drehte er sich um, als würde er sich nie wieder bewegen, er stand still und betrachtete seine nassen Stiefel. Das Wasser wurde beinahe sichtbar aus der Marsch aufgesogen in die triefende Luft. Ich sagte: »Warten Sie mal«, und lief noch einmal in den Gang, wo das Cape hing, in dem Grandfather Younghusband durch die Landschaft marschiert war, und gab es Paul Treece. Er verschwand nahezu darin, eine weiche, arme Schildkröte mit einem noblen Panzer. »Oh, todschick!«, sagte er. »Ich sage Bescheid, dass sie ihn zurückschicken. Ich werde nicht besonders gern nass. Ich bin auch nicht sicher, ob mir das Draußensein bei meinem nächsten Vorhaben besonders gefallen wird. Egal — wird schon gehen, wenn das Schießen beginnt. Wie bei Ihrem Helden.«
»Auf Wiedersehen, Paul. Ich schreibe Ihnen.«
Das riesige Dreieck des Capes verschwand im sich lichtenden Nebel, sprang hierhin und dorthin, durch die Pfützen und die Salzhügel. Es bewegte sich in fröhlichen Hüpfern und Spritzern, und ich hörte ihn noch, nachdem er schon verschwunden war.
Seine Briefe brauchten eine Weile, bis sie ankamen, aber als sie schließlich auftauchten, kamen sie in schneller Folge und waren dick, erst aus seinem Officers’ Training Corps, dann von dem Bataillon, zu dem er als einfacher Soldat gestoßen war, um schneller an die Front zu kommen, und schließlich aus Frankreich, wo er innerhalb von drei Monaten Second Lieutenant wurde. Die Briefe waren ziemlich perfekt — die Handschrift akkurat und selbstbewusst, die Sätze sehr schön formuliert, die Adjektive passend und mit Bedacht gewählt. Es gab keine Kosenamen, nur wohlgesetzte und gut durchdachte Zuneigungsbekundungen, die manchmal, hatte ich das Gefühl, aus rhythmischen Gründen verändert wurden. Vielleicht hatte er ganze Briefe vorgeschrieben, um das zu erreichen — es war nie etwas durchgestrichen. Sie waren Übungen. Aber es war mir nicht so wichtig, ich las sie schnell, nur deswegen interessiert, weil es Briefe von einem Mann an mich waren. Ich mochte ihren Anblick auf dem Tisch in der Halle. Oft öffnete ich sie erst nach Stunden.
Denn in den folgenden Monaten, während die Soldaten in Belgien zu Tausenden fielen, war ich täglich im Neuen Haus und wurde von den Zeits mit großer Herzlichkeit aufgenommen. Über Nacht wurde ich rosig und fröhlich, ich bat Alice, mir die Haare hochzustecken, die glänzend und lockig geworden waren und ein eigenes Leben entwickelten. Rebecca mochte mich, und Theo war da.
Theo war den ganzen Tag da. Jeden Tag. Bei jeder Mahlzeit. Er war still, während seine Schwester und seine Mutter redeten und redeten — so klug, so schnell —, aber er schien mich dauernd anzusehen, und wenn ich ihn dabei erwischte, sah er nie weg, sondern lächelte. Wir gingen zusammen im Park spazieren und saßen zusammen drinnen, und abends brachte er mich über die Marsch nach Hause. Im Oktober fuhren er und Rebecca nach Cambridge, aber ich ging weiterhin zu ihnen und half Mrs Zeit mit der Kriegsarbeit — sie führte in ihrem Morgenzimmer etwas, das sie »Das Depot« nannte, und etwas eingeschüchterte, respektable Damen aus den Reihenhäusern rollten dort Verbände auf. Einmal schickte Theo Blumen ins Gelbe Haus, um mir zu danken, dass ich seiner Mutter half. Er kehrte vor Ende des Semesters nach Hause zurück und war stundenlang mit ihr hinter verschlossenen Türen.
Als wir eines Abends zurück zum Gelben Haus gingen, betrachtete er die rauchenden Eisenhütten und sagte: »Ich will sie nicht. Ich sehe sie nicht als meine an. Nun ja, der Krieg wird wohl einiges entscheiden, nehme ich an.«
»Willst du … meldest du dich zum Kriegsdienst?«
»Im Moment ist alles ein bisschen undurchsichtig. Ich bin nicht sicher, ob ich überhaupt zugelassen würde. Wir haben einen deutschen Namen. Wir haben ihn nicht geändert, wie die meisten Leute. Wir sind ihnen peinlich — und verdächtig. Es würde aussehen, als bekämpften wir unsere eigenen Leute, hat man uns gesagt — aber es fühlt sich nicht so an. Warten wir ab.«
»Ja. Ich merke auch, dass du keine besonders starken patriotischen Gefühle hegst.«
»Nein. Hast du etwas vom gefürchteten Treece gehört?«
»Ja«, sagte ich. »Regelmäßig.«
»Seid ihr — falls ich das fragen darf — verlobt?«
»Himmel, nein!«
»Ich dachte. Entschuldige. Ihr saht aus wie ein Paar, als ihr an dem Tag auf dem Land zum Frühstück kamt.«
»Ach, das war reiner Zufall. So ist das bei Lady Celia. Alle anderen da waren berühmt und alt, da waren wir praktisch aufeinander angewiesen.«
»Ziemlich künstlerischer Ort, nicht wahr? Das war doch sicher was für den alten Treece.«
»Ich glaube, ihm gefiel es da.«
»Und dir?«
»Teilweise.«
»Er ist ein bisschen ein zartes Pflänzchen, oder? Wenn man mal ehrlich ist. Fast eine Witzfigur.«
Ich schwieg. Er sagte: »Ich bin ins Fettnäpfchen getreten. Oh Gott, es tut mir leid. Du machst dir bestimmt Sorgen um ihn. Er kommt bestimmt bald zurück. Er bekommt Urlaub.«
»Er wollte, dass ich zu seiner Einschiffung nach London komme, aber das hätte ich natürlich nicht machen können.«
»Wirklich? Ich glaube, das hätte dir Spaß gemacht. Nun ja, bis Weihnachten soll es vorbei sein, habe ich gehört. Höre ich andauernd.«
Wir gingen am Strand spazieren und fuhren mit der Kutsche aus und besuchten The Hall — aber dort war niemand. Die Fensterläden waren geschlossen. Vor dem Mausoleum hing eine Kette. Die Sonne schien jeden Tag, als gäbe es etwas zu feiern, es war ein herrlicher, wunderschöner Herbst. Rebecca verließ Cambridge und besuchte uns kurz, dann reiste sie mit entschlossener Miene nach London, in politischer Mission, wie sie sagte. »Sie ist gegen die Suffragetten«, sagte Theo, »wie so viele herrische Frauen.«
Er brachte mir auf dem neuen Platz das Tennisspielen bei und lachte, weil ich mich so gemessen bewegte, aber nicht so, dass ich dumm dastand. Ich sprach Deutsch mit ihm und Mrs Zeit — sie sagten, sie würden es sonst bald ganz vergessen und könnten es normalerweise nur sprechen, wenn die Angestellten nicht in der Nähe waren. »Wie schön Sie sprechen«, sagte sie, »perfekte Aussprache.« Und ich sagte: »Das liegt an Mrs Woods.«
Aber ich hatte Mrs Woods vergessen. Ich hatte mein Zuhause insgesamt vergessen — den Haushalt, die Buchhaltung, Alice. Nach Hause ging ich nur zum Schlafen und zum Beten, dass der nächste Tag bald kommen möge.
Eines Tages wachte ich sehr früh auf und fragte mich, warum. Es war sonnig und still. Ich hatte das Gefühl, dass gerade etwas aufgehört hatte. Ich trat ans Fenster und sah im Morgenlicht Theo in der Kutsche vor dem Gelben Haus stehen. Er machte keine Anstalten auszusteigen, sondern saß einfach nur da und starrte vor sich hin. Er wirkte irgendwie eigenartig, geduldig, gesetzt, und schien das alte Genesungsheim anzustarren, aber gar nicht zu sehen, in dem inzwischen Soldaten auf einem frisch gemachten Exerzierplatz auf und ab, auf und ab marschierten. Gelegentlich klang das blecherne Bellen des Sergeant-Majors zum Haus herüber. Um Mr Pococks Pfarrhaus und das Nonnenkloster herum war eine ganze Zeltstadt entstanden, die sich langsam in die Marsch ausbreitete. Die Esplanade war am kaputten Ende verlängert worden.
Theo saß so bemerkenswert still, selbst für seine Verhältnisse, dass ich mich anzog und zu ihm hinauseilte, ohne mir das Haar hochzustecken, und er drehte sich um und sah zu mir herunter.
»Ist dir warm genug?«
»Ja. So ein schöner Tag.«
»Könntest du — einsteigen?«
»Ja, natürlich.«
Hinter mir stand die Haustür sperrangelweit offen, sodass der Sand hineinwehte, ich hatte nicht mal nachgesehen, wie es Mrs Woods ging, ich hatte Alice nicht gesehen, und ich trug keinen Hut. Er lehte sich aus der Kutsche und half mir hoch, und als ich neben ihm saß, fuhren wir landeinwärts, weg von dem Weg, der zu den Zeits führte, und weg von der Küste. Wir mäanderten landeinwärts in Richtung der Kirche, dann entfernten wir uns wieder von ihr, weiter an Farmen und Heuschobern vorbei, dann nordwärts in Richtung der Eisenwerke. Wir standen da und betrachteten sie über die Stoppelfelder hinweg, auf denen zwischen dem Stroh frische Blumen wuchsen, denn der Sommer wollte nicht enden. Es war ganz still, außer dass ich den Eindruck hatte, noch nie so viele Vögel gehört zu haben. Er sagte: »Polly, wir haben gerade von Rebecca gehört, dass Paul Treece tot ist. Er ist vor einer Woche gefallen.«
Die Vögel zwitscherten immer weiter, und der Rauch aus den Schornsteinen stand im blauen Himmel. Das Pferd schüttelte wild den Kopf und klopfte mit einem Huf. Es zog zur Hecke und fing an, von dem daneben wachsenden Gras zu fressen. Nach einer Weile legte Theo einen Arm um mich, und ich legte den Kopf an seine Schulter. Er roch nach Seife und Mann. Ich hatte noch nie einen Mann gerochen. Ich fing an zu weinen, nicht weil Paul Treece tot war, sondern weil ich so verdorben war, dass der Duft von Theo Zeit mich so erregte.
