aber es machte ihr nichts aus.
»Ich möchte gern über Engel sprechen«, sagte Aunt Mary. »Du weißt doch, dass es Engel gibt, oder? Glaubst du an Engel?«
»Ja, Aunt Mary.«
»Wenn du sehr brav bist, siehst du vielleicht einen. Meistens sind sie unsichtbar, aber wenn du sehr brav bist — in einem Zustand der Gnade, so nennen wir das —, dann kannst du vielleicht einen sehen. Man erkennt sie an ihrem strahlenden Gewand. Was bedeutet Gewand, Polly?«
»Kleidung.«
»Du hast Gewänder, Polly.«
Ich dachte an meine Gewänder. Die Berge von Unterhemden.
»Und wenn du die strahlend hältst …?«
Ich dachte an die Bauchbinden. Ich dachte an die Männerhosen auf dem Küchenfußboden.
»Wenn du dein Gewand strahlend hältst, Polly — das Gewand deiner Seele —, dann kannst du womöglich deinen eigenen Schutzengel sehen. Vielleicht erhaschst du einen Blick auf eine schimmernde Feder.«
»Wo denn, Aunt Mary?«
»Irgendwo, wo auch immer du bist.«
Ich sah mich selbst in verschiedenen unangemessenen Situationen — wie ich mich zum Beispiel an die riesige hölzerne Rundung der Klobrille klammerte, ganz fest, vor lauter Angst zu verschwinden und ins Meer gespült zu werden. Auf der Toilette konnte man sich wirklich keinen Engel vorstellen. Aber selbst da hätte ich gern einen gesehen. Draußen in der Marsch war es wohl wahrscheinlicher.
Während meine Tante über Heilige und Sünder sprach, ließ ich den Blick wandern. Die Regale im Arbeitszimmer waren voller Bücher. Bis ganz oben hin. Hoch oben verschwanden sie im Schatten. Die hölzernen Fensterläden waren fast immer verschlossen, um die Bücher vor Meereslicht und Sonne zu schützen, und sie wurden zweimal die Woche abgestaubt, wenn auch selten gelesen, denn sie waren wertvoll. Die Regale waren dunkelrot gestrichen und die Böden auf unterschiedlichen Höhen angebracht, damit die Bücher es bequem hatten, denn die Regale waren die Diener der Bücher, nicht umgekehrt. Jeder Titel war zu lesen. Nichts wurde hineingequetscht oder stand schräg oder war umgefallen oder lag auf der Nase, die Bindungen waren alt und dunkel. Wenn man eins herauszog, waren die Deckel heller als die Rücken und changierten in Rosé und Blau und Kastanienbraun und Grün wie Dachblei. Sie wirkten wie Bücher, die einmal sehr geliebt und benutzt worden waren, und wenn meine Sünden in der Woche nicht zu schlimm gewesen waren und ich mir ein paar zusätzliche ausgedacht hatte, die ich loswerden konnte, dann las Aunt Mary mir ein bisschen daraus vor.
Aunt Mary unterrichtete mich jeden Morgen im Arbeitszimmer, und nachmittags gab Aunt Frances mir Klavierstunden. Mrs Woods machte eine furchterregende halbe Stunde Französisch mit mir, und später auch ein bisschen Deutsch, im Morgenzimmer, das zur Teazeit bereits keine Sonne mehr hatte. Nach dem Tea saß ich normalerweise mit Charlotte in der Küche. Charlotte brachte mir nichts bei, sondern schälte einfach weiter Kartoffeln oder knetete Teig, als wäre sie allein. Aber ich beobachtete sie.
Ich beobachtete alle. Wenn Aunt Mary merkte, dass ich sie beobachtete, sah sie streng zurück. Aunt Frances lächelte mich sofort an und nickte. Mrs Woods wandte sich ab.
Charlotte glotzte nur. Das heißt, ihr Gesicht veränderte sich überhaupt nicht, sie behielt immer etwas darin, das wie ein Lächeln aussah — bis man noch einmal hinsah und feststellte, dass sie nur die roten Lippen hochzog, die einmal rosig gewesen sein mussten, und das Ergebnis war ein Ausdruck zielloser Unterwürfigkeit.
Aus der Ferne sah das Gesicht hübsch aus, und Charlotte stand in dem Ruf, gutmütig zu sein, aber ich glaube, mir war sehr bald klar, dass das, was sie zwischen Nase und Kinn herumtrug, etwas anderes war. Es war kein echtes Zähnefletschen — aber etwas in die Richtung. Eine Art Verkleidung. Eine Maske. Wenn das Lächeln verschwand, stellte es sich als Fälschung heraus.
Ich entdeckte bald, dass es noch ein weiteres Rätsel um Charlotte gab. Eines Tages, vielleicht in meinem zweiten Jahr im Gelben Haus, ging ich auf den Dachboden hinauf in Charlottes Zimmer, als sie ihre Schwester in den Cottages am Fisherman’s Square besuchte, und unter ihrem eisernen Bettgestell fand ich einen Sack Brotkrusten. Brot ohne Kruste war Aunt Marys einzige Extravaganz, und in diesem Papierbeutel steckten abertausende Brotrinden, die obersten wurden grünlich und rollten sich auf. Ich sagte niemandem etwas davon und sorgte dafür, dass ich in Zukunft nicht mehr daran dachte.
Charlotte selbst war permanent am Waschen und Schrubben und Scheuern — sie nahm Vorhänge ab, zog Tischdecken vom Tisch, hängte schwere Teppiche an Seilen im Hof auf und bearbeitete sie mit Teppichklopfern. Dreimal die Woche wurde genügend Kleidung für eine ganze Anstalt vom Wind schranktrocken geblasen, eine furchteinflößende Armee aus Bannern, wenn man ans Bügeln dachte. »Eine wie Charlotte bekommen wir nie wieder«, sagten meine Tanten manchmal. »Was haben wir für ein Glück mit ihr«, und Charlotte zog die roten Lippen zu ihrem Nichtlächeln hoch.
Charlotte selbst allerdings wirkte nie sauber. Ihre Kleider waren zerdrückt, ihr Haar immer fettig, die Haube mit speckigen Klämmerchen festgesteckt. Ihre Füße wirkten irgendwie matschig, und sie roch zwar nicht gerade, aber irgendetwas war da.
Ich hatte nie das Gefühl, dass sie mich mochte — wie ich es auch bei Mrs Woods nie hatte, auch wenn sie beide in Moll ein Loblied auf mich sangen —, und Mrs Woods war manchmal etwas erregt, wenn ich nicht ganz auf dem Damm war, denn in ihrer Religion spielte Krankheit irgendeine mystische Rolle. Unser Herr hatte gelitten. Wir sollen es Ihm nachtun. Eo ipso war für Mrs Woods eine Krankheit etwas Heiliges. Vielleicht fünf oder sechs Jahre lang — vielleicht auch viele mehr — dachte ich, dass »lasst die Kindlein zu mir kommen, denn ihnen gehört das Reich Gottes« bedeutete, dass Jesus für Masern und Mumps und all das war, weil man davon sterben und in den Himmel kommen konnte, und das machte mich nachdenklich. Trotz aller Fürsorge und Großzügigkeit und Geborgenheit und allem Zuspruch, die das heimelige Gelbe Haus atmete, wurde ich Gott gegenüber misstrauisch. Sehr misstrauisch.
Die Zeit verging im Gelben Haus. Eins nach dem anderen müssen die Jahre gekommen und gegangen sein, Sommer blitzten über die Marsch und Winter bedeckten sie mit Schnee. Das Haus — es hieß Oversands — war sehr hoch und groß und fremdländisch mit seinen flach abfallenden Dächern und zwei Giebeln, die nach Zypressen verlangten. Es erinnerte an die Flitterwochen meines Großvaters Younghusband in Siena, denn er hatte es gleich nach seiner Rückkehr erbauen lassen und die Anbringung Medici-artiger Gitter an den Speisekammerfenstern und die Vertäfelung der großen Haustür angeordnet, die er immer zu einem Majolika-Nachbau der florentiner Baptisteriumstüren machen wollte. »Ein vergnügter Mann«, nannte Aunt Frances ihn. Jeden Morgen, sagte sie, stürmte er aus dem Gelben Haus und rannte ins Meer, nur im halben Ornat — Kollar und ein altmodischer schwarzer Tellerhut, den er beim Rennen abwarf. Sein waren die Bücher und sein war die riesige Fotografie von einer Donnerwurz, die im Arbeitszimmer über dem Kamin hing. Er war ein großer Sänger von Kirchenliedern gewesen und wusste alles über alte Steine.
Oversands blickte auf das Deutsche Meer hinaus, die Rückseite ging ins Binnenland. »Grandfather war ein Möwenmann«, sagte Aunt Mary, und das war rätselhaft, bis ich verstand, dass er viel Zeit damit verbrachte, aufs Meer zu starren und nach Lachmöwen Ausschau zu halten, denn die waren sein Spezialgebiet. Zwischen der Hintertür und den Cleveland Hills lag nur die Marsch.
In der Marsch lagen, weit voneinander entfernt, ein paar wenige, aber überraschende Gebäude: eine Kirche, ein Nonnenkloster, ein unfertiger Prunkbau und weit weg, über die Hügel, in einem Hain, lag ein langes, edles Bauwerk — The Hall. Daneben stand ein kleiner Kuppelbau, der bei Sonnenlicht golden schimmerte.
Auf der anderen Seite der weiten Bucht lag ein Nest von Fischer-Cottages, die nahezu im Sand versanken, und etwas weiter landeinwärts plötzlich einige Reihenhäuser, wo die Schneiderinnen lebten — eine Häuserreihe, die aussah, als wäre sie in ihrer Blütezeit irgendwo anders rausgetrennt worden und würde am liebsten nach Bath verschwinden.