Er wendete die Kutsche und wir fuhren zurück zum Neuen Haus, mit meinem Haar an seiner Wange. Ich glaube, wir kamen an Leuten vorbei, die es gesehen haben, aber das war mir egal. Als wir in die Einfahrt zum Neuen Haus fuhren, rührte ich mich immer noch nicht, und er auch nicht, aber dann kam ein Lichtblitz von irgendwo über uns, und ich zuckte zusammen und setzte mich auf; aber er hielt mich immer noch fest.
»Alles in Ordnung. Das ist das Teleskop. Es wird abgebaut. Regierungsanordnung. Die halten uns für deutsche Spione.«
»Ich habe mal geglaubt, da oben einen Engel zu sehen.«
»Ich habe dich einmal von da oben gesehen. Du hast versucht zu fliegen wie ein Vogel.«
»Ich war zwölf. Das ist Jahre her.«
»Ich fand dich bezaubernd.«
Ich löste mich, setzte mich gerade hin und versuchte, mein Haar zu ordnen.
»Kannst du mich nach Hause bringen?«
»Noch nicht. Du sollst zu uns kommen. Anweisung von Mutter«, und sie stand auch schon in der Tür in einem ihrer komischen, überdekorierten Kleider, mit Broschen und Ketten, das Gesicht angehoben wie Hekuba, mit Tränen auf den Wangen, die kurzen, kräftigen Arme ausgestreckt. Ich dachte: »Sie sieht aus, als würde sie gleich singen«, und musste beinahe lachen.
»Mein liebes, liebes Kind!« Solche Umarmungen und Küsse hatte ich noch nie bekommen, und ich hatte keine Ahnung, wie ich darauf reagieren sollte. Aber ich spürte sie weniger, als ich Theo neben mir spürte, der mich beobachtete; und wieder weinte ich wegen meiner Verdorbenheit, dass mich ein Todesfall so glücklich machte.
Ich hatte bisher noch nicht mal an diesen Toten gedacht. Das würde ich nachholen, wenn ich zu Hause war.
»Würde es Ihnen viel ausmachen, wenn ich nach Hause gehe?«
»Mein Kind, ja, sehr viel.«
Ich setzte mich zum Kaffee und dann zum Frühstück mit Käse und kleinen, süßen Kuchen, aber ich aß sie nicht mit Appetit. Hausmädchen tapsten vor der Tür herum, alle flüsterten. Über Mrs Zeits cremige Wangen flossen die Tränen, und sie schämte sich nicht dafür. Ich dachte, wie fremd sie ist.
Aber Theo saß neben mir.
»Ich muss gehen und mich frischmachen«, sagte ich, und Mrs Zeit nahm mich mit in ihr Schlafzimmer, und ich saß an ihrem Frisiertisch vor einem Wald aus Fotos; kräftige, kleine Männer mit kurzen Bärten, Frauen mit vielen Kinnen und rüschenbesetzten Krinolinen und Bergen von gekräuseltem Haar und strammen, gigantischen Brüsten. Rebecca, ein strahlendes Kind, und Theo — niemand anderes als Theo — als Baby, mit wachsamen, liebevollen, schwarzen Augen. Er trug einen Satinanzug und saß entschlossen auf einer Satin-Chaiselongue.
»Am besten bleiben Sie für eine Weile bei uns, Polly, Liebes. Ein oder zwei Tage.«
»Nein, ich muss zurück. Mrs Woods ist ja auch noch da.«
»Über Mrs Woods müssen wir auch bald sprechen, Sie und ich. Es wird Zeit für eine Entscheidung.«
»Sie hat niemanden.«
»Das ist kein Grund, dass Sie ihr Ihr junges Leben opfern.«
»Bitte, darüber möchte ich jetzt nicht sprechen.«
»Natürlich nicht. Natürlich nicht. Aber wir müssen bald darüber sprechen. Das habe ich beschlossen. Wir müssen über Ihre Zukunft sprechen. Über die Universität. Ja. Das habe ich beschlossen. Oxford soll es werden, denke ich. Sehen Sie mich doch bitte nicht so an. Oxford ist genau richtig für Sie.«
Ich sagte, dass ich nach Hause gehen wolle, und Theo kam bis zu den Reihenhäusern mit. Ich spürte seinen sanften Blick in meinem Rücken den ganzen Weg hinunter bis zu unserem Gartentor. Ich versuchte, nicht daran zu denken — nur an Paul Treece zu denken — den toten Paul Treece, seine Ohren, die abfallenden Schultern, die Hände, die die Bücher berührt hatten, die mein Haar berührt hatten, wie er jetzt schlaff in einem Loch in Frankreich verrottete. Ich schaffte es vielleicht eine Minute lang.
Am Tor drehte ich mich um, um Theo zuzuwinken, aber ich hatte mich getäuscht, er war nicht mehr da.
Zu Hause half ich Alice. Wir zogen Mrs Woods um, sprachen über die nächsten Mahlzeiten und Haushaltsangelegenheiten. »Brauchen Sie eine Pause?«, fragte Alice. »Sie sehen niedergeschlagen aus.«
»Jemand ist gefallen«, sagte ich. »Der junge Mann, der am Tag der Kriegserklärung hier war.«
»Ich erinnere mich an ihn«, sagte sie. »Er sah so arglos aus. Nun ja. Er ist nicht allein da draußen. Mr Box von Boagey’s ist auch tot, und so viele andere. Es werden noch viele, viele hundert werden. In der Zeitung stand, es ist der größte Krieg in der Geschichte Europas. Kaum zu glauben, oder? Dass wir Teil der Geschichte sind?«
Ich ging vier Wochen lang täglich zu den Zeits, und dann noch vier Tage, und der Spätherbst war immer noch golden, und an den Bäumen und Hecken leuchteten die Beeren. Im Haus war ein einziges Kommen und Gehen. Uns wurde die Einquartierung belgischer Flüchtlinge mitgeteilt, aber ich habe nie einen gesehen. Hinter verschlossenen Türen fanden wichtige Besprechungen statt, und ich saß an Mrs Zeits Schreibtisch und schrieb Briefe und überprüfte etwas obskure Listen, während sie geschäftig und gesprächig durch die Räume eilte — oft sprach sie mit sich selbst. Sie richtete sich einen eigenen Tisch in der Nähe eines riesigen Telefonapparats ein, und Theo, der von ihr amüsiert und begeistert war, erhaschte manchmal meinen Blick und bezog mich in seine Zuneigung zu ihr ein. Sie hatte alles unter Kontrolle. Aber die Diskussionen hinter verschlossenen Türen hinterließen, wenn die Tür wieder aufging, eine Spannung in der Luft.
»Wir wissen immer noch nicht, was sie mit uns vorhaben«, sagte er.
»Was sollten sie denn mit euch vorhaben?«
»Ins Gefängnis werfen. Inhaftieren.«
»Ach, Theo, das ist doch lächerlich. Ihr seid Engländer. Ihr seid so englisch wie ich.«
»Ja. Ich bin sicher, dass es nicht passieren wird. Es ist alles so willkürlich. Wollen wir runter ans Meer gehen? So nah wir kommen. Wir sind ja auch reich. Da gibt es Neid. In Newcastle inhaftieren sie alle Deutschen, die nicht eingebürgert sind, egal, wer sie sind. In Newcastle haben wir auch angefangen, meine Familie. Als wir den Kontinent verlassen hatten. Schwer vorstellbar, dass wir nicht hierhergehören sollen.«
Wir gingen am Meer spazieren, und wir gingen über die Felder spazieren, und noch Anfang November saßen wir nach dem Abendessen draußen auf der Terrasse. Als es kühler wurde, gaben sie mir einen alten Pelzmantel. Er war ganz seidig. »Das ist Zobel«, sagte er. »Du bist eine Prinzessin.« Manchmal küsste er mich. Ich stellte fest, dass ich sehr gut küsste, so gut wie er — oder sogar besser.
Ein Brief kam von Paul Treece, mit einem Gedicht, das Am Tor zur Vergangenheit hieß. Er kam eine Woche nach seinem Tod hier an, er hatte ihn am Tag vor seinem Tod abgeschickt. Das Gedicht ging mir ständig durch den Kopf, aber ich gestattete es ihm nicht, in mein Herz vorzudringen. Ich nahm es überallhin mit, und auch wenn ich anständig genug war, es niemandem zu zeigen, wusste ich doch, dass mein Motiv dafür, es immer in der Tasche zu haben, kein ganz reines war, und am Ende erwähnte ich es Theo gegenüber doch beiläufig. »Du warst in ihn verliebt«, sagte er so traurig, dass mir das Herz aufging.
»Nein«, sagte ich, »nein, das war ich nicht, nicht verliebt.« Aber ich sagte es mit einer seltsamen Betonung des »ich«.
»Aber ihr wart euch sehr nah, du und er. Bücher und so. Oder? Das habe ich gespürt. Ich nehme an, ihr kanntet euch schon lange.«
»Ach, ein Jahr oder so.« (Nicht: »Ich hatte ihn zweimal gesehen.«)
»Mich kennst du länger. Mich kennst du seit fünf Jahren, und ich weiß schon viel länger von dir — seit dem Tag, als du ein Vogel warst, hinter all den schrägen Vögeln.«
»Nicht gekannt«, sagte ich.
»Ich fürchte, ich lese nicht so viel. Nur Wissenschaftliches. Nun ja — und was alle lesen.«
»Du hast Robinson Crusoe gelesen. Hast du am Strand gesagt.«
»Ach, die Geschichte mit dem Fußabdruck ist ja bekannt. Aber das ist kein Roman, oder? Robinson Crusoe ist eine Biographie? Er hat doch wirklich gelebt, oder?«
Ich schlief inzwischen auch bei den Zeits und ging nur gelegentlich heim. Im Neuen Haus sollte eine Weihnachtsfeier stattfinden — nur ein paar gute Freunde der Kinder, sagte Mrs Zeit —, und das hatte ich auch Maitland geschrieben, wir schrieben uns vielleicht einmal im Monat. Sie schrieb lustige, förmliche, trockene kleine Briefe zurück, und sie schrieb immer, ich solle mich melden, wenn ich irgendetwas brauche. Sie schickte mir ein Kleid für die Weihnachtsfeier — mit Lady Celias Segen, also war meine frühmorgendliche Abtrünnigkeit im letzten Jahr wohl verziehen. Das Kleid war aus reinem Seiden-Musselin, goldbraun mit bestickten Bändern und einer blauen Seidennaht am hochgeschlossenen Kragen. Ich war etwas dünner als zu der Zeit, als sie mich in Thwaite ausgemessen hatte, und Alice änderte mir das Kleid. Ich ging nur wegen dieses Kleides nach Hause, und Alice war damit ebenso glücklich wie ich. Wir bestellten mir bei Boagey’s ein Auto für den Abend der Feier, und im Neuen Haus waren wir den ganzen Tag davor mit den Vorbereitungen beschäftigt, bis wir müde waren. Am Abend sagte Theo: »Komm, wir gehen raus. Zieh den Zobel über, Mistress Flint, und dann sehen wir uns die Sterne an.«
Es war eine frostige Nacht, aber mir war warm, und wir gingen über die Marsch und in die Dünen. Dort legten wir uns hin, und unter dem Zobel machte er mir das Kleid auf. Ich sagte: »Man wird uns sehen! Es sind überall Soldaten. Wir sollten gar nicht hier sein. Nicht mal zum Spazierengehen.« Aber wir gingen nicht. Wir blieben stundenlang dort.