Am nördlichen Horizont hatte der Himmel eine Art blauen Fleck, dort lagen die Eisenhütten, die Teufelsküche, durch die mein Vater und ich im Zug geklappert waren, und wenn der Wind von Norden kam, hörte man manchmal ein beunruhigendes Brüllen von dort, ein lautes Branden wie von der Flut; aber normalerweise waren die Marsch und alle, die dort lebten, sehr ruhig.
Nur der Nordostwind war verstörend, und der blies fast täglich. Er schob Sand vor dem Fisherman’s Square zu einem Barriereriff zusammen, das weggeschaufelt werden musste, was ebenso ein Teil des Lebens war wie der Waschtag. Er wehte Sand auf die Frühstückstische in den weißen Reihenhäusern und in die feinen Ritzen im Marmor der Bewohner der goldenen Kuppel, die glücklicherweise tot waren, denn es war ein Mausoleum. In stürmischen Nächten heulte und tobte er um das Nonnenkloster, das teilweise als Genesungsheim für die Armen aus den Eisenhüttendörfern jenseits der Dünen diente, und machte ihnen Kopfschmerzen, wenn sie auf den heilsamen Balkonen lagen; am heftigsten blies er in und auf und um und durch das Gelbe Haus, das am nächsten von allen am Meer stand, er rüttelte an den Schiebefenstern, riss Pfannendeckel von Charlottes Regalbrettern und zerrte und zog an Aunt Marys ungewöhnlichen Kleidern. Aunt Mary trug einen Florence-Nightingale-Schleier — die alte Schwesternuniform aus dem Arbeiterkrankenhaus — und sah aus wie eine schwarze Braut. Dieser Aufzug war eine Deklaration und ihr ganzer Stolz, er zeigte, dass sie nicht nur die Tochter eines Erzdiakons war, sondern auch einmal für Verbrennungen zuständig gewesen war. Bei Wind schüttelte Mrs Woods den Kopf und griff nach ihrem Einreibemittel. Er jaulte und knurrte in den Dachsparren des unvollendeten Prachtbaus, des Hauses, das der millionenschwere Besitzer der Eisenhütte über Jahre als Wochenendhaus am Meer hatte bauen lassen.
Aber wenn der Wind nachließ, war die Marsch komplett still, bis auf die Vögel und die Glocken. Die Vögel kreisten und schrien, sie beobachteten das Meer und das Land und die wenigen Menschen, die sich darauf bewegten. Die Glocken zählten die Zeit — die Kirchenglocke mit einem düsteren Schlag, der jede Stunde zu einer Beerdigung machte (sie war die wichtigste), die Glocken des Klosters kanonisch und komplex, und die Stallglocke von The Hall weit weg und ungewiss — klar und dünn, alt und bezaubernd.
Manchmal blendete die Marsch geradezu. Manchmal war sie so blass und unscheinbar, dass sie nur die Fortsetzung des Meeres zu sein schien. Die Fischer sagten, wenn man hundert Meter vom Land entfernt war, verschwand sie komplett, die Wellen türmten sich darüber und schienen direkt die Hügel zu umspülen. Der Kirchturm guckte aus dem Wasser heraus, und die Glocken schlugen schaurig aus dem Nichts.
Aber wenn man in der Marsch lebte, war sie gut zu sehen und von großer Schönheit. Blaugrüne Salzschwadengräser, schemenhafte Strandfliederfelder spiegelten den Himmel und wurden in ihm gespiegelt, und die Gebäude zwischen Salz- und Süßwasser und dem dräuenden Himmel sorgten für Tiefenschärfe und Verbindlichkeit in einer Umgebung, die sonst im Ungefähren verblieben wäre. Nonnen und Fischer gingen ihren Geschäften nach — die Fischer zogen ihre Boote auf Rädern über den Sand, die Nonnen flackerten in Schwarzweiß auf ihren Balkonen auf, zwischen den scharlachroten Decken der Kranken, oder dann und wann am Strand, wo sie manchmal lachten und ganz verrucht ihre Sandalen in den Händen hielten. Sie schubsten einander und quietschten wie die Bauernjungs, aber nur an den ganz flachen Stellen.
Aunt Frances und ich gingen in meinen ersten sieben Jahren im Gelben Haus fast jeden Tag in der Marsch und am Strand spazieren. Aunt Mary kam gelegentlich mit uns in die Marsch, schien sie aber nicht wahrzunehmen. »Dann haben wir das Meer ja gesehen«, sagte sie einmal. »Was machen wir jetzt?« Charlotte lief in alle Richtungen in der Marsch herum, aber so wenig wie möglich, und Mrs Woods durchquerte sie, aber nur auf dem Weg zur Kirche. Die positive Wirkung von Ozon hatte sich noch nicht zu uns herumgesprochen. »Die Marsch ist tödlich«, sagte Mrs Woods. »Ich habe in Afrika gelebt, ich verstehe etwas von stehenden Gewässern.«
Es gab nur ganz wenige Ausflüge, und sehr wenige davon waren auf Kinder zugeschnitten. Selbst Weihnachten verging nahezu unmerklich. Aber an einem Frühlingstag, als ich acht Jahre alt war, wurde ein großer Ausflug angekündigt. Aunt Mary und ich sollten zum Tea in The Hall gehen, zu Lady Vipont, Aunt Marys ehemaliger Kollegin. Nicht direkt eine Krankenschwesternkollegin, aber eine Frau, die sehr eng mit der Krankenpflege verbunden war, auf eine christliche Weise. Danach hatte Lady Vipont das sonderbare Nonnenkloster in der Marsch gegründet, The Rood, und dann das Genesungsheim. In grauer Vorzeit war sie eine junge Frau gewesen, und Aunt Mary hatte nicht weit von ihr gewohnt. Sie waren zusammen auf Ponys geritten. Lady Vipont war stark von Grandfather Younghusband beeinflusst gewesen und hatte ihm oft zugehört, wenn er über alte Steine sprach. Sie hatten zusammen Urlaube in Danby Wiske verbracht, anscheinend irgendwann vor Anbeginn der Zeit.
»Du gehst zum Tea in The Hall«, sagte Charlotte.
»Wer wohnt da?«
»Eine alte Dame. Und ein kleines Kind. Ihre Enkelin. Nicht viel älter als du. Sie ist meistens im Internat.«
»Ist sie ein Waisenkind?«
»Sie ist irgendwas. Irgendwie komisch. Ihre Großmutter — Lady Vipont — kümmert sich um sie. Du sollst ihre Ferienfreundin sein.«
»Wie heißt sie? Ist sie wie ich?«
»Ihr Name ist irgendwie besonders. Sie ist elf.«
»Ist da ein Mädchen?«, fragte ich Aunt Mary in der gemieteten Kalesche.
»Ein Mädchen? Oh, ja. Ein kleines Mädchen. Lady Viponts Enkelin Delphi.«
Wir ratterten die unkrautbewachsene Einfahrt mit überhängenden, großen Bäumen hinauf bis zu einem Torbogen und fuhren hindurch in einen Innenhof mit einem runden Gebäude und einer Kapelle dahinter. Am anderen Ende des Innenhofs lagen blasse, flache Stufen zwischen zwei Urnen auf Säulen. Dort stand ein junger Mann in einer Art Livree mit offenem Mund und pulte sich mit einem Stöckchen zwischen den Zähnen.
Als wir ausstiegen — Aunt Mary in Schwesterntracht, wie immer —, hörte er damit auf und kratzte sich stattdessen am Po, dann stolperte er in seinen Kniebundhosen vorwärts und blieb verunsichert stehen. Aunt Mary sagte: »Zu Lady Vipont? Miss Younghusband und Miss Polly«, und während er noch darüber nachdachte, was als nächstes zu tun wäre, tauchten um die Ecke der Kapelle eine große Schubkarre und zwei lachende Mädchen auf. Die Schubkarre war voller Gesangbücher. Die Mädchen blieben stehen, als sie uns sahen, ließen die Griffe der Schubkarre los und sahen einander an. Die beiden prusteten los, und ich wusste, dass sie über uns lachten.
»Kommen Sie bitte hier lang«, sagte der Zahnreiniger mit einem angedeuteten Kopfnicken, und Aunt Mary und ich wurden ins Haus geführt, wo in einem riesigen und eiskalten Marmorsalon ein paar durchscheinende, mit schwarzer Seide behängte Knochen saßen. Lady Vipont blickte auf die aschfahle Terrasse und in den aschfahlen Himmel.
»Mary, Liebes — und die Kleine. Polly, Emmas Polly!«
Aunt Mary setzte sich in einen goldenen Sessel, dessen goldener Satinbezug hier und da abgewetzt war. Aus den Löchern quoll Polsterung, die ursprünglich von Händen aus dem achtzehnten Jahrhundert dort befestigt worden war. Ich blieb hinter dem Sessel stehen.
»Kann Polly zu den Kindern gehen, Lavinia?«
»Kinder?«
»Da waren Kinder im Innenhof. Mit einer Schubkarre voller Gesangbücher.«
»Ach, liebe Mary, nein! Keine Gesangbücher!«
»Es waren unverkennbar welche.«
»Keine Gesangbücher«, sagte die aufrechte, durchscheinende kleine Dame zu den beiden Mädchen, die jetzt hereinkamen — ein bronzefarbenes und ein silbernes. Hinter ihnen schien noch der Schatten eines Jungen zu schweben. Ein Phantom.
»Delphi — was höre ich da über eine Schubkarre?«
»Zum Verfeuern. Die kann man nicht mehr brauchen, sie sind schon ganz schimmelig. Da kommen Pilzsporen rausgeflogen. Man kriegt keine Luft mehr.«
»Also, Delphi, wer hat dir gesagt, du sollst die Gesangbücher nehmen?«
»Der gesunde Menschenverstand. Wenn wir die nicht verfeuern, haben wir gar nichts. Zumindest nicht, bis die Bäume gefällt sind, und wer sollte das tun? Wir müssen warten, bis sie von allein umfallen. Diesen Winter erfrierst du. Und die Gesangbücher sind wirklich verfault. Wir benutzen sie sowieso nicht.«
»Das ist Polly. Polly Flint. Das ist Delphi und ihre beiden kleinen Freunde aus … ähm, ab mit euch, geht spielen.«
Ich ging in meinen schweren Kleidern und den Uniformgamaschen über den gewichtigen Stiefeln langsam, einen Schritt nach dem anderen, hinter den großen Mädchen her, die lachend vorausliefen.
Der Schattenjunge im Hintergrund schien eine Art Freundlichkeit zu verströmen, aber draußen rief er: »Ich muss gehen«, und verschwand. »Wir gehen dann ins Mausoleum!«, rief eins der Mädchen — das bronzefarbene mit den roten Haaren, »wenn wir noch eine Ladung geholt haben.« Sie hatte kurze, starke Arme und beugte sich über die Schubkarre, in der das silbrige Mädchen saß und sich an den Seiten festhielt. Sie rannten quietschend über das Kopfsteinpflaster, vorbei an all den Stalltüren mit den wackligen Scharnieren. »Stop!«, rief das Mädchen in der Schubkarre an den Stufen zu dem runden Gebäude, erhob sich vorsichtig und stand würdevoll auf. Sie war lang und schmal. Sie stieg gekonnt aus.
»Das ist Delphi, ich bin Rebecca. Rebecca Zeit«, sagte die Bronzene. »Hallo, Kind. Wir klauen Gesangbücher aus der Kapelle.«
»Diese grässliche Kapelle«, sagte Delphi. »Großmutters Kapelle. Voll mit toten Vögeln und Sargständern und schrecklichen Echos und kaputten Öfen.«
»Wir machen die Öfen an. Und wir gucken uns ihre toten Vorfahren an. Willst du mitkommen und dir die toten Vorfahren angucken? Delphi, können wir unseren Tea mit hier rausnehmen? Ins Mausoleum?«
»Wenn du willst.«
»Meinst du, sie erlauben das?«
»Wenn ich es ihnen sage. Ich sag ihnen Bescheid.« Und weg war sie.
»Was ist ein … was du gerade gesagt hast?«, fragte ich die rothaarige Rebecca.
»Ein Mausoleum? Das ist, wo die Toten hinkommen, wenn sie wichtig genug sind und aus derselben Familie stammen. Komm, ich zeig’s dir.«
»Ich will keine Toten sehen.«
»Das sind nur Statuen. Die Skelette sind unter dem Boden. Komm schon, das musst du dir anschauen.«
»Nein, ich gucke mich lieber draußen ein bisschen um.«
»Guck dich lieber drinnen um. Willst du nichts Neues lernen?«
»Nein.«
»Delphi — sie traut sich nicht rein. Sag ihr, sie soll reinkommen.«
Aber Delphi, die eben zurückkam, würdigte mich keines Blickes. Sie war groß, sehr schlank, weißblond, und sie lächelte nicht gerade. Ihr Haar und ihre Beine waren sehr lang, und sie hatte weder Augenbrauen noch Wimpern, aber einen üppigen Mund und breite, schimmernde Augenlider. Sie wirkte zart und spröde, als würde sie nie in die Sonne gehen. Wie eine gepresste Blüte.
Als sie mit den Händen voller Essen die Stufen zum Mausoleum hinaufging, wandte sie mir den Blick zu, mit ihren komisch leeren, riesigen Augen. Sie lachte, tat aber nichts, um mich zu bitten, ihr zu folgen.
»Warum gibt es denn keinen Tee? Nichts zu trinken?«, beschwerte sich das Rebeccamädchen, und ich sah durch die Tür hinein, dann beugte ich mich vor, unbeholfen im Türrahmen, und sah Delphi dicke Sandwiches und scheibenweise Kümmelkuchen auf einem Grabmal arrangieren. Ich dachte: »Ein Gast, der zum Tea eingeladen ist, und Sachen bestellt!« Und ich weiß noch, dass ich dachte, was für eine schreckliche Vorstellung, wenn sie je zum Tea nach Oversands kämen.
»Dauert zu lange«, sagte Delphi, »darauf können wir nicht warten. Wir trinken Wasser. Du — wie heißt du noch mal? Polly — geh mal Wasser aus dem Pferdetrog holen.«
»Wo soll ich es reintun?«
»Benutz deinen Kopf.«
»Ich kann doch nicht meinen Kopf benutzen …«
Aber die blassen, stumpfen Augen lächelten nicht, also zog ich ab und fand einen Eimer und tauchte ihn in den Trog und brachte ihn taumelnd ins Mausoleum.
»Guck, sie hat es wirklich geholt«, hörte ich Rebecca sagen, und Delphi drehte sich um und glotzte. Wieder brachen die beiden lachend zusammen. »Klares Quellwasser zum Tea!«, sagte Delphi. »Was für ein kluges, kleines Mädchen! Sollte sie damit nicht lieber den Boden wischen?«
»Nee, hör auf, Delphi«, sagte Rebecca, und ich hätte am liebsten geweint, weil ich diese Fremdsprache nicht verstand und genau wusste, wie sehr sie ihre Macht über mich genossen. »Mach schon — wisch den Boden, wisch den Boden — mal sehen, ob sie sich in den — auweia! — den Gamaschen überhaupt bewegen kann.«
Das ist von diesem Besuch alles, woran ich mich erinnern kann. Nur das — und eine verhasste Erinnerung an Feuchtigkeit und platschendes, schwarzes Wasser, das über Marmor läuft. Auf einem der Gräber erinnere ich mich an eine in Spinnweben eingehüllte Flasche Pferdesalbe vor ein paar Marmorrosen und dem Kopf eines Cherubs. Ich muss hoch über ihre Köpfe geguckt haben, denn ich hörte sie sagen: »Oh, wir sind aber hochmütig!«, und ich glaube, ich sah eine hohe Kuppel mit Wappenbildern im Putz, aus denen blaue und goldene und leuchtend rote oder zu Rosa verblasste Flocken fielen wie farbiger Schnee. Der Putz in der Kuppel war von Schwalbennestern dicht besetzt, und alles war voller Vogelkot. An einem zerborstenen Fenster blühte ein Büschel Glockenblumen, und in der Kuppel selbst klaffte ein riesiger und furchteinflößender Riss, durch den die Wurzeln des Grünzeugs baumelten, das oben auf dem Dach wuchs. Eine recht große, von Spinnweben umhüllte Weißbirke wuchs hinter einem Marmor-Märtyrer, der nur in ein paar Laken gekleidet war.
»War es nett mit den anderen Kindern?«, fragte Aunt Mary.
»Ja, danke.«
»Was für ein hübsches Mädchen, die kleine Delphi. Sie wird einmal eine große Schönheit werden. Es ist nicht so einfach für solche Schönheiten.«
»Jetzt ist sie jedenfalls keine Schönheit«, sagte ich. »Sie ist ziemlich hässlich.«
»Bitte, Liebes? Du hast natürlich auch sehr hübsch ausgesehen. Und du warst so brav.«
Eines Tages, kurz nach meinem zwölften Geburtstag, kam ich von der Salzmarsch herein und hatte die Hände voller Blumen und Gräser. Ich hatte sogar Kreuzblumen gefunden, und Aunt Mary war entzückt. Wir legten einen Hortus Siccus an, und ich glaube, in diesem Moment hielt sie mich für ihr eigenes Kind. »Oh, Polly!«, sagte sie. »Wie wundervoll! Und bald wirst du konfirmiert.«
»Nein.«
Das Wort hallte im Arbeitszimmer wider und wurde von Erzdiakon Younghusbands Gesicht zurückgeworfen. Er wirkte verdattert, ebenso wie meine Tante und ich.
»Nein?«
»Nein, Aunt Mary.«
»Aber mein liebes Kind, warum das denn nicht?«
»Ich … Einfach nein, danke.«
»Aber warum denn bloß nicht?«
Ich wusste nicht, warum denn bloß nicht, aber ich wusste, dass die Antwort nein war.
»Ist es wegen Father Pocock? Magst du Father Pocock nicht?«
Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht, aber jetzt stellte ich fest, dass es tatsächlich so war. Aber es war nicht der Grund.
»Es ist nicht wegen Father Pocock«, sagte ich. »Es tut mir entsetzlich leid. Aber ich möchte nicht konfirmiert werden.«
»Sag nicht entsetzlich, Liebes, wenn du es nicht wörtlich meinst, was ich befürchte. Findest du dich zu jung? Father Pocock könnte sicher mit dir darüber sprechen. Was sagst du?«
Ich betrachtete den Teppich.
Ich sagte: »Wieso denn? Er kann es ja nicht ändern.«
»Ändern?«
»Mein Alter. Zwölf ist zwölf.«
»Fast dreizehn. Er könnte mit dir über Gnade sprechen.«
Ich starrte die Bücher an. Das Thema ruhte.
Aber alle paar Monate wurde es wieder aufgeweckt, und jedes Mal antwortete nicht ich, sondern ein anderes Mädchen: »Nein.«
»Tut mir leid, dass ich so verdorben bin«, sagte ich.
»Sag nicht verdorben, Polly. Das bedeutet, dass etwas vergammelt ist. Hast du wirklich darüber nachgedacht? Über Erlösung? Du hast so viele wunderbare Predigten gehört. Du wohnst seit sechs Jahren in diesem Haus.«
»Ja. Und ich sage nein. Es tut mir schrecklich leid.«
Jedes Mal kribbelte es mich vor Angst und Triumphgefühl. Ich war wie eine neue Tennisspielerin, die gegen einen Champion antritt und den Ball unerreichbar zurückschmettert.