»Lass uns nach Hause gehen«, sagte er. »Bleib heute bei uns. Wir haben noch die ganze Nacht vor uns.«
Also ging ich bei den Zeits zu Bett und wartete auf ihn. Ich trug mein seidenes Nachthemd, Maitlands letztes Weihnachtsgeschenk, und bürstete mein Haar zweihundert Mal, wie Aunt Frances es mir beigebracht hatte. Die großen Uhren unten schlugen elf und dann zwölf, und dann endlich, oh, endlich, etwas später, drehte sich mein Türknauf.
Mrs Zeit kam herein und setzte sich ans Fußende meines Bettes.
»Wir werden Sie so vermissen, Polly. Ach, wir werden Sie so vermissen. Als Tochter und Schwester. Die ganze Familie wird Sie vermissen. Wir reisen in drei Tagen ab — nur noch drei Tage bis London. Und wir wollen, dass Sie etwas wissen. Wir alle wollen Sie unterstützen. Wir lassen es nicht zu, dass Sie Ihr Leben hier vergeuden.« Sie nahm den Zobel, der über einem Stuhl lag, und legte ihn sich gemütlich über den Arm.
Ich sagte danke.
»Auf irgendeine Weise werden wir Sie schon nach Oxford bekommen. Wie finden Sie das? Schlafen Sie jetzt. Morgen früh gehen Sie nach Hause, und kommen Sie bloß nicht wieder her. Sie haben so hart gearbeitet für das kleine Fest der Kinder. Ruhen Sie sich einfach zu Hause aus, bis es vorbei ist. Und falls wir uns nicht mehr sehen, bevor wir abreisen, denken Sie nicht, wir hätten Sie vergessen! Wir bleiben immer in Kontakt, liebe Polly. Gute Nacht, mein Kind.«
Sie ging hinaus, streichelte den Pelz, und ich lag wach, bis der blasse, kalte Morgen kam und die Hausmädchen noch im Dunkeln anfingen, im Haus herumzuwirbeln.
Theo war sehr liebevoll, als wir uns verabschiedeten, und küsste mich auf die Wange, und Mrs Zeit küsste mich ebenfalls, als der Chauffeur mir die Tür des Daimlers aufhielt. Mutter und Sohn standen nebeneinander auf der Treppe, sie mit dem freundlichsten Gesichtsausdruck, er strammstehend und über unsere Köpfe blickend, nicht gerade lächelnd, aber auch nicht so beherrscht, wie er es gern gehabt hätte. Aber er hatte sich unter Kontrolle.
»Wir können Sie nicht zu Fuß nach Hause gehen lassen«, sagte Mrs Zeit. »Nach allem, was Sie für uns getan haben. So viel gearbeitet. Und der Wagen kann dann gleich weiterfahren zum Bahnhof und die Gäste abholen.«
Im Auto ließ ich zunächst nur die naheliegendsten Gedanken zu. Wie ich Alice das mit dem Kleid erklären sollte. Ob ich ihr sagen sollte, dass ich einen schrecklichen Fehler begangen hatte. Dass von vornherein nicht vorgesehen gewesen war, dass ich an dem Fest teilnahm. Aber ich konnte die Enttäuschung und den Schmerz, die sie meinetwegen empfinden würde, schon in ihrem roten Gesicht sehen, und dann die aufkommende Wut, und wusste, dass ich es nicht ertragen würde.
Als der Wagen an der Kirche und den Geistern meiner Heiligen vorbeiglitt, betete ich — ich glaube, vor allem für Alice: »Lieber Gott, bring das bitte in Ordnung. Mitten im Chaos der Nationen und zwischen den Toten in Frankreich und den großen Katastrophen in der Welt, und obwohl ich immer noch nicht konfirmiert und volles Mitglied der Church of England bin, bitte ich durch Christus, unseren Herrn, dass dieser erbärmliche Schmerz in meinem wertlosen kleinen Leben sich irgendwie löst und am Ende zu etwas nütze ist.«
»Ach, die arme, alte Seele!«, sagte Mrs Treece. »Nach all den Jahren. Einfach plötzlich weg! Nun ja, so was passiert. Im Schlaf gestorben. Als Sie gerade von einem Besuch zurückkamen? Das war bestimmt kein gutes Gefühl, an ihrem Ende nicht bei ihr gewesen zu sein.«
»Ja, das stimmt. Sie war die letzte von denen, die ich seit meiner Kindheit kannte. Ich habe so ein schlechtes Gewissen. Wissen Sie, sie und ich, wir waren nie gute Freundinnen. Sie hat es mir verübelt, dass meine Tanten mich aufgenommen haben. Sie hat eine meiner Tanten immer verehrt, und als ich kam, hat diese Tante stattdessen mich verehrt, und …«
»Das hat sie verwirrt«, sagte die alte Mrs Treece. »Lassen Sie uns für sie beten. Schlaganfälle sind schrecklich. Ich weiß noch, wie mein Vater darniederlag.«
Sie war so klein, dass ihre Füße kaum den Boden berührten und der Schaukelstuhl, in dem sie saß, aufrecht und gerade stehenblieb. Sie trug natürlich Schwarz, wegen Paul — schwarze Riemchenschuhe wie ein Kind, über Wollstrümpfen, und selbst der soldatische Stehkragen um ihren Kinderhals war von schwarzer Spitze gesäumt, wie auch die lange Schürze über ihrem Wollkleid. Daraus schien klar und rosig ihr Gesicht hervor, und ihr Haar glänzte silbrig. Sie schälte große Kartoffeln über einer Zeitung und wusch sie in einer Schüssel neben sich, bevor sie sie in den Topf auf dem Feuer fallen ließ.
Draußen vor der Farmhausküche schneite es heftig, und der Schnee sammelte sich in derselben Ecke aller neun kleinen Scheiben des Fensters, unter dem wir in der steinernen Spüle das Geschirr abwuschen. Herrliches Kohlenklein ließ das Kochfeuer leuchten. Ich saß in meinem freundlich-braunen Samtkleid auf dem Kaminschutz, und der tiefe, dunkle Kupferkessel, in dem Wasser erhitzt wurde, wärmte mir den Rücken. Im Ofen neben dem Feuer briet ein Huhn, denn es war Weihnachten. Die Einladung auf die Farm der Treeces hatte am Morgen meiner Verbannung zu Hause auf mich gewartet, als ich Mrs Woods tot vorfand.
»Und ihre Beerdigung war sicher eine traurige Angelegenheit?«
»Ja, allerdings. Es waren so wenig Leute da. Ein paar Nonnen — sie hatte ein Faible für Nonnen, hat aber nie einzelne kennengelernt. Sie hatte überhaupt kein Talent für Freundschaften, arme Mrs Woods. Sie war schrecklich klug. Sie konnte drei Sprachen und war auf der ganzen Welt gewesen. Aber sie hatte sich so eine Grimmigkeit angewöhnt.«
Ich hatte mein ganzes Leben lang das Gefühl gehabt, ich könnte eigentlich gut mit Leuten sprechen, wenn ich nur die Gelegenheit bekäme, und hier war ich schließlich in einer Farmküche im Hochmoor im Nordwesten mit Paul Treeces Mutter, und ich konnte es tatsächlich — allerdings möglicherweise nur, weil sie selbst so unbefangen war, dachte ich. Vielleicht war es auch ihr Kummer, der sie vollkommen unkritisch gemacht hatte, sodass sie alles hinnahm. Vielleicht würde es nicht so bleiben.
Aber im Moment hatte ich das Gefühl, schon seit Jahren mit ihr zusammenzuleben.
»Die arme Seele!«, sagte sie jetzt wieder. »Keine Freunde, die um sie trauern? Paul hat Trauernde, sogar in gehobenen Positionen.«
»Ja, die hat er.«
»Paul kannte ein paar der wichtigsten Leute des Landes, auch schon vor dem Studium. Sein Zimmer ist voller Briefe von Leuten von hoher Geburt. Schreibende, kluge Menschen.«
»Da bin ich sicher.«
»So habe ich Sie gefunden, Polly, zwischen all den Briefen von Universitäten und Lords und Ladys. Ich bin nach oben gegangen und habe alles gelesen, was in seinem Zimmer ist, immer weiter. An diesem ersten Tag haben sein Vater und Laurie mich gelassen. Sie sind allein zurechtgekommen. Vielleicht drei Tage lang, ganz allein. Es gab Brot und Schinken und ein bisschen Käse und ein paar Kartoffeln. Als das Telegramm kam, habe ich als erstes Tücher über die Bilder und die Spiegel gehängt und im ganzen Haus die Fenster aufgerissen. Es war eiskalt, bitterkalt. Ich ging hinauf und setzte mich in sein Zimmer. Pauls Zimmer war immer der kälteste Raum im ganzen Haus, aber er hat sich nie beklagt, nie. In den letzten Jahren war er allerdings auch kaum hier, und ich fand, er wirkte schrecklich dünn, als er nach Frankreich ging.
Ich fand es gut, dass es da oben so kalt war, als ich alles gelesen habe. Das Zimmer war voll von ihm. Elektrisch. Sie wissen ja, wie er war. Elektrisch. Und so ordentlich! Da lag nicht mal ein Bleistift schief. Seine Bücher waren auf dem Regal über dem Bett und dem Fenstersims einsortiert, mit kleinen Trennstreifen aus Papier dazwischen, und auf dem Tisch sämtliche Schulhefte der ganzen Schul- und Unizeit. Ach, er war so ein guter Student, seine Schrift war so ordentlich und sah so klug aus. Wir haben keine Ahnung, woher er das hatte. Die Lehrer auch nicht. Latein hat er aus dem Ärmel geschüttelt. Er konnte genauso schnell Französisch schreiben wie Englisch, mit den ganzen kleinen Strichelchen obendrüber, so herum, andersrum, wie gedruckt. Ich habe ihn schon mit zwölf da oben sitzen und Latein schreiben sehen, frierend und mit roten Ohren. Einmal habe ich ihm eine Mütze gestrickt, aber ich kann mich nicht erinnern, dass er sie getragen hätte. Wenn sein Vater nicht da war, habe ich ihm das Abendessen hochgebracht. Sein Vater hat immer gesagt, wenn er es nicht bis an den Tisch schafft, kommt er eben ohne Essen aus. Er hat ihm auch keine Lampe erlaubt, weil das Öl so teuer war. Ich weiß aber, dass er unter seinen Kleidern eine Lampe mit nach oben genommen hat, als er noch zur Schule ging — wegen der Hausaufgaben. Ein Wunder, dass er nicht verkohlt ist. Aber er hat immer Glück gehabt, bis jetzt. Er schien ein Glückskind zu sein. Am Ende war sein Vater stolz auf ihn, und er konnte machen, was er wollte. Er hat nicht mal mehr erwartet, dass er ihm auf der Farm hilft — nun ja, er war auch keine große Hilfe, wenn er es tat. Er war mit den Gedanken immer woanders. Paul war seinem Vater ein Rätsel, und vielen anderen auch, aber es wird anständig um ihn getrauert — nicht wie bei Ihrer armen Bekannten.«
Ich war vom Daimler der Zeits aus betend und an das Kleid denkend ins Haus gegangen und hinauf in Mrs Woods’ Zimmer, wo Alice sich am Bett zu mir umdrehte.
»Wann, wann?«
»Jetzt gerade. Es muss gerade erst passiert sein. Ich war zum Frühstück bei ihr, sie hat noch gefrühstückt. Sie ist tot.«
»Sie kann nicht …« Ich konnte nicht hinsehen. Ich hatte noch nie eine Tote gesehen. »Woher weißt du es?«
»Gucken Sie mal.«
»Ich kann nicht.«
»Doch, können Sie. Und sollten Sie auch. Bleiben Sie hier. Ich gehe den Arzt holen. Nehmen Sie ihr Gebetbuch und lesen Sie ein paar Gebete, ja?«
»Ich kann nicht.«
»Gut, dann gehen Sie runter. Machen Sie sich ein heißes Getränk, ich bin so schnell wie möglich zurück.« Und damit verließ sie das Zimmer.
, und Mrs Woods war überall. Sie stand auf der Treppe, sie saß im Sessel neben dem Farn, sie linste mit ihrer Strickarbeit um die Arbeitszimmertür, ihr Spazierstock klackerte auf den bunten Fliesen; sie gab an der Küchentür Kommandos. Wenn ich aus dem Fenster schaute, war sie da, über ihre Wärmflasche gebeugt, und eilte zur Kirche. Sie saß im Esszimmer und starrte ein Kind an, dessen Nase auf Höhe der Gabeln war. Vor meinem Schlafzimmer flüsterte sie, und draußen auf dem Hof spähte sie zwischen den Gardinen des Treppenhausfensters hindurch, indem sie eine davon mit einem Finger beiseitehielt. Am Ende trugen meine Füße mich an den einen Ort, wo sie nicht war: in ihr Schlafzimmer, wo ein Nichts unter der Baumwolldecke lag — ein Nichts mit einem jungen Gesicht, ganz sanft und hübsch, und der Raum ein Frieden.
»Gehen Sie doch mal bitte in die Speisekammer«, sagte Paul Treeces Mutter, »auf dem Stein sind ein paar Schweinefleischwürstchen. Die braten wir zu dem Huhn im Ofen. Die Brotsauce ist ganz unten im Ofen, da ist noch Platz. Der Plumpudding ist auch bald so weit. Es ist noch Platz für einen Topf. Und eine schöne Schafskopfbrühe. Ich bin dieses Jahr nicht ganz bei mir, normalerweise bin ich flotter. Vielleicht ist es noch zu früh, sich überhaupt mit Weihnachten zu beschäftigen, aber Paul hätte auch nicht gewollt, dass wir uns unterkriegen lassen.«
»Warum haben Sie denn ausgerechnet mir geschrieben, von all den Leuten? Haben Sie es den anderen gar nicht mitgeteilt?«
»Nein. Manche scheinen es schon gewusst zu haben. Wir haben ein paar Nachrichten bekommen. Keine seiner Briefe — sie haben sie uns alle aus Frankreich geschickt, zusammen mit seinen Sachen, sogar seinen Füller und Fotos und Bürsten — keine anderen Briefe waren so warmherzig wie Ihre. Bei wichtigen Leuten ist das wahrscheinlich auch nicht zu erwarten. Die meisten waren eher huldvoll, wie an jemand Geringeren, aber das hätte sich mit der Zeit sicher geändert. Als ich Ihre Briefe gelesen habe, dachte ich, das ist ein nettes, altmodisches junges Mädchen, das Paul mag.«
»Ja, das stimmt.«
»Und ihn gern geheiratet hätte.«
»Nun …«
»Ich dachte, unter all den Wichtigen wäre sie die Glückliche gewesen. Diese hier, dachte ich, hätte es nur ein bisschen geschickt anstellen müssen, dann hätte sie ihn bekommen können. Er hat mir von Ihnen erzählt.«
»Oh, wirklich?«
»Er hat mir auch von anderen erzählt. Ladys und Sirs und Reiche und Schöne und so. Sag ich, Paul, die sind mir alle fremd. Keine Ahnung, wie du mit denen zurechtkommst. Schon finanziell konnte es nicht einfach sein, nur mit dem Stipendium. Mir gefiel es gar nicht, dass er erst bei den einen Leuten, dann bei den anderen unterkam und nie einen Penny zurückzahlte. Das ist auch so etwas, wo ich keine Ahnung habe, woher er es hatte. Liegt gar nicht in der Familie. Ich habe es seinem Vater auch nicht erzählt. Zu seiner Abschlussfeier bin ich ganz allein gefahren, schon eine Weile her. Sein Vater hätte die Aufmerksamkeit auf sich ziehen können — er mag die Leute im Süden nicht, weil sie der Arbeit aus dem Weg gehen.«
»Haben Sie seine Freunde in Cambridge kennengelernt, Mrs Treece?«
»Nicht viele. Sie waren ein wenig reserviert, könnte man sagen. Ich habe nach Ihnen gesucht, Polly Flint, oder nach einer wie Ihnen. Einer, die Paul liebt.«
»Oh, ich habe …«
»Sagen Sie es nicht. Ich merke es doch. Als ich Ihre Briefe gelesen habe, habe ich mir gesagt: Dieses Mädchen möchte ich jetzt bei mir haben.«
Sie hatte die Kartoffeln vergessen und ließ die Hand mit dem abgenutzten kleinen Messer in den Schoß zwischen die Schalen sinken. Sie schaute ins Feuer. Ich sagte: »Lassen Sie mich das machen«, und nahm ihr die Sachen ab. »Bleiben Sie einfach sitzen. Ich mache das schon.« Ich, die ich in meinem ganzen Leben noch keine Kartoffel gekocht hatte.
Die Tür ging auf, und Pauls Vater und Bruder kamen mit Eimern in der Hand vom Kälberfüttern herein und stampften sich den Schnee von den Füßen, sie klapperten und schrien herum und schenkten uns überhaupt keine Aufmerksamkeit. Sie traten die Hunde in eine Ecke, und Pauls Vater stopfte seine nasse Mütze zum Trocknen zwischen einen durchhängenden Balken und die Decke. Pauls Bruder warf den schmutzigen Eimer unter die Spüle, damit wir ihn nach dem Abendessen abspülen konnten. Ihre Stiefel hinterließen Pfützen auf den kleinen Linoleumflecken, die nur einen geringen Teil des Steinbodens bedeckten, sodass er wirkte, als wäre er hier und da mit Blumen und Blättern und Strudeln bemalt, und an anderen Stellen guckte das antike Kopfsteinpflaster hervor.
Schweigend setzten wir uns zum Essen. Es gab eine einfache Bank mit einem Muster aus roten Vögeln. Es war kaum eine Decke auf dem Tisch, fadenscheiniges Leinen, aber sehr sauber. Wir tranken aus Bechern, nicht aus Gläsern. Das Besteck war schlicht und krumm, aber es glänzte. Der Plumpudding wurde mit einer seltsamen, einfachen Sauce serviert, wie Mehlschwitze. »Toller Pudding«, sagte Pauls Bruder. »Richtig guter Pudding.« »Mit Kartoffeln und Möhren«, sagte Pauls Mutter. »Da sind jede Menge Korinthen drin«, sagte der Bruder rechtfertigend und sah mich an, ob es mir etwa nicht schmeckte.
Nach dem Essen zog der Bauer seine Stiefel aus, hievte sich auf eine hohe Holztruhe am Ende der Küche und schlief ein. Seine Füße zeigten zur Decke und steckten in Socken, so dick wie ein Kettenhemd. Mrs Treece und ich wuschen im Spülbecken das Geschirr ab, dann die Eimer von den Tieren, und Pauls Bruder Laurie saß am Feuer und steckte Zweige hinein, bis die Funken flogen. Irgendwann lehnte er sich zurück und schlief ebenfalls ein.
Was Paul wohl an Weihnachtsnachmittagen gemacht hatte? Ich stellte mir vor, wie er in seinem kalten Schlafzimmer Yeats las, sorgfältige Briefe an berühmte Leute schrieb, und seine eigenen Gedichte.