»Konfirmiert, Polly …«
»Nein!«
»Nein, Aunt Mary, es tut mir kolossal …«
»Sag nicht kolossal, Liebes. Es ist unangemessen in Bezug auf die Reue, es sei denn, du benutzt es auf die griechische Weise, wo es riesig bedeutet, aber das ist obsolet. Lass uns gemeinsam ein Gebet sprechen, und dann lesen wir ein bisschen Tennyson.«
Konfirmieren würde ich mich nicht lassen.
»Ist es wegen des Geruchs?«, fragte Charlotte in der Küche. Die alten Damen waren alle das Kloster besuchen gegangen. The Rood. Es war heiß in der Küche, und ich war müde, weil ich den ganzen Nachmittag in der Marsch gewesen war. Charlotte kochte in einem großen, schwarzen Topf auf dem Feuer ihre Unterhosen aus, und ich betrachtete schläfrig den Topf und dachte »Heiliger Bimbam« und fühlte mich verwegen dabei. Über dem Gelben Haus lauerten die Schuldgefühle.
»Geruch«, sagte Charlotte. »Weihrauch. Sonntags.«
»O nein. Ich liebe Weihrauch.«
Sonntag war Prozessionstag. Die erste fand morgens um halb acht statt, wenn meine Tanten und Mrs Woods sich stumm in der Halle versammelten und dann über die Marsch zur Kirche gingen. Um neun Uhr kehrte die Prozession zurück, und es fand der Höhepunkt der Woche statt — das Frühstück, denn sonntags gab es Kaffee.
Dieser Kaffee war das einzige glamouröse Element in unserem Leben, und er war hervorragend, denn Mrs Woods’ verstorbener Mann hatte in Afrika in Kaffee gemacht, und sie war Spezialistin. Der Kaffee wurde aus London mit dem Zug an sie persönlich geschickt, und sie bezahlte ihn. Vielleicht war das ihre Miete, denn meine Tanten wären nicht auf die Idee gekommen, Geld von ihr zu verlangen, denn sie war, sagte man uns, »arm wie eine Kirchenmaus«.
Mrs Woods bereitete den Kaffee selbst zu und trug die Kanne selbst aus der Küche herein, und dann wurde gerührt und pausiert und geprüft und geschnüffelt und mit den Lippen geschmatzt, und schließlich wurden die drei anderen großen Tassen gefüllt und herumgereicht.
Ich liebte den Kaffee. Er brachte mir die Primärfarben und herrlichen Sonnenschein, auch wenn ich keine Ahnung hatte, woher ich das wusste. Vermutlich hatte ich so langsam etwas gelernt, von den Globen des Erzdiakons im Arbeitszimmer, über Inseln und tropische Strände und Korallenriffe, und aus sämtlichen Seefahrtsbüchern, die ich finden konnte. Afrika klang so verlockend wild. »In Kaffee war Woods wirklich gut«, sagte seine Witwe, und wir gedachten seiner schweigend.
Farben und Hitze.
So sehr ich mich auch bemühte, konnte ich Mr Woods gedanklich nicht mit Farben und Wärme verknüpfen, oder mit sonst irgendetwas, das nicht ausdrücklich blass und kühl war. Ich stellte mir Mr Woods durchscheinend vor, eine Amöbe, eine junge Kaulquappe. Die Dunkelheit, die Mrs Woods umgab, musste ihn aufgesogen haben. Einmal hatte sie mich zu seinem Grab mitgenommen — sehr klein und einsam im besseren Teil des neuen Friedhofs an der Kirche. Es war ein besonders kleines Grab, dekoriert mit einer umgestülpten gläsernen Flammerischüssel. Unter der Schüssel war ein Kranz unverwüstlicher Rosen aus etwas, das wie Kerzenwachs aussah. »Woods«, sagte sie stoisch, zeigte auf die Schüssel, und ich sah ihn klein und hilflos vor ihrem unbeugsamen Willen, nur von seinem Kaffee getröstet, wie er sich nach dem farbenfrohen Urwald sehnte. Ich hoffte, dass es im Himmel Kaffee für ihn gab.
Nach dem Frühstück kam die zweite Prozession — Hut, Mantel, Handschuhe, Gebetbuch, Gamaschen, ernstes Gesicht. Um halb elf gingen wir los, diesmal folgte ich ihnen, denn zum Elf-Uhr-Gottesdienst war ich zugelassen, da er gesungen wurde und nur der heiligste Priester — Mr Pocock — die Kommunion bekam. Ich saß da wie alle anderen auch, und wenn man mich ansah, hätte man nicht vermutet, dass ich nicht konfirmiert war.
Elf Uhr.
Weihrauch.
Feierliche Musik, eine Stunde Predigt und eine Art Stammestanz im Wind an der Kirchentür, wo Father Pocock sich vor uns allen verbeugte und wir uns vor ihm. Lachen und Händeschütteln. Breites, dummes Grinsen. Schlechtes Gewissen wegen der Verachtung. Dann durch die Marsch nach Hause — kein schlechtes Gewissen hier. Und dann das Sonntagsessen.
Und der Duft, der durch das blaue und rote Glas der Haustür kam: nach Rind und Minzkartoffeln, schwerer Sauce, und der umwerfende Geruch nach Kohl.
Und dann der Duff. Charlotte nannte es Duff, die Tanten sagten Mehlpudding. Mrs Woods nannte es »komplett unverdaulich«. Der Duff behielt die Form, in der er gemacht war, und an den Seiten lief Marmelade und manchmal Schokoladensauce hinunter. Er kam immer mit dem gelben Krug mit den bunten Papageien drauf, in dem die Vanillesauce war. Der Krug erinnerte mich an meinen Vater. Ich habe keine Ahnung, warum. Ich liebte ihn.
Danach zogen wir uns alle in unsere Zimmer zurück, wobei ich nicht glaube, dass Aunt Mary schlief. Ich glaube, sie kniete sich auf ihr Kniebänkchen, weil ich sie einmal durch die Tür sah, als Charlotte um vier mit dem wiederbelebenden Tee herumging. Aunt Mary kniete aufrecht, ihre Haut war wächsern. Sie trug immer noch die Haube, die unter dem Kinn zusammengebunden wurde. Das Zimmer war immer so kalt, dass der Tropfen an ihrer Nasenspitze auch gut dort hätte festgefroren sein können.
Um halb sechs folgte die dritte Prozession zum Evensong, auch da ging ich mit, nachdem das Haus zeremoniell abgeschlossen worden war; denn zu dieser Andacht, der »Dienstbotenandacht«, ging auch Charlotte mit. Sie ging zehn Minuten vor uns durch die Hintertür los und saß dann mit ein paar anderen Hausmädchen auf der Empore. Sie kam auch allein zurück, nach uns anderen, denn sonntagabends hatte sie ein bisschen Freizeit, solange sie das Abendessen fertig auf dem Sideboard angerichtet hatte — kalter Braten, kalter Mehlpudding, kalte Vanillesauce. Wir bedienten uns selbst, und manchmal waren wir sogar so nett und brachten das Geschirr hinterher zum Abwaschen in die Küche.
Dann ging ich in mein Zimmer und bereitete mich auf den Unterricht bei Aunt Mary und Mrs Woods am nächsten Morgen vor. Dann ging ich zu Bett.
Um neun hörte ich Charlotte die Stufen zum Dachboden hinaufknarzen und den Holzboden über mir überqueren, und ihre Bettfedern quietschten über den Brotkrusten. Dann gingen die drei Damen zu Bett — erst Mrs Woods und Aunt Frances, die oft noch auf dem Treppenabsatz am Ende meines kleinen Korridors miteinander sprachen — Mrs Woods scharf, und ein- oder zweimal hörte ich Aunt Frances weinen.
Dann folgten Aunt Marys langsame Schritte und ein klapperndes Geräusch am Treppengeländer, denn sie nahm die Silberlöffel immer mit ins Bett. Einbrecher klauten angeblich keine Löffel aus Schlafzimmern.
Ich betrachtete den Porzellanchinesen, wenn es hell genug war, und lauschte dem Meer und dem Wind über der Marsch, bis ich einschlief.
Als ich immer noch zwölf war, oder fast dreizehn, an einem Sonntag im März, gingen wir gerade über die Marsch zum Elf-Uhr-Gottesdienst, als ich einen Engel sah. Einen großen, goldenen Mann, der mich von dem Turm des unfertigen Hauses aus ansah.
Erst war da ein Lichtblitz von seinen Flügeln, die über seinem Kopf einen großen Bogen bildeten wie ein Boot und einen Heiligenschein umfingen, der durchscheinend und rosa war. Dann schoben sich Wolken vor die Sonne, und er war weg.
Ich drehte mich um und sah aufs Meer. »Ganz normal«, sagte ich. »Ein ganz normaler Morgen.« Ich breitete die Arme aus und wurde für eine Weile zu einem Vogel. Als ich gesagt hatte, Father Pocock könne an meinem Alter nichts ändern, hatte ich weise gesprochen, denn das Alter geht ineinander über. Zwölf ist nicht zu alt, um ein Vogel zu sein, und ich wusste, dass Mrs Woods, die das anders sah und vor mir herstapfte, sich nicht ein einziges Mal umdrehen würde, wenn sie einmal Richtung Weihrauch unterwegs war.
»Ich spiele nur«, sagte ich der Marsch, ging eine Weile rückwärts und steckte meinen Stiefel bis zum Knöchel in eine Pfütze und spürte, wie er ins Moor gezogen wurde. Ich zog ihn heraus und beobachtete, wie sich das Loch, das er hinterlassen hatte, mit einem Schmatzen schloss. »Tja, das wird Theater geben«, sagte ich zu dem Stiefel — wieder laut, damit der Engel auf dem Prachtbau merkte, dass der Alltag weiterging.