»Gehen Sie Weihnachten in die Kirche, Mrs Treece?«
»Nein, die Mühe machen wir uns nicht. Nur zum Erntedank.«
»Wo ich herkomme, sind wir sehr fromm.«
»Ach, für manche passt das. Der Pfarrer war da wegen Paul. Er müsste zwar in Übung sein, wusste aber trotzdem nicht, was er sagen soll. Allein mit Pauls Zug sind elf aus unserer Gemeinde nach Frankreich gegangen, neun davon waren innerhalb einer Woche tot. Was soll er denn da groß sagen? Ich verstehe sowieso nicht, wofür das gut sein soll. Keine Ahnung. Ich gehe mal hoch und ziehe mich um.«
Ich setzte mich dem schlafenden Bruder gegenüber. Er war klein und stämmig, hatte große Hände, die zwischen seinen auseinandergefallenen Schenkeln hingen, sein Kopf kippte seitlich nach hinten, sein Haar war jung und weich. Seine grobe Hose war hochgekrempelt, und seine Socken hatten ebenso wie die seines Vaters große gestopfte Stellen, die wunderschön aussahen. Er lag still und schwer da und schien überhaupt nicht wahrzunehmen, dass ich oder überhaupt jemand Fremdes da war. Er war ein Jahr jünger als Paul. Paul und dieser Junge mussten als Babys zusammen auf diesem Flickenteppich gespielt und zusammen gelernt haben, diesen ländlichen Dialekt zu sprechen, den Paul sich dann abgewöhnt hatte, und waren zusammen in dieselbe Dorfschule gegangen. Paul hatte Laurie nie erwähnt.
Lauries Wimpern waren wie Pauls. Seine Ohren ganz normal. Er hatte einen hübscheren Mund — einen müden, hungrigen Mund, die Unterlippe war voller als die Oberlippe. Ich betrachtete seinen Mund und dachte über Laurie nach.
»Was ist?«, fragte er, als er aufwachte. »Es wird ja schon dunkel. Ist nicht mal drei Uhr. Können Sie Tee machen?«
»Ja, ich mache Tee. Aber sollten wir nicht auf Ihre Mutter warten?«
»Sie wird’s verschmerzen. Vielleicht schläft sie. Sie hat wenig geschlafen. Ist in der Büchse da.«
Er zeigte auf eine rote Blechdose mit dem König und der Königin in Gold, die auf dem Kaminsims stand. Es war so hoch, dass ich mich strecken musste, obwohl ich schon auf dem Kaminschutz stand, und er sah mir dabei zu und half nicht. Ich fand die Teekanne, kippte den restlichen Tee aus der Küchentür, wie ich es seine Mutter hatte tun sehen, und ein Teil davon wehte gleich wieder zu mir herein. Dann goss ich Wasser aus dem großen Kessel hinein, der an einer Kette über dem Feuer hing — man brauchte dafür beide Hände —, und stellte die Teekanne auf den kupfernen Deckel. Laurie sagte: »Gutes Mädchen. Wirklich kein schlechtes Mädchen.«
»Danke.«
»Sie und Paul, Sie waren verliebt, oder?«
»Na ja …«
»Er hatte nie eine. Ehrlich gesagt, ich dachte auch nicht, dass er eine findet. Da hat ihm irgendwas gefehlt.«
»Haben Sie — waren Sie eng?«
»Ja, weniger als ein Jahr.«
»Ich meinte, ob Sie einander nahestanden. Gute Freunde.«
»Ich hab ihn nicht richtig verstanden. Klar, Freunde waren wir. Haben Sie einen Ring von ihm bekommen?«
»Nein. So war es nicht.«
»Wussten Sie, dass er vom Bauernhof kommt?«
»O ja. Ich habe ihm gesagt, ich würde gern auf einem Bauernhof leben.«
»Haben Sie wirklich? Wie sind Sie denn da drauf gekommen?«
»Ich weiß nicht. Aber es stimmt.«
»Und haben Sie es sich jetzt anders überlegt?«
»Nein.«
»Ist Ihnen klar, dass wir zwölf Stunden am Tag arbeiten, die ganze Woche, nie einen Tag frei? Meine Mam geht acht Meilen zu Fuß zum Einkaufen, um den Penny für den Bus zu sparen. Sie schrubbt seit zwanzig Jahren den Boden hier, weil wir kein Geld für eine Magd haben. Dabei ist sie früher selbst auf ein Internat gegangen, als sie jung war. Gute Herkunft. Und jetzt ist sie mit neunundvierzig eine alte Frau. Wir kriegen nie ein Ei, die gehen alle in den Verkauf. Letztes Jahr haben wir fast nur Kartoffeln gegessen. Sie sind reich, oder?«
»Nein. Ich habe überhaupt kein Geld, außer dem bisschen, was ich geerbt habe, und dem Haus.«
»Ein Haus ist ja schon reich. Und Ihr Kleid ist reich. Dieses Haus hier gehört uns nicht, wir sind nur Pächter. Sie können uns morgen rauswerfen. Paul wäre bestimmt reich geworden, das hat man schon gemerkt.«
»Warum ist er so früh zur Armee gegangen, Laurie? Das hätte er ja nicht tun müssen.«
»Weiß der Himmel.«
»Sie gehen nicht?«
»Wurde nicht eingezogen, und werde ich auch nicht. Ich bin offiziell unabkömmlich. Und sie müssten mich erst mal kriegen.«
»Ich nehme an, Paul hat es für sein Land getan.«
»Mein Land braucht mich hier.«
Er beugte sich vor und nahm meine Hand und betrachtete mich, und sein Händedruck wurde fester. Der alte Mann regte sich auf der Truhe, und Mrs Treece kam ohne Schürze herein und freute sich über den Tee.
»Können Sie nicht noch länger bleiben?«, fragte sie an Neujahr. »Wir haben uns so an Sie gewöhnt. Sie haben uns getröstet.«
»Ja, das haben Sie«, sagte der Bauer und überraschte damit alle. »Sie haben uns getröstet.« Diese schlichten Worte schienen auch den Sprecher selbst zu überraschen. Zum ersten Mal in diesem tapferen Haus war ich den Tränen nah.
»Warum bleiben Sie nicht?« Laurie sah zu, wie ich meine Tasche heruntertrug, und die dicken Pakete mit Pauls Papieren und Büchern, von denen seine Eltern sehr entschieden gesagt hatten, es seien meine. Er sah zu, wie ich mich in Handschuhen und Schals einpackte und meine Sachen in die Kutsche hinter ihm hob. »Ich kann nicht. Zu Hause ist zu viel zu tun. Alice ist ganz allein.«
»Aber Sie kommen mal wieder, ja?«
»Danke sehr.« (Ich wusste genau, dass ich es nicht können würde.)
»Dann fahre ich Sie.«
Wir quetschten uns nebeneinander auf den Kutschbock hinter dem braunen Pferd. Ich stellte die Kiste mit Pauls Papieren zwischen uns und bewachte die Bücher, die mit haarigem Bindfaden zusammengebunden waren. Am Boden der Kutsche war festgetretener Lehm, und durch die Ritzen sah man die Straße zwischen den langen Hecken, als wir den Hügel hinauffuhren. Die großen Räder wackelten, sie waren einmal rot und gelb gestrichen gewesen und müssen ausgesehen haben wie auf dem Jahrmarkt, als Paul noch ein Baby war. Ein tägliches Volksfest. Ich sah es geradezu vor mir, wie das Baby über die bunten, sich drehenden Räder staunte und dazwischen rot die Hecken aufblitzten.
Laurie ließ mich allein absteigen und reichte mir all die Sachen herunter, dazu noch ein paar Eier und Butter in Wachspapier. Er sah mir nach, wie der alte Stationsvorsteher mir mit dem Gepäck half, und ich winkte ihm zum Abschied. Dann stand ich im Wartesaal und stampfte mit den Füßen auf gegen die Kälte und betrachtete das meilenweite, verschneite Hochmoor.
Die Sonne schien. Der Bahnhofsofen machte ein klirrendes Geräusch, Kohlen rutschten nach, und auch draußen klirrte und tropfte es klangvoll wie ein Xylophon, denn die Eiszapfen an den hübsch geschnitzten Traufen schmolzen. Dann hörte ich den Zug kommen.
Als ich meine Sachen zusammensuchte, tauchte Laurie plötzlich auf und nahm mir meine Tasche mit einem sonderbar verstohlenen Seitenblick ab, er sagte kein Wort, und ich dachte: Oh Gott, am Ende stellt er sich als schüchtern heraus.
Ich öffnete das Abteilfenster, und er sah zu mir auf und sagte: »Wenn Sie das Haus verkaufen, könnten Sie herkommen und hier leben. Überlegen Sie es sich. Überlegen Sie es sich jetzt. Mehr sage ich nicht.«
»Vielen Dank.«
»Ich hätte nie gedacht, dass ich mal bei einer Frau von Paul enden würde. Anscheinend sind wir doch nicht so unterschiedlich.«
»Vielen Dank.«
»Was sagen Sie? Haben Sie es sich überlegt?«
Ich sagte nichts, und er hüpfte und rannte neben dem Zug her. Er sah mich besorgt und mit leuchtenden Augen an. Für einen Augenblick sah ich so eindeutig Paul in ihm, dass meine eigenen Augen sich gründlich mit Tränen füllten, und diesmal liefen sie auch. Denn ich wusste, dass Laurie und die Treeces nicht mein Leben sein würden.
»Es ist toll hier im Frühling und im Sommer!«, rief er. »Das würde Ihnen gefallen! Die Lämmer und so. Und die Erntezeit. Es ist ein tolles Land. Ich würde hier nicht weggehen.«
Später würde er denken, dass ich ein seltsames Mädchen war, das weinte, statt ihm zu antworten. Aber er würde nicht mehr lange an mich denken.
Der berühmteste, ergreifendste Moment in Robinson Crusoe ist natürlich der Fußabdruck, aber für mich war es nie der erschütterndste. Eine gloriose Idee, mit keinerlei Vorbild in der Literatur, so schlicht und großartig wie das ganze Buch, gleichzeitig ein herausragendes und absolut plausibles Bild.
Und doch war ich immer leicht enttäuscht davon gewesen — dass es nur ein Fußabdruck war und nicht Freitags Fußabdruck, wie alle glaubten. Nur ein völlig anonymer Fußabdruck, der wahrscheinlich später durch die Kannibalenfeuer zerstört wird.
Außerdem hatte ich es immer enttäuschend gefunden, dass Jahre vergehen mussten, bis lebende Füße dem Versprechen dieses Abdrucks folgten — auch wenn diese beiläufige Zeitspanne zu Defoes üblichem gemächlichem Tempo passt, zu seinem sehr selbstbewussten Entblättern der Jahre.
Ich fand immer ein anderes Ereignis furchterregender: Als Robinson nach seinem ersten Ausflug mit dem selbstgebauten Boot zum zweiten Mal schiffbrüchig wird, in einem unbekannten Teil der Insel landet und seine eigene Stimme seinen Namen rufen hört.
»Robin, Robin, Robin Crusoe, armer Robin Crusoe, wo bist du, Robin Crusoe? Wo bist du? Wo bist du gewesen?«
(Sein Papagei.)