Es war sowieso bestimmt nur eine Lichterscheinung gewesen.
Ich sah wieder zu dem unfertigen Haus, und dort schien nur eine Art Maschine auf dem Turm zu sein, wahrscheinlich ein Flaschenzug für die neuen Schieferplatten.
»Engel, das ist doch lächerlich!«, sagte ich und spielte weiter Vogel bis zum Friedhofstor. Ich ließ meine drei irdischen Schutzengel zuerst im Dunkel verschwinden und folgte erst dann, wegen des schmutzigen Stiefels. Die letzte schnelle Glocke schlug wie ein Herz und sagte: »Schnell, schnell, es fängt gleich an.« Dann hörte sie auf, was bedeutete: »Jetzt ist es passiert! Ihr seid zu spät!«
Normalerweise überkam mich ein aufgeregtes, frevelhaftes, angenehmes Gefühl, wenn das passierte, was nicht oft vorkam — heute hatte es ein ernsthaftes Problem mit einer leckenden Wärmflasche in Mrs Woods’ Muff gegeben, die sie durchnässt hatte. Die Orgel stieß den ersten Schrei aus, und ich trat in die Dunkelheit und dachte: »Zwei Stunden. Zwei ganze Stunden meines Lebens einfach verschwendet.« Ich wandte mich noch einmal um und verabschiedete mich von der frischen Luft.
Vom Dach betrachtete mich wieder der Engel — riesig und fest und golden. Er leuchtete vor Verständnis und Kraft, und ich wusste, dass er mich liebte und auf meiner Seite war.
Beim Mittagessen an diesem Tag sagte ich, dass ich am Abend nicht mit zur Kirche gehen könne. Oder sonst jemals wieder.
Wir waren beim Mehlpudding angekommen. Mit dem, was Charlotte eine anständige Orangenmarmelade nannte, und die Vanillesauce war extradick. »Besonders köstlich«, hatte Aunt Mary ihre drei kleinen, heiligmäßigen Bissen genannt.
Sechs Augen sahen mich über den Nachtisch hinweg an, und Aunt Mary sagte: »Es geht dir offenbar nicht gut, Polly. Du hast deinen Nachtisch gar nicht gegessen.« Zufällig hatte ich tatsächlich gerade komische Schmerzen, aber ich sagte: »Mir geht es gut. Aber ich fürchte, ich kann nicht zum Evensong.«
»Bitte«, sagte ich in die Stille. »Ich kann einfach nicht.«
»Wir könnten dir natürlich befehlen mitzugehen, Polly.«
»Bitte …«
»Liebes, natürlich gehst du mit«, sagte Aunt Frances.
»Sie kommt mit, und hinterher muss Father Pocock mit ihr sprechen«, sagte Mrs Woods. Der enge Schleier ihres Morgenhuts hatte kleine Rauten auf ihren Wangen hinterlassen, die immer bis zum Mehlpudding hielten. Heute wirkten sie besonders tief eingeprägt, und ihr war eine Röte ins Gesicht gestiegen, wie ich sie noch nie gesehen hatte. »Das liegt natürlich nur daran, dass sie nicht konfirmiert ist.«
»Ich kann nicht mit«, sagte ich traurig zu Aunt Frances. Wären wir allein gewesen, dann hätte ich ihr von dem Engel erzählt. »Ich habe das Gefühl …«
»Du bist krank«, sagte Aunt Mary, und Mrs Woods richtete sich auf.
»Nein. Bin ich nicht. Es ist nur …«
»Ja?«
»Der Elf-Uhr-Gottesdienst kam mir so …«
»Heute Morgen war es ein bisschen lang«, sagte Aunt Frances.
»Nein, es kam mir so … ich hatte das Gefühl, mir wird mitgeteilt, dass es … nun ja, ein bisschen Zeitverschwendung war.«
»Mitgeteilt?«
»Ja. Dass das alles — irgendwie dumm war.«
»Dumm!«
»Ja. All die traurigen Leute, die da vor sich hin klagen. Und die traurige Musik. An einem so schönen Tag. Ich wollte das eigentlich schon seit Jahren sagen …«
»Polly!«
»Dieses grässliche, riesige Kruzifix mit der Leiche dran und den eingeschnitzten Blutstropfen. Und das schreckliche Gesicht mit der Dornenkrone über einem Auge.«
»Geh in dein Zimmer.«
Ich ging, und Aunt Mary folgte mir. »Du bleibst bis zum Abendessen hier. Nach dem Evensong spreche ich mit Father Pocock.«
Als sie weg war, entstand eine Pause, dann quietschten die Dielen, und Charlotte kam herein. Ich wusste, dass sie unten gelauscht hatte — sie horchte oft an der Speisezimmertür. Sie sagte: »Das hast du ja schön hingekriegt. Was ist denn in dich gefahren?«, und setzte sich auf das Fußende meines Bettes, das unter ihr nachgab. Sie kratzte sich durch die Schürze an den Oberschenkeln, betrachtete ihre dicken Füße und ließ sie kreisen. Sie hatte sich noch nie auf mein Bett gesetzt. Sie hatte wohl das Gefühl, meine Rebellion hätte uns näher zusammengebracht, und ich fürchtete mich ein bisschen.
»Du siehst nicht gut aus«, sagte sie. »Angeschlagen. Du hast Augenringe. Willst du einen Tropfen?«
»Nein, danke, Charlotte.«
»Bisschen Gin.«
»Gin?«
»Ich habe eine kleine Reserve für schlechte Zeiten. Warte mal.«
Sie brachte mir zwei Fingerbreit klares Wasser in einem Glas. »Kipp es auf einmal runter«, sagte sie, also tat ich das und schrie auf und hustete, bis ich dachte, ich muss sterben. »Das ist ja ekelhaft. Das ist Gift. Willst du mich bestrafen?«
»Bestrafen? Sicher nicht. Wer tut dir denn immer Gefallen? Also wirklich. Bestrafen.«
In mir breitete sich Wärme aus. Ich lag still. Freudige Hitze hüpfte durch meine Gefäße, bis sogar meine Finger und Zehen entzückt waren. »Oh, Mann! Charlotte!«, sagte ich.
»Gibt nichts Besseres. Schlaf jetzt.« Sie ging mit dem leeren Glas hinaus. An der Tür sagte sie: »Alles in Ordnung?«
»Ja. Schon viel besser. Ich hatte Bauchschmerzen.«
»Habe ich mir schon gedacht. Warum hast du es ihnen nicht gesagt?«
»Weil es nicht deswegen war. Es war der Engel. Ich habe in der Marsch einen Engel gesehen.«
»Ja, klar.«
»Er hat mir gesagt — nun ja, dass ich nicht weiter mit ihnen da hingehen kann. In die Kirche und so. Es ist blöd.«
»Das hat dir der Engel gesagt?«
»Irgendwie schon.«
»Würde ich mir verkneifen.«
»Was?«
»Würde ich mir verkneifen. Schon der Gedanke! Du musst da hingehen. Du bist zwölf. Ich muss auch, und ich bin schon fast vierzig. Bettler haben keine Wahl. Pass bloß auf dich auf, Engel hin oder her.«
»Aber ich glaube das alles gar nicht. Das ganze — oh, bitte erzähl ihnen das nicht! — all das in der Kirche. Das ist mir klargeworden. Wenn ich weiter hingehe, ist das geheuchelt! Ich habe die ganze Zeit allen etwas vorgespielt, Charlotte. Seit Jahren.«
»Dann musst du weiterheucheln. Schadet ja niemandem. Du wirst die da unten nicht ändern. Also spiel mit, mit den armen Seelen. Das bist du ihnen schuldig. Du kannst doch nicht mit zwölf schon mit ihnen brechen. Sie haben nur Gott — und dich.«
Als sie gegangen war, dämmerte ich in einen Gin-Nebel und dachte darüber nach. Ich mochte Charlotte nicht besonders. Ich wusste, dass sie etwas Feindseliges verbarg. Gleichzeitig wusste ich — aber woher? —, dass sie eine Welt außerhalb von Oversands kannte, eine schlechte, unsichere, komplexe, wilde Welt, die ich auch wollte.
Ich döste weg und wachte erst wieder auf, als Aunt Frances mich unglücklich ansah.
»Komm, Liebes«, sagte sie. »Wir haben nach Father Pocock geschickt, statt bis nach dem Evensong zu warten. Er möchte jetzt mit dir sprechen.«
»Ich kann nicht.« Ich schloss die Augen.
»Polly, bitte.« Aber ich lag still da und stellte mir den Engel vor, riesig, ungerührt, wie er sich vom Dach des Turms erhob und majestätisch in den dicken Wolken stand und lächelte. Aunt Frances ging.
Als nächstes kamen Aunt Mary und Mrs Woods, zu zweit. Mrs Woods wie immer, das Gesicht leicht abgewandt, und sie blieb in der Nähe der Tür.
»Polly, sofort, bitte«, sagte Aunt Mary in ihrem nur selten benutzten Kommandoton. »Wie riechst du eigentlich? Komm jetzt.«
»Ich habe Bauchschmerzen.«
»Hast du nicht!«, sagte Mrs Woods und wurde wieder erschreckend rot unter dem afrikanischen Zartgelb. »Father Pocock wartet unten. Dass ein Kind Father Pocock warten lässt!«
»Da kommt wohl die Mutter durch«, teilte sie der Wand mit.
Ich sah sie beide an, als die Flügelspitzen des Engels und seine goldenen Sohlen zwischen den Wolken verschwanden und für einen Augenblick ein Strahlen dort hinterließen. Dann lächelte ich Mrs Woods an, denn ich war plötzlich unerklärlich froh und ohne jegliches Gefühl von Sünde. Und sie sah so lächerlich furchtbar aus.