»Doch auch wenn ich wusste, dass es der Papagei war und niemand sonst, brauchte ich eine Weile, um mich wieder zu beruhigen. Zum einen fragte ich mich, wie der Vogel hierhergelangt sein mochte, zum anderen staunte ich darüber, dass er sich gerade hier und nicht anderswo niedergelassen hatte. Doch … fing ich mich wieder … und er redete unverdrossen auf mich ein … ›Armer Robin Crusoe. Wie bin ich hergekommen? Wo bin ich gewesen?‹, als sei er außer sich vor Freude, mich wiederzusehen. Und so trug ich ihn nach Hause zurück.«
Ob Alice wohl geblieben war, fragte ich mich, als ich von meinem Ausflug auf die Farm zurückkam, für den ich meine Insel verlassen hatte. Es gab eigentlich keinen Grund. Warum sollte sie noch in dem großen Gelben Haus draußen in der Marsch bleiben, ganz allein mit mir? Im Krieg gab es genügend andere Arbeit. Sie würde mit Sicherheit in der Lage sein, doppelt so viel — viermal so viel — Geld zu verdienen. Und sie war erst ungefähr in meinem Alter. Es hatte gar keinen Zweck, dass sie bei mir blieb und mich bediente, ebenso wie mein eigenes Leben hier keinen Zweck hatte. Oder irgendwo anders.
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich mit meinem Leben anfangen sollte.
Und wenn mein Leben im Gelben Haus schon sonderbar war — und langweilig und einsam, bis auf die Bücher —, wie viel schlimmer musste es für Alice sein? Sie hatte nie besondere Zuneigung zu uns allen gezeigt, und ich wusste, dass ich ihr nie eine echte Freundin gewesen war, schon weil ich gar nicht wusste, wie man das anfing. Aber sie hatte für uns geackert und geschuftet und uns gepflegt und bekocht und sich um meine Kleider gekümmert und sich für mein geheimnisvolles neues Leben bei den Zeits interessiert. Meine letzten Wochen dort hatten ihre Augen zum Leuchten gebracht, wenn ich von all dem Glamour erzählte. Ich hatte ihr natürlich immer noch nicht gesagt, dass es vorbei war mit dem Glamour und ich in Schimpf und Schande zurückgewiesen worden war, behandelt wie eine entlassene Sklavin, wie wir sie nie, niemals behandelt hätten.
Plötzlich fürchtete ich mich ein bisschen vor Alice, merkte ich, als ich über die Marsch nach Hause ging, mit so viel von meinen Sachen, wie ich auf einmal tragen konnte. Ich war nicht sicher, was ich empfinden würde, wenn ich in ein leeres Haus kam, mit einem Abschiedsbrief von ihr auf dem Tisch in der Halle.
Vielleicht ein Gefühl der Befreiung?
Aber die Schornsteine des Gelben Hauses rauchten, und als ich hereinkam mit der Butter und den Eiern und den gebündelten Gedichten, stand sie da und sagte: »Da sind Sie ja. Gott sei Dank. Ich habe schon gedacht, Sie bleiben da. Ich hätte fast drauf gewettet, dass die Sie gleich behalten. Und dann?«
»Es gab hier einen großen Bombenangriff«, sagte sie. »Hartlepool, mit Dutzenden Toten.«
Sie trug einen erstaunlichen Hut, wie eine blaue Glockenblume aus Filz, mit einer Nadel aus Fischgräte, sie hatte eine Hand in die Seite gestemmt und rauchte eine Zigarette. »Butter und Eier«, sagte ich und sah sie nicht an. »So nette Leute, Alice. Hattest du schöne Weihnachten? Ich freue mich, wieder hier zu sein.« Und während ich sprach, wurde mir klar, warum ich Angst vor Alice hatte.
»Ja, verstehe. Das ist ja toll«, sagte sie und begutachtete das Päckchen.
Es war meine eigene Stimme, es waren meine eigenen Worte.
Sie war hier zuständig, und sie war wahrscheinlich schon seit Ewigkeiten zuständig, ich hatte es nur nicht bemerkt. Die Haarsträhnen, das schmuddelige, kantige Gesicht und die großen Dienstmädchenschürzen. Wie lange hatte ich die nicht gesehen? Alice war eine gestandene Frau, und das war sie spätestens seit Mrs Woods’ Tod, als sie sich an ihrem Bett umgedreht und mir gesagt hatte, was ich tun sollte.
Aber als ich mich an diese Veränderung gewöhnt hatte, gefiel sie mir.
Ich klammerte mich jetzt ziemlich verzweifelt an meine Insel. Ich machte mich an die Arbeit, Tag für Tag, ich war fleißig im Gelben Haus und benahm mich wie die personifizierte Abgeklärtheit. So ein Haus musste instand gehalten werden. Selbst mitten im Krieg war es nicht ungewöhnlich für eine Frau, sich um ein Haus zu kümmern.
Außerdem erfand ich Arbeit. Jahrelang hatte ich die Schulzimmergewohnheit gepflegt, täglich an einem Tisch voller Bücher zu sitzen, und jetzt, mit Paul Treeces Sachen und seinen Manuskripten um mich, fing ich selbst an zu schreiben. Ich begann natürlich mit Robinson Crusoe, das ich ins Deutsche zu übersetzen beschlossen hatte.
Es war eine vollkommen sinnlose Übung, aber eine Herausforderung, und ich mochte den Stapel schimmernder Hefte, die ich gekauft hatte und in meiner sauberen Handschrift vollschrieb. Ich schrieb Seitenzahlen mit roter Tinte hinein und unterstrich bestimmte Stellen mit grüner. Im Laufe der Zeit entdeckte ich die Befriedigung durch Fußnoten. Diese schrieb ich ebenfalls in Rot und zog einen schwarzen Trennstrich zwischen Text und Fußnoten. Es gab viele doppelte Unterstreichungen.
Ich übersetzte jeden Morgen vier Stunden lang, das Übersetzen selbst ging flott voran, aber es sollte so schön aussehen, dass das Übertragen auf die Seite viel Zeit kostete, und so war ich bald so geistesabwesend wie ein Mönch mit dem Stundenbuch oder ein Kind mit seinen ersten Wachsmalstiften.
Nach dem Mittagessen arbeitete ich oft an Paul Treeces Manuskript, das ich abschrieb und in eine Reihenfolge brachte. Es waren fast ausschließlich Gedichte — pastoral und unmittelbar. Ein paar Liebesgedichte, erschreckend leidenschaftlich. Erdbeeren und Brustwarzen. Es machte mich nachdenklich. Es gab eine Gedichtserie über ein einfaches, aber selbstbewusstes Mädchen, das in seinem eigenen Kopf lebte und die Männer verrückt machte. Anscheinend war sie sehr begehrenswert, aber soweit ich es verstand, in einer Art Halbschlaf. Er hatte gesagt, dass er eine ganze Reihe Mädchen kannte.
Ein paar Gedichte waren kraftvoll und gewitzt, sie hatten eine hinreißende innere Stärke, die mich an Robinson Crusoe erinnerte, und ich begann zu begreifen, dass im Schlamm von Frankreich jemand zu Staub wurde, der einmal große Bedeutung hätte erlangen können.
An den Abenden las ich. In Paul Treeces Bibliothek gab es einige literaturkritische Werke, die mich interessierten, weil es die ersten modernen Bücher waren, die ich in die Hände bekam. Diese Art und Weise, Bücher zu veröffentlichen, kam mir extrem arrogant vor, aber ich glaube, sie könnten dazu geführt haben, dass ich meine eigenen Ideen besser sortiert bekam. Es war eine Art Heilmittel.
Ich machte mir Notizen über alles. Wenn mein Kopf und mein Herz sich rührten, machte ich mir umso fieberhafter Notizen, noch akribischer, und absolut nutzlos, denn der Dämon in meinem Nacken war keineswegs Paul. Sondern natürlich immer noch Theo.
Aber es war kein Brief von ihm gekommen. Keine einzige Nachricht von einem der Zeits. Keine Karte, kein Wort, kein Flüstern, kein Tratsch vor Ort. Sein Gesicht hatte ich in meiner Verletztheit und dem Schock zunächst ausgeblendet, und dann hatte eine andere Art von Leid — das harte Leben auf der Farm — es überdeckt. Aber jetzt kam es immer wieder, es überraschte mich in den erstaunlichsten Momenten — wenn ich ein Buch zuschlug oder wenn ich schnell aufsah, weil der Ahorn im Wind ans Fenster klopfte. Oft hörte ich die Kutsche der Zeits vor der Tür und sah dann auf die leere Straße hinaus.
Seit dieser Winternacht, als ich mit ihm dort gelegen hatte, konnte ich nicht mehr in die Dünen gehen und ging lieber den großen Bogen um sie herum ins Städtchen. Die Soldaten, die das Camp bewachten, und die Kranken im ehemaligen Genesungsheim beobachteten mich. Einmal hörte ich einen Soldaten sagen: »Ist die ein bisschen komisch, die Frau in dem Haus da?«, und bei Boagey’s Son and Nephew sagte eine laute Dame zu Mr Box: »Was ist denn mit der kleinen Miss Flint passiert? Sie war immer ein bisschen zurückgeblieben, oder? Ein bisschen langsam?«
Aber ich war noch da. Keine Einsiedlerin. Nicht auf der Suche nach Einsamkeit zum Weinen. Ich konnte nur den Anblick der Dünen nicht ertragen.
Manchmal versuchte ich, mich mit den Leuten zu unterhalten, die ich in der Marsch traf. Die Leute im Genesungsheim waren nicht mehr die Armen aus Warrenby, die unsere Suppe nicht hatte heilen können, sondern die Verwundeten aus Frankreich, die von den nordöstlichen Häfen aus überall verteilt wurden. Sie lagen im Genesungsheim, so sie das konnten, unter graubraunen Decken in langen Reihen. Einige saßen im sandigen, windigen Park und starrten vor sich hin. Andere spazierten durch die Marsch, hölzern und für sich. Sie waren es, die sich von mir abwandten, wenn ich näher kam.
Das Neue Haus stand leer. Weil ich dort nie mit Theo allein gewesen war, konnte ich immer noch im Park umherspazieren. Durch die bodentiefen Fenster im Salon sah man die schlanken, aufgestapelten goldenen Stühle, die vermutlich nach der Weihnachtsfeier zurückgelassen worden waren. Ich sah den Konzertflügel (den kein Zeit je gespielt hatte) unter einer dicken Staubabdeckung, die an den Füßen zusammengebunden war, und die Kronleuchter der »repräsentativen Räume«, wie Mrs Zeit sie nannte, die in großen Beuteln hingen und aussahen wie Bienenschwärme.
Es gab einen lustlosen Hausmeister, den ehemaligen Küster der Kirche, uralt und gerissen, ich hatte ihn nie gemocht. Er hat immer schrecklich genüsslich die Gräber ausgehoben und dann langsam die Wände mit Ligusterblättern und Strandflieder ausgekleidet, die er mit großen, schwarzen Haarnadeln feststeckte. Wenn man vorbeiging, starrte er einem auf die Knöchel. Alice hatte einmal sehr giftig zu ihm gesagt: »Am liebsten würde ich dir das Gesicht eintreten.« »Kalt«, sagte er sogar an schönen Tagen. »Ganz schön kalt wieder, Miss Flint. Ich hab gehört, Mrs Woods geht es schlecht?«
In dieser Zeit sah ich überall Bilder der Sterblichkeit, und der Küster begegnete mir auf Schritt und Tritt. Am Ende traf ich ihn in der Einfahrt zum Neuen Haus, wo der importierte orangefarbene Kies inzwischen von Unkraut durchsetzt war.
Er sah mich an und sagte: »Sie sperren die Dünen ab. Da sind junge Mädchen, schamlos mit den Soldaten. Wie die Schildkröten. Ich hab Katzen schon wegen weniger einen Eimer Wasser über den Kopf geschüttet.«
Danach ging ich nicht mehr zum Neuen Haus, dachte aber immer wieder über Schildkröten nach, und was genau sie taten. Wenn meine eigene Erinnerung an die Dünen mich überkam, war es nicht mehr die reine Freude, wie ich sie empfunden hatte, als er mir das Kleid aufgemacht hatte. Nur Schildkröten.
»Sind Schildkröten komisch?«, fragte ich Alice. »Du weißt schon — unnatürlich?«
»Keine Ahnung, ich kenne die nur aus Boageys Zoohandlung.«
»Du weißt schon — sexuell abartig?«
Sie sah mich schräg an.
Im Frühling 1916, als das Schlachten an der Somme so schlimm wurde, dass von jeder Armee manchmal auch die Toten der anderen geborgen wurden, beschäftigten Alice und ich uns mit der Sexualität der Schildkröten. Wir putzten die Bibliothek und nahmen die Bücher von sämtlichen Regalbrettern, zum ersten Mal seit Menschengedenken — womöglich zum ersten Mal überhaupt —, und hinter einer Reihe Werke von Reverend Thomas Fuller, ganz oben unter der Decke, fanden wir einen Roman von John Cleland. Ich nahm ihn mit ans Fenster und untersuchte ihn. Ich blieb lange dort stehen.
»Kommen Sie nicht zum Tea, Miss Polly?«
»Gleich.«
»Abendessen ist fertig. Was haben Sie denn da bloß gefunden?«
»Lies es«, sagte ich. »Nimm es mit zu Bett.«
Am nächsten Morgen sahen wir einander nicht in die Augen. Alice stand auf der Leiter, wischte die Regale ab und sagte: »Diese Fanny Hill! Das Leben ist voller Überraschungen. Das ist mal sicher.«
»Hast du … das alles gewusst, Alice?«
»Joah — einiges davon schon.« Sie war immer noch Dienstmädchen genug, um nicht zurückzufragen, was ich gewusst hatte.
»Ich nicht«, sagte ich. »Ich hatte keine Ahnung. Also, ein paar Dinge wusste ich. Es klingt viel besser, als ich dachte. Meinst du wirklich, Leute machen so was?«
»Ich denke schon. Wobei das ja auch historisch ist. Anscheinend hatten die Leute früher mehr Spaß. Mit den langen Röcken und so. Romantisch. Und wirklich aufregend!«
»Die scheinen jedenfalls nicht im Weg gewesen zu sein.«
Wir kicherten und lachten. »Wo ist das Buch jetzt?«, fragte ich. »Ich will es noch einmal lesen.«
»Ich schäme mich für Sie, Miss Polly.« Alice hatte die Farbe eines Backsteins angenommen. »Das können Sie erst zurückhaben, wenn ich es noch einmal gelesen habe.« Und so saßen wir am Abend miteinander in der Küche, lasen schweigend ein Stück, starrten uns dann an und brachen in Gelächter aus.
»Wie ist das bloß da oben hingekommen? Meinst du, das war der Erzdiakon?«
»Erzdiakon, nee«, sagte Alice. »Haben Sie das nicht gesehen? Gertrude Younghusband, in riesengroßen Buchstaben innendrin. Schamlos!«
»Vielleicht hat sie ihren Namen reingeschrieben, bevor sie es gelesen hatte?«
»Nun ja, sie hat es offensichtlich nicht verbrannt oder weggeworfen.«
»Alice! Gertrude Younghusband war meine Großmutter — die Frau des Erzdiakons!« Wir gingen zum Schreibtisch meines Großvaters und betrachteten die Matrone im Korsett mit ihrer imposanten Nase.
Nach diesem Abend nahm Alice sich an vielen Abenden frei. Ich war weniger extrem und brachte mir nur selbst das Kochen bei. Fanny Hill hatte uns aufgeheitert, und auch wenn es uns eigentlich unruhig hätte machen können, beruhigte es uns eher und gab uns Sicherheit, sodass wir in den nächsten zwei Jahren, fast bis zum Ende des Krieges, in hoffnungsvollen Gewässern schwammen.
Für die nächsten zwei Jahre.
»Ich kann nicht sagen«, wie es bei Robinson heißt, »dass mir in den folgenden zwei Jahren irgendetwas Ungewöhnliches widerfahren wäre. Ich führte ein Leben in den gewohnten Bahnen, mit derselben inneren Haltung und am selben Ort.«
Und dann kam Alice 1918 eines Tages in die Küche gerannt, wo ich gerade etwas schaumig schlug und in zehn Schüsseln hell und elastisch der Brotteig ging.
»Da ist jemand.«
»Wer?«
»Ich weiß es nicht.« Sie wirkte ganz durcheinander. »Könnte Mr Zeit sein.«
»Könnte?«
»Ich habe nicht gesagt, dass er es ist. Hier, geben Sie mir die Schüssel.«
Ich ging in den vorderen Teil des Hauses, die Ärmel immer noch hochgekrempelt, die Schürze umgebunden und die Hände voller Mehl. In der Halle war niemand, auch nicht im Esszimmer oder der Bibliothek, und auch nicht oben im Salon. Ich stand wieder in der Halle vor dem Spiegel und rollte meine Ärmel hinunter, wischte mir die Hände an der Schürze sauber und nahm sie ab. Draußen auf dem kleinen Stück Marsch, das noch übriggeblieben war, stand ein armeegrüner Wagen mit Fahrer. Auf der Rückbank saß ein Mann, sehr alt und leer um die Augen, aber es waren doch Theos.
»Kannst du mit mir irgendwo hinfahren?«
Es war kalt. Ich holte mir einen Mantel. Dann setzte ich mich neben ihn ins Auto und sah seine Hände zittern wie die Hände der Männer im Genesungsheim, und dass er sie aneinanderdrückte und sie immer noch zitterten. Wenn er sprach, machte er lange Pausen zwischen den Wörtern, und manchmal blieben die Wörter stecken und er stotterte und schluckte. Ich fragte: »Wie lange warst du in Frankreich?«
»Seit wir uns zuletzt gesehen haben.«
»Hast du lange Urlaub?«
»Er war schon lang. Ich muss bald zurück.«
»Wirklich?«
»Nächste Woche ist eine Sitzung.«
»Fahren wir nicht zum Neuen Haus? Wir sind schon dran vorbei.«
»Nein, das ist voll mit Soldaten. Es wurde beschlagnahmt.«
»Ja. Das habe ich gehört. Wo seid ihr alle? Wo fahren wir hin, Theo?«
»Mutter ist in Newcastle. Sie wurde interniert. Vor fast zwei Jahren. Aber jetzt hat sie Nordengland schon wieder unter Kontrolle.«
»Verstehe. Das hatte ich nicht gehört.«
»Rebecca ist in Frankreich und arbeitet als Krankenpflegerin. Delphi Vipont aus The Hall übrigens auch, und sie ist anscheinend wirklich hoffnungslos. Ich dachte, wir fahren zu The Hall. Bec hat mich gebeten, Delphi ein paar Sachen mitzubringen.«
The Hall war so eine Ruine, dass sogar die Armee es verschmäht hatte. Teile des Dachs waren eingefallen, die Fensterläden hingen schief in den Angeln oder fehlten ganz, die Einfahrt war so zugewuchert, dass Theo dem Fahrer sagte, er solle uns am Tor rauslassen, das ebenfalls komplett überwuchert und nicht mehr zu bewegen war. Wir stiegen an einem der steinernen Pfosten und einem großen, gebrochenen Scharnier hindurch. Wir gingen über den Hof und durch die offene Eingangstür hinein, darüber schwang das Oberlicht auf und zu. Die lange Zimmerflucht stand leer, ein Raum reihte sich an den nächsten, Ratten hatten Löcher in den Boden genagt, in den Kaminen lagen Ruß- und Ascheberge, der Marmor war milchig geworden und mit Vogelkot gesprenkelt. »Es soll bald abgerissen werden«, sagte Theo. »Dann bleibt hier nichts übrig. Es ist zu spät für ihre Andenken.«
Wir gingen herum. Alte Zeitungen klebten im Salon am schwarzweißen Boden aus dem achtzehnten Jahrhundert. Die Treppe war brüchig. Er versuchte, mir die Treppe hinaufzuhelfen, aber ich musste ihm ebenso behilflich sein, er wirkte sehr unsicher.
Seine Hände waren so kalt. Im Schlafzimmer öffneten wir einen Fensterladen und entdeckten auf dem nackten Boden ein einsames Bett mit vier Pfosten, auf dem immer noch eine dunkle, alte Tagesdecke lag und dessen Himmel mit purpurner Seide behängt war. Jede Falte des Seidenstoffs hatte eine samtige Kante aus Staub. Daneben stand ein Betpult, es wirkte alles erschreckend sakral.