Ich rollte mich seitwärts aus dem Bett — bis auf Schuhe und Strümpfe war ich noch voll bekleidet — und sagte: »Nun gut, dann wollen wir mal, Mrs Woods, ich komme«, und stand taumelnd auf, trat auf den weißen Lammfell-Bettvorleger und stellte fest, dass mir Blut die Beine hinunterlief.
Ich weiß nicht, wer von uns dreien den größten Schreck bekam. Mrs Woods war plötzlich nicht mehr bei uns. Aunt Mary in ihrer Schwesterntracht richtete sich bis zur Decke hoch auf und sagte: »Ich hole Frances«, und verschwand ebenfalls, und ich stand betrunken und zitternd da und dachte an die Kreuzigung.
»Ich verblute«, sagte ich zu Aunt Frances, als sie auf Zehenspitzen hereinkam. »Nein, nein, Liebes, tust du nicht«, sagte sie. »Ich hole Charlotte.«
Also wickelte ich mich in ein Laken und kauerte mich auf den Bettvorleger, legte mich hin und hörte meine Zähne klappern. Ich wiegte mich und erwischte den Chinesen dabei, wie er mich beobachtete. Ich wusste, dass es nicht richtig war, dass er mich so sah. Ich versteckte das Gesicht zwischen den Knien.
Aber als ich wieder aufsah, starrte er mich immer noch angewidert an, also kroch ich zu seinem Regal, um ihn wegzutun, außer Sicht, aber dabei ließ ich ihn auf den schwarzen Steinboden vor dem Kamin fallen und er zersprang in tausend Teile.
Charlotte kam mit wichtigem Gesicht und brachte Verbandszeug mit, sie bezog das Bett frisch und sagte: »Das hast du dir ja fein ausgedacht. Was sie dem Pastor wohl erzählen? Ich musste ihnen Sherry bringen. Um zwei Uhr nachmittags! Bestimmt sagen sie, du bist krank.«
»Ich bin ja auch krank, Charlotte. Ich sterbe. Ich brauche einen Arzt.« Meine Zähne klapperten lautstark.
»Kann ich wieder ins Bett? Ich habe den Chinesen kaputtgemacht.«
»Das sehe ich. Aber du stirbst nicht. Weißt du das wirklich nicht?«
»Was weiß ich?«
»Das mit dem Erwachsenwerden?«
»Nur das mit der Konfirmation. Ist es, weil ich mich nicht konfirmieren lassen will?«
»Nein. Das passiert allen. Auch den ganz Frommen. Aber du bist noch ganz schön jung dafür.«
»Alle? Das passiert allen? Auch guten Menschen? Auch Father Pocock?«
»Männern nicht. Das haben nur Frauen.«
»Alle Frauen? Du auch?«
»Alle Frauen. Sogar die unten, früher mal, die armen alten Schachteln.«
Ich vergaß, dass ich verblutete.
»Charlotte! Halt die Klappe!«
»Halt selbst die Klappe«, sagte sie, »große Dame. Wenn du wissen willst, was mit dir los ist, geh wieder ins Bett, und ich erkläre es dir.« Sie ging im Zimmer umher, hob die chinesischen Scherben auf, rollte den Lammfellteppich mit der entsetzlichen Peinlichkeit zusammen und erklärte mir dabei ihre Version des üblichen weiblichen Elends. Ich hörte entsetzt zu, nicht nur, weil sie mir eine solche Obszönität erklärte, sondern auch, weil sie dafür ausgesucht worden war, es mir zu sagen; und weil sie wusste, dass es ein Schock war, und weil sie gerade einen Riesenspaß hatte und noch größeren Spaß haben würde, wenn sie es beim Evensong auf der Empore weitererzählte. »Also«, dachte ich, »werde ich sie für immer hassen, und sie wird mich für immer verachten.« Ich schloss die Augen und tat, als würde ich schlafen.
Irgendwann schlich sie endlich zur Tür und gab die letzte Abscheulichkeit von sich. »Halt dich schön warm. In diesen Zeiten. So mache ich das jedenfalls. Immer schön warmhalten. Nicht zu viel waschen und auf keinen Fall baden. Du bist jetzt eine Dame. Pack dich schön warm ein. So mache ich das.«
Allein die Vorstellung von Charlotte. Diese Stofflappen. Wo tat sie ihre hin? Unsägliche Vorstellung. Waren die in dem Beutel mit den Brotrinden? Das Haus verfiel in seine sonntagnachmittägliche Stille, und auch ich muss in eine Art Bewusstlosigkeit gefallen sein.
Als ich aufwachte, kam es mir vor wie viele Tage später, auch wenn die Sonne immer noch am Nachmittagshimmel stand. Es ging mir gut — ich war hellwach und stark und gar nicht wie ich selbst. Vielleicht war ich immer noch betrunken. »Engel«, dachte ich. »Blut. Träume.«
»Das ist gar nicht passiert«, dachte ich, »nichts davon.« Ich ging ins Bad und ließ bei offener Tür geräuschvoll Wasser aus beiden Hähnen in die Wanne laufen. Um diese Tageszeit war es schon fast kalt, aber ich zog mich aus und stieg hinein. Immer noch Stille im Haus, obwohl ich ordentlich planschte. Der Gin vielleicht, und der Schreck. Ich trocknete mich ab und ließ meine Kleider auf dem Boden verstreut liegen, wickelte mich in ein Handtuch, ging wieder in mein Zimmer und zog mich komplett frisch an — alles nur vom Feinsten, zum Schluss mein samtenes Weihnachtskleid und Hauspumps statt der schauerlichen Stiefel. Ich sang ein bisschen und machte ordentlich Lärm, als ich die Treppe hinunterging und mir in der Eingangshalle den Mantel anzog. Ich zog mir eine Schottenmütze über den Kopf, arrangierte meine Zöpfe auf den Schultern und marschierte ins Arbeitszimmer. Canon Younghusbands Augenbrauen schienen sich auf und ab zu bewegen, als ich einen dicken Band aus seinem Regal zog, denn es war nicht vorgesehen, dass ein Buch seinen Schrein verließ, ganz zu schweigen vom Haus, oder auch nur das Regal, wenn es Sonntag war und es sich um einen Roman handelte.
Das Buch war Robinson Crusoe, und ich kannte es sehr gut. Heute würde es mit mir dahin gehen, wo wir uns beide wohlfühlten. Ich steckte es mir vorn in den Mantel und ging los, knallte die innere und die äußere Tür lautstark zu und machte mich auf den Weg ans Meer.
Der Wind in den Dünen war heftig, aber der Strand lag in voller Sonne, und ich ging schnell, und dann rannte ich, und dann ging ich wieder, bis ich meine Finger und Zehen nach dem Bad wieder spürte.
Die Schmerzen der letzten Tage waren weg, und ich war voller Energie. Und ziemlich zufrieden mit mir. Ich dachte über meinen Körper nach und dass er offenbar eigenständig Entscheidungen traf, wie es auch der meiner Mutter getan haben musste, als ich geboren wurde, und wie er es wohl tun würde, wenn ich starb. Das fand ich aufregend. Man musste sich im Leben viel weniger Sorgen machen, als ich gedacht hatte. Die großen Dinge hatte man anscheinend sowieso nicht in der Hand.
Am liebsten hätte ich jemanden geküsst.
Mit Robinson Crusoe an der Brust kletterte ich über die Strandmauer, sprang hinunter und rannte über den breiten, weißen Strand. Der Wind drosch auf mich ein, die Sonne schien auf mich, und das Meer war weit weg und hatte einen silbernen Rand. Der Horizont war bewegt, so bewegt und geschwungen, dass es mir seltsam vorkam, dass die Menschen so lang gebraucht hatten, bis sie wussten, dass die Erde eine Kugel ist — erst kam Rauch, dann ein Schiff auf mich zu, dann verschwand erst das Schiff und dann der Rauch.
Aber vielleicht hatten wir es in Wahrheit schon immer gewusst. Vielleicht wussten wir in irgendeinem Winkel unserer selbst schon alles. Vielleicht hatte ich irgendwo in mir drin sogar das mit dem Blut gewusst. Vielleicht war alles vorherbestimmt.
In Richtung der Fischerhütten und des Nebels verschwand die Bucht, in der anderen Richtung erstreckte sie sich bis zu den Eisenhüttenwerken, die entlang der Flussmündung standen wie eine Reihe Panzerschiffe. Dampfwolken stiegen daraus auf, zogen weiter, bildeten cremefarbene und violette Wolken, die den Himmel übernahmen. Die Werke waren »eine Schande«, sagte Mrs Woods, »widernatürlich«, aber Aunt Mary sagte, ohne sie würden die Menschen hier verhungern. Aunt Frances sagte, sie sorgten für unsere herrlichen Sonnenuntergänge. Ich fand, sie waren ein Wunder.
Die Schornsteine zeichneten sich jetzt vor der untergehenden Sonne ab, und ich setzte mich mitten auf dem Strand auf etwas trockenen Tang, grub die Fersen in den Sand und schlug Robinson Crusoe auf. »Das Böse« las ich, wie ich es bereits kannte …
DAS BÖSE
Ich bin auf einer grauenhaften einsamen Insel gestrandet, ohne jede Hoffnung, gerettet zu werden. Ich wurde auserwählt und, wie es scheint, von der ganzen Welt getrennt, um dieses Unglück zu erleiden.
Aber
DAS GUTE
… ich lebe und bin, anders als meine Kameraden, nicht ertrunken. Ich wurde aber auch aus der Besatzung des Schiffs auserwählt, um dem Tod zu entgehen. Und der, der mich auf so wundersame Weise vor dem Tod bewahrt hat, kann mich auch aus dieser Lage befreien.
»Ich bin auserwählt.« »Von der ganzen Welt getrennt.« Jahre feierlicher Predigten, die über meinen Kopf hinweggeschwebt waren, ohne dass ich wirklich zugehört hätte, kehrten zurück und schlugen warnende Töne an. Stolz. Sei nicht stolz — aber ich hatte mich immer von aller Welt getrennt und einsam gefühlt. Deswegen war sie in Wales so auf mich losgegangen. Deswegen hatte sie die Bratpfanne nach mir geworfen und mich geschlagen. Mich aus dem Bett gezerrt und mich angeschrien. »Du beobachtest mich doch die ganze Zeit!«, hatte sie gesagt. »Du in deiner eigenen Welt.« Dann hat sie mich in den Arm genommen.
Ich blinzelte die schöne Seite von Robinson Crusoe an, denn die Bratpfanne und das Anschreien waren mir gerade erst wieder eingefallen. Diese Seite würde jetzt für immer ihr großes Gesicht sein. Ich hatte wohl recht. Irgendwo innendrin wissen wir alles über uns selbst. Man kann nie wirklich vergessen. Vielleicht wissen wir auch irgendwie alles, was kommen wird.
Ich beobachtete, wie der Wind große Sandstreifen über den Strand peitschte.
DAS BÖSE
Ich bin von der übrigen Menschheit getrennt, ein Einsiedler, der aus der Gesellschaft der Menschen ausgeschlossen wurde.
Aber
DAS GUTE
… ich muss nicht Hunger leiden und an einem Ort verenden, der keine Nahrung bietet.
Das Meer trumpfte dann und wann mit einem Klatschen auf. Ich zwang den Tag, noch ein bisschen kälter zu werden und mich ein bisschen mehr herauszufordern.
DAS BÖSE
Ich kann mich nicht verteidigen oder eines Angriffs durch Mensch oder Tier erwehren.
Aber
DAS GUTE
… ich bin auf einer Insel gelandet, auf der es offensichtlich keine wilden Tiere gibt, die mir gefährlich werden könnten.
Ich hätte ihn gemocht, dachte ich, den Robinson. Er hat die Dinge gern geradegerückt. Die hoffnungsvollen Aspekte aufgeschrieben. So vernünftig und mutig. So stark und schön. Er hat sich unglaublich um Selbstachtung bemüht. Er war natürlich ein Mann, da war das einfacher. Aus ihm lief nicht alle vier Wochen Blut, bis er alt war. Er musste sich nie eklig fühlen.
DAS BÖSE
Ich habe niemanden, mit dem ich mich unterhalten oder bei dem ich Trost finden könnte.
An meinem Strand war auch fast niemand. Weit in der Ferne sah ich einen Seekohlensammler mit Handwagen und noch weiter weg einen Grashüpfer auf einem hohen Fahrrad mit kleinen Grashüpferkindern auf ihren Rädern dahinter — moderne Leute aus den Reihenhäusern, »Leute aus einer anderen Schicht«, wie die Tanten sagten. Hinter ihnen war nur das Meer, die langen Krokodilsfelsen.
Der Wind ließ nach, und der Strand war voller kleiner blauer Lichtmuscheln im Schein der untergehenden Sonne, lauter untertassenförmige Dellen. Eine Million, und jede einzelne leuchtete. »Nachdem es mir gelungen war, meiner Lage auch gute Seiten abzugewinnen«, las ich, »und ich mir abgewöhnt hatte, ständig nach einem Schiff Ausschau zu halten …«, und sah auf und entdeckte in weiter Ferne in Richtung der Eisenhütten einen hüpfenden, dunklen Punkt.
Erst hielt ich es für einen Vogel, aber dann wurde mir schnell klar, dass es zu groß war. Auf und ab tanzte es im Sand, wurde immer größer, und bald hörte ich auch etwas — vielleicht auch nur das Klappern der Gießerei, das unregelmäßig vom Wind herübergetragen wurde.
Aber es war nicht das Klappern der Gießerei. Es war ein Stampfen, und bald war es auch ein Schreien und Rufen. Das kleine, schwarze Dreieck hüpfte mit dem Kopf voran und schien sekundenlang gar nicht näher zu kommen, sondern wirkte wie eine hartnäckige kleine Maschine oder eine Feder, die auf der Stelle hüpfte.
Dann war es näher und stellte sich als Ponykutsche heraus, der Einspänner war blankpoliert, hatte eine elegante Deichsel und einen geflochtenen Korbsitz zwischen den großen Rädern. Darin saßen zwei Leute, ein Mädchen und ein Junge, das Mädchen hielt die Zügel, und der Junge hatte seinen langen Arm auf die Lehne hinter ihr gelegt. Das Mädchen trug keinen Hut, ihr Haar flog im Wind. Der Junge beobachtete sie, wie sie die Kutsche lenkte. Das Pony galoppierte, den Kopf gestreckt, leicht seitlich versetzt, und um das schwarze Maul hatte es weißen Schaum. Unter den Rädern flog der Sand aus den blauen Lichtmuscheln. Es war ein Bild reiner Freude.
Als sie näher kamen, rief der Junge: »Woah, hallo!«, und sah in meine Richtung, und dann rief er noch einmal, und der Galopp wurde zum Kantern und dann zum Trab. Das Pony zog eine Kurve, und dann blieb die Kutsche quietschend und hüpfend vor mir stehen. Und fuhr wieder an. Und blieb wieder stehen. Dann kam sie bis auf ein paar Fuß vor den Tang, der Sand knirschte, und alle schnappten nach Luft.
»Guten Tag«, sagte der Junge. »Bist du eine Meerjungfrau?« Das Mädchen sagte nichts, sondern schüttelte nur das dunkelrote Haar und machte sich an den Zügeln zu schaffen.
»Es ist doch eiskalt, hier zu lesen«, sagte der Junge. Er benahm sich wie ein Mann. Er war beinahe ein Mann. Er sah aus, als ob alles in der Welt ihm vertraut wäre und einem vernünftigen Satz Regeln folgte, an die er sich hielt, und damit glücklich war. Aber da war auch eine Vorsicht, als hätte er alles, was er wusste, nur von außen durchdacht. Wenn er lächelte, wirkte er, als fände er Lächerlichkeiten sehr hübsch, und wenn er nicht lächelte, sah er ernst und gut aus. Das Mädchen, das größere und weniger vorsichtig blickende Augen und eine spitze Nase hatte, sah nicht aus, als würde es oft lächeln. Sie betrachtete mich gründlich, und ich sah, dass ihre Augen grün waren. Ich mochte sie nicht. Ich erinnerte mich auch an sie; es war Rebecca Zeit, die die Gesangbücher verbrannt hatte.
»Was liest du denn da?«, fragte der Junge und sah auf mich herunter, groß und freundlich. Sie waren hoch über mir. Ich fing wieder an zu lesen. Er sagte: »Oh, entschuldige bitte. Ich bin Theo Zeit. Das ist meine Schwester Rebecca. Wir wohnen in dem neuen Haus. Das in der Marsch, das nie fertig wird. Es soll unser Ferienhaus sein. Das mit dem Turm.«
Nach einer Weile stellte ich fest, dass ich gesagt hatte — immer noch mit dem Blick ins Buch —, ich sei Polly Flint. Aus dem Gelben Haus. Oversands. Ich las
Aber
DAS GUTE
Gott schickte durch wunderbare Fügung …
»Wir müssen zurück«, sagte er, »wir sind schon viel zu spät dran. Wir haben ein Picknick bei den Buhnen gemacht. Und haben noch einen langen Heimweg.«
Immer noch Schweigen. Ich sehnte mich so danach zu sprechen. Ich wollte ihn so gern anlächeln.
Er schnalzte dem Pony zu, beugte sich vor und legte die Hand auf die seiner Schwester, die die Zügel hielt, und schüttelte sie. »Los geht’s, Bec. Auf Wiedersehen, Miss Flint.«
»Wiedersehen«, sagte ich zu meinem Buch.
Als sie schon losfuhren, rief er: »Was hast du gesagt, wo du wohnst?«
»Im Gelben Haus.«
»Wie alt bist du?«
»Über zwölf.«
»Was liest du?«, rief Rebecca.
»Robinson Crusoe.«
Sie sagte nichts mehr, und ich schaute auf und dachte: »Sie hat sich überhaupt nicht verändert. Sie ist gern diejenige, die am meisten weiß. Er ist netter.« Er musste der Schattenjunge gewesen sein, der irgendwohin verschwunden war, statt mit uns zu spielen.
Im Wegfahren rief er noch: »Wir lassen dir einen Fußabdruck hier!«
Ich hörte die Kutsche quietschen, das Pony antraben und dann wieder das Hämmern der Hufe, sie verschwanden jetzt Richtung Süden, und als ich wieder aufsah, war die Kutsche nur noch ein tanzender Punkt. Ich las:
DAS GUTE
Aber Gott hat ein Wunder bewirkt und das Schiff nahe genug ans Ufer geschickt …
Ich las weiter und weiter, hatte aber immer noch das Trommeln der Hufe im Kopf, und aus der Geschichte wurden bloße Wörter, die ich anschaute, während hinter den Eisenhütten die Sonne unterging und der Tag verblasste und vorüber war.
Am darauffolgenden Mittwoch schneite es, ich hatte Kopfschmerzen, und Charlottes Neffe kam auf dem Heimweg von der Schule nach Oversands, wie jeden Mittwoch. Das musste ein langer Marsch gewesen sein, von West Dyke aus, wo die meisten Fischerkinder zur Schule gingen, wenn sie überhaupt gingen.
Er hieß Stanley, und seine Anwesenheit an Mittwochen war ebenso unvermeidlich und unveränderbar wie der Rest des Stundenplans im Gelben Haus. Sonntagabends wurden die Uhren aufgezogen, montagmorgens wurde der Milchmann bezahlt und bekam Tee, im Dampf der Küche am ersten Waschtag der Woche. Dienstage wurden mit dem Besuch von Mr Box von Boagey’s gefeiert, dem Lebensmittelhändler auf der anderen Seite der Marsch. Mr Box nahm in einem langen, grünlichen Notizbuch die Bestellung auf und trug einen langen, grünlichen Mantel, den er auch im Haus nie auszog. Er saß am Küchentisch und aß Eccles Cakes und trank Tee, während Charlotte über ihm stand und ihr Lächeln lächelte.
Mr Box war ein frettchenhafter Mann. Er machte mich nervös, weil er so glitschige rote Lippen und feuchte Augen hatte und weil Charlotte sich in seiner Anwesenheit veränderte — intensivierte. Sie hörten immer auf zu sprechen, wenn ich in die Küche kam. Einmal waren sie nicht in der Küche, sondern ich hörte ein Scheppern aus der Speisekammer und dann ein Rascheln, und als ich hinrannte, war Charlotte mit ihm da drin und sah mich an, als wollte sie sagen: »Du musst noch viel lernen. Falls du es je lernst.« Mr Box sagte: »Ich wollte nur mal sehen, was es hier sonst noch so gibt«, und kicherte.
Mittwochs war das wöchentliche Putzfest, und donnerstags kam Father Pocock. Das war der Tag, an dem Aunt Frances ein anderes Kleid und ihre Kameenbrosche trug, und den Rubinring ihrer Mutter; manchmal gab es auch noch größere Ereignisse, eine Nonne zum Tee oder so.
Freitags kam der Gärtnergehilfe, der außerdem der Milchmanngehilfe und Mr Box von Boagey’s Gehilfe war. Ein schweigsamer, verdrießlicher Junge, der eigentlich die Ligusterhecke auf Vordermann bringen und Holz für die Woche hacken sollte, aber er hackte nie genug. Er lungerte in den Schuppen um den Hof herum und sah mich über das Brennholz hinweg an. Einmal entdeckte er mich unerwartet und ließ sich die Axt auf den Fuß fallen. Einmal — das war im Frühjahr — kam er aus dem Hühnerhaus und sagte: »Küss mich«, dann lief er dunkelrot an und rannte weg. Einmal schenkte er mir etwas Milch. Da war ich ungefähr neun. Das Ereignis war zu groß, um jemandem davon zu erzählen — es gab nicht viele Geschenke im Gelben Haus —, und ich trank die Milch allein im Kohlenschuppen und spülte den Krug aus und steckte Blumen hinein und stellte ihn auf mein Kaminsims. Ich dachte viele Wochen lang beim Einschlafen liebevoll an den Gehilfen des Milchmanns, obwohl ich Milch eigentlich nicht besonders mochte.
Der Milchmanngehilfe sah — wie die meisten Kinder in der Gegend, auch wenn ich kaum einmal welche sah — aus, als könnte er die Milch selbst gut gebrauchen. Er kann nicht mehr als zwanzig Kilo gewogen haben, und aus seinen Stiefeln guckten vorne die Zehen heraus.
Charlottes Neffe war ganz anders, auch wenn er genau wie alle anderen zu klein und unterernährt war. Er muss ungefähr sieben gewesen sein, als ich ihn zum ersten Mal bemerkte, aber er hatte schon eine gewisse Autorität und Wachsamkeit. Er hatte einen festen Schritt, und er wurde immer fester und sicherer, je näher er unserer Hintertür kam, an die er nie klopfte. Stampf, stampf, kam er anmarschiert; dann klickte der Türschnapper, und er kam herein, sammelte gleich die Sixpence ein, die Charlotte ihm immer hinlegte, und ging am Spülbecken vorbei. Er sah zu Charlotte hinüber und nickte kurz, ein bisschen wie Father Pocock, so ein professionelles Annehmen von Spenden für einen guten Zweck. Dann ließ er sich in Charlottes Schaukelstuhl plumpsen und seine Hände baumelten zwischen seinen großen, roten Knien.
In einen seiner fadenscheinigen, mehrfach gestopften Socken hatte er ein Lineal gesteckt, und aus seiner Jackentasche guckte eine Reihe gespitzter Bleistifte. »Der wird es mal weit bringen«, sagte Charlotte, »Stanley ist ehrgeizig.« Er hatte eine lila Nase, und sein Haar fiel welk wie ein Tünchepinsel von einer kahlen Stelle in der Mitte aus um seinen Kopf herum — farbloses und dünnes Haar. Seine Nase lief immerzu, in jeder Jahreszeit, und er grunzte viel. Er stand nicht mal auf, wenn eine meiner Tanten in die Küche kam, und sie hielten ihn seltsamerweise nie dazu an, und Charlotte tat das ebensowenig. Er trank eine Tasse Tee nach der anderen, und zwar aus der Untertasse, und aß alles, was man ihm vorsetzte — trockene Kuchen, alte Scones, kalten Flammeri vom Mittwoch vorher. Es wurde alles für ihn aufbewahrt. Ich erinnere mich an eine ältliche Fischpastete — oder was davon übrig war, die klebengebliebene Kruste vom Rand, die man stundenlang einweichen musste, bevor man die Form abwaschen konnte. Stanley klopfte sie mit einem Messergriff in fünf Minuten ab. Alles, was erst an dem Morgen gemacht worden war — frisches Brot, noch warmer Kuchen, üppig belegte Pflaumentarte —, verschwand in ihm, zusammen mit den Resten und ohne jeglichen Kommentar. Solange es etwas zu essen war, aß Stanley es. Er war eher wie ein Hund als wie ein Junge, allerdings mit deutlich weniger Elan und Dankbarkeit.
Wenn er ging, steckte Charlotte ihm jeden Mittwoch einen Apfel in die Tasche zu den frisch gestopften Socken, und er schulterte sein Bündel, setzte sich die Ballonmütze auf das spärliche Haar, sagte: »Wiedersehen, Tante«, und war weg. Der Apfel wurde spätestens beim Hühnerhaus aus der Tasche gezogen, und beim Hoftor biss er herzhaft hinein. Ich sagte: »Vielleicht hat er einen Bandwurm«, aber Charlotte sagte: »Nein, das glaube ich nicht.«
»Ist Stanley arm?«, fragte ich Aunt Mary.
»O ja. Sie sind sehr arm. Charlottes Schwester hat ungut geheiratet. Ein ganz unbedeutender Mann. Sie wohnen in Phyllis Alley.«
Phyllis Alley war eine Seitenstraße zum Fisherman’s Square, und sie war gebaut und »Allee« genannt worden, um der Region einen etwas baumreicheren Klang zu verleihen, aber das hatte offensichtlich nicht funktioniert. Vor nicht allzu vielen Jahren hatten sie am Fisherman’s Square die Cholera gehabt, und manchmal gab es immer noch Typhus und Fleckfieber. Die Fischer, die es gewohnt waren, dass Wasser aus der Ferne reguliert wird, waren nicht gut in Abwasserinstallationen, und die Senkgruben und die Trinkwasserversorgung am Square und in der Alley gerieten manchmal durcheinander. Mrs Woods sprach oft von den Brunnen und den Misthaufen in diesem Teil der Marsch, und ihre Augen leuchteten.
»Was macht denn Stanleys Vater, Aunt Mary?«
»Im Moment nichts. Er hat in der Eisenhütte gearbeitet, aber dann war die Explosion. Seitdem liegt er im Bett, seine Frau macht Wäsche, und die Kinder sammeln Krabben und holen sich die Reste vom Metzger. Wir helfen natürlich, wo wir können. Sie haben noch vier weitere Kinder.«
Die Mittwochsbesuche müssen schon jahrelang stattgefunden haben, als Stanley zum ersten Mal mit mir sprach. Ich sah ihn schon gar nicht mehr. Er war wie der Küchentisch, die Uhr, der Kaminschutz, die Teedosen oder die Reihe von Bratenhauben, die wie riesige Napfschnecken an der Wand hingen.
»Pünktlich wie die Schwalben«, sagte Aunt Frances einmal, »der liebe Stanley.« Sie drückte ihm einen Penny in die Hand. »Du bist so sicher und verlässlich wie das Amen in der Kirche.«
Ich sah sie überrascht an, Charlotte schürzte die Lippen, und zwei ihrer schweren Haarnadeln fielen ihr in den Teig. Aber Aunt Frances meinte es ernst. Sie machte niemals Witze. Sie lächelte Stanley an und sah wunderschön aus. Sie streckte die Hand aus und tätschelte ihm den Kopf, und Stanley hörte auf, mit den Füßen an den Kaminschutz zu treten, lächelte zu ihr auf, und sie tauschten einen Blick aus, der sagte: Wir mögen uns. Dieser Blick war nicht so beunruhigend wie die Blicke zwischen Charlotte und Mr Box, und es war auch keiner, der einen nachts wach hielt, wie der Blick des Milchmanngehilfen. Aber als Stanleys und Aunt Frances’ Blick sich begegneten, war ich eifersüchtig. In diesem Moment lernte ich, dass unsere Körper nur Möbel sind. Dass Attraktivität nichts mit Aussehen oder Alter zu tun hat.
»Wie alt ist Aunt Frances?«, fragte ich Charlotte.
»So was fragt man nicht.«
»Ja, aber wie alt?«
»Sie muss schon vierzig sein«, sagte Charlotte. Sie lärmte mit den Pfannen herum. »Mindestens. Vielleicht auch fünfzig.«
»Wie alt ist Stanley?«
»Wird nächsten Monat zehn. Am zehnten.«