»Das muss Lady Viponts Zimmer gewesen sein. Sie war sehr fromm.«
Theo sagte: »Delphi muss in dem Bett gezeugt worden sein.«
Wieder zitterten seine Hände, und er setzte sich auf die Fensterbank. Vor dem Fenster hingen die Glyzinien so dick und ineinander verschlungen, dass man das Fenster sehr fest aufdrücken musste. Regen tröpfelte geräuschvoll auf die grünen Blätter, aber die Sonne schien dennoch hindurch. Große, glasartige Tropfen hingen an den langen blaugrauen Blüten. »Ich habe jeden Tag an dich gedacht«, sagte Theo. »Aber es war, als würde ich an die Frau eines anderen in einem anderen Land denken.«
»Du hast keine Nachricht geschickt. Seit fast vier Jahren.«
»Nein.«
»Hast du keine Briefe geschrieben? An niemanden?«
»Nur an die Eltern meiner Männer. Wenn sie gefallen sind. Dass sie tapfer und mutig gestorben sind. Ich habe nur Lügen geschrieben.«
»Ich habe nichts gehört. Gar nichts. Von keinem von euch. Ihr seid alle einfach verschwunden. Ihr hättet ebenso gut tot sein können. Ihr habt mich weggeworfen.«
Er sagte: »Ich bin tot. Wir sind alle tot, Polly. Dieses ganze Land ist gestorben.«
Wir legten uns Arm in Arm auf Lady Viponts Bett, bis es dunkel wurde, und sagten fast nichts. In dem großen, kalten Haus wurde mir warm, und ich spürte, wie meine Wärme Theo wärmte, und er hielt mich fest. Wir schliefen nicht miteinander, wir lagen nur da wie ein einziger Mensch, stundenlang. Bis es dunkel wurde.
Bevor wir gingen, sagte er oben an der Treppe: »Ich gucke noch eben nach etwas, nur für den Fall …«, und ging weg, in ein oder zwei Zimmer, und sah sich um. »Da ist ein bisschen alter Krimskrams in einer Schublade. Sie wollte eigentlich etwas aus dem Mausoleum.« Wir gingen am Mausoleum vorbei, das verrammelt und mit Stacheldraht gesichert war. »Weißt du noch, wie es da drin aussieht?«, fragte er. »Alles perlmutt und rosa. Erinnerst du dich an den Tag? Die Gesangbücher? Wie Beccy herumgerannt ist? Und du wie eine rundliche Blume.«
Zu Hause sagte er: »Geh schnell rein. Geh. Diesmal schreibe ich. Versprochen. Sobald ich wieder Briefe schreiben kann, bekommst du den ersten. Wir sehen uns, wenn ich wieder Urlaub habe. Der Krieg kann nicht mehr lange dauern.«
Dann sagte er: »Weißt du — ich liebe dich.« Aber die Worte waren sehr schwer zu verstehen. Wir standen beide da und dachten darüber nach, als hätten wir eine alte, primitive Sprache gehört.
Als der Wagen abgefahren war, stand ich vor dem Gelben Haus, bis Alice herauskam und fragte: »War das Mr Zeit? Ich kann kaum glauben, dass er das war.« Ich wusste nicht, was ich antworten sollte.
Er schrieb tatsächlich, und anfangs sogar ziemlich oft. Nach drei Wochen traf der erste Brief ein, und es ging ungefähr ein Jahr lang weiter. Ich beantwortete sie alle und schrieb zwischendurch noch zwei oder drei weitere.
In meinen schrieb ich ihm über die ganze Welt, wie ich sie kannte: über Wales, über die Marsch und die traurigen Jahre, in denen alle beteten oder starben oder verschwanden. Ich erzählte ihm von meinem Wunsch, eine gute Christin zu sein, und meiner gleichzeitigen Überzeugung, dass ich nicht bereit war, mich konfirmieren zu lassen, über meine sündhafte Abneigung gegenüber Mrs Woods und Gottes Antwort auf meine Gebete durch ihren Tod; über meine Angst vor und mein Erstaunen über Alice — dass ich gewusst hatte, dass sie es ebenso wie ich verabscheute, Mrs Woods anzusehen und zu berühren und sie mit der Tasse zu füttern und kleine Bissen Essen in ihren schrecklichen Mund zu schieben. Sie hochzuheben. Sie zu waschen. Aber sie hatte nicht einmal gezögert oder sich beschwert.
Ich erzählte ihm, wie sehr ich Aunt Frances immer noch vermisste, und von ihrem rätselhaften Schweigen mir gegenüber, nachdem sie abgereist war; und dass ich mich so selten wirklich zu Hause gefühlt hatte — nur in den Erinnerungen an das Sofa in Wales, an die Küche der Haushälterin in Thwaite und den Spaziergang mit Paul Treece an diesem einen Morgen. Ich schrieb ihm, wie elend ich mich gefühlt hatte, und wie besorgt, weil ich Paul nicht attraktiv gefunden hatte und ihn nicht hatte anfassen wollen. Ich erzählte ihm von Virginia Woolf und den Dichtern und berühmten Leuten in Thwaite und von der Erinnerung an meinen Vater; wie er den Sea Song gesungen und dazu getanzt hatte; von Mr Pocock und der blitzblankpolierten Tischplatte im Speisezimmer, über die ich hinweggeschaut hatte wie über einen schattigen See mit den brütenden Gestalten drum herum wie in Wordsworths Präludium.
Ich erzählte ihm, dass mein Leben jetzt geteilt war in die Zeit, bevor ich mit ihm auf Lady Viponts Bett gelegen hatte, und die Zeit danach; und ich schrieb, wie sehr ich ihn liebte, auf eine so gewaltige und leidenschaftliche Weise, dass ich oft am Briefkasten stand, nachdem ich den Brief eingeworfen hatte, und dachte: »Habe ich das wirklich geschrieben? Kann je eine Frau so viel an einen Mann geschrieben haben?« Ich sah sein Gesicht vor mir, das nie etwas verriet, wie er es las, und dachte: Wenn er stirbt, werden all diese Briefe dann an Mrs Zeit geschickt? Trotzdem schrieb ich ihm weiterhin alles, alles, wie in diesem Buch und wie es sich für Frauen nicht gehörte.
Wenn ich darüber nachdachte, was sich für Frauen alles nicht gehörte, schrieb ich schnell einen weiteren Brief, in dem ich noch mehr sagte. Dass ich ihn begehrte und dass ich mit ihm schlafen musste, wobei ich nicht »schlafen« sagte. Begehren, begehren schrieb ich, und auf welche Weise, Tag und Nacht, drinnen und draußen, wo auch immer er mich hinbestellen würde. Ich profitierte sehr von dem Wissen aus dem Roman, den meine Großmutter so gehütet hatte. Ich schrieb nicht wie die Enkelin eines viktorianischen Erzdiakons, nicht mal wie die Frauen bei D. H. Lawrence, den Alice kürzlich für sich entdeckt hatte (nun ja, die Frauen bei Lawrence sagen überhaupt nicht viel).
Hätten Moll Flanders, Cleopatra oder Emily Brontë Theo Zeit geliebt, sie hätten es ihm nicht mit mehr Leidenschaft und weniger Zurückhaltung schreiben können. Und sie waren, nehme ich an, alle klüger als ich.
Theos trockene, kurze Briefe wurden immer schwerer lesbar — die Schrift wurde immer kleiner, beinahe peinigend akribisch. Dann kamen keine mehr.
Sie hörten nicht nach einem besonders entblößenden Brief von mir auf. Ich dachte: »Er ist gefallen.« Nach zwei Monaten dachte ich: »Wenn er gefallen wäre, hätte ich es erfahren.« Ich las seinen letzten Brief noch einmal gründlich. Kein Schlüssel. Ich las sämtliche Briefe noch einmal und stellte fest, dass sie gar nichts waren. Ich hatte nichts von ihm, und ich bekam eine schreckliche Angst, dass ich verrückt geworden war. Das Bett in The Hall war reine Fantasie gewesen. »War das Mr Zeit?«, hatte Alice gefragt. »Ich kann kaum glauben, dass er das war.« Ich hatte es nur geträumt. Ich erinnerte mich nicht mehr an alles, was geschehen war. Ich wusste nicht mehr, wie wir nach Hause gekommen waren. Ich hatte es geträumt.
Ein Loch in der Luft.
Ich las die Briefe wieder und wieder. Alle Briefe endeten mit »in Liebe, Theo«. Ich hielt mich an dieser wunderbaren Tatsache fest: dass er immer »in Liebe« geschrieben hatte.
Und er begann mir leidzutun — dass ich ihm meine Briefe zugemutet hatte. Alles, was ich gesagt hatte, waren Dinge, die er in seiner vorsichtigen Art sicher lieber ungesagt gelassen hätte. Ich hatte mein großes Vertrauen, dass wir ähnlich fühlten und dachten und sahen, darauf gegründet, dass er mir, als ich zwölf Jahre alt war, zugerufen hatte, er würde mir einen Fußabdruck hinterlassen — und als er das letzte Mal ging, dass er mich liebte.
So ein korrekter und anständiger Mann. So ein netter Mann. Das sagten alle. Würde er mich belügen? Ach, natürlich nicht.
So dachte ich auf meiner Insel.
Dann kam diese eine Nacht. Ich hatte stundenlang Robinson übersetzt, die Kapitelüberschriften bunt verziert, sehr sorgfältige Unterstreichungen vorgenommen, das Feuer ausgehen, die Lampe runterbrennen, meine Füße kalt werden lassen. Jegliches Geräusch im Haus und draußen war verstummt. Nur die Uhren tickten.
Ich sagte: »Es ist Zeit. Es ist Zeit, Polly Flint. Es ist Zeit, dass das aufhört. Er ist nichts. Du spinnst. Keine Frau muss so leiden. Das ist schlecht und verrückt. Vergiss ihn.« Das sagte ich mir mit großer Entschiedenheit, und tatsächlich fiel ein Teil der Last von mir ab, wie bei Robinson, als er aus dem Fieber erwacht und den Frieden Gottes empfindet.
Am nächsten Morgen — ich war erst kurz vor der Morgendämmerung zu Bett gegangen — brachte Alice mir die Post hinauf, und es war ein Brief von Rebecca Zeit dabei, in dem sie ankündigte, ins Neue Haus zu kommen, um es zu verkaufen, oder was die Soldaten davon übriggelassen hatten, und ob sie vorbeikommen und mich besuchen könne.
Ihre Handschrift war riesig und schwarz und flackernd, und sie kam ein oder zwei Tage später an, genau wie angekündigt. Ich hörte ihre Stimme bis oben in den Salon, wie sie dem Taxifahrer zurief, er solle in exakt einer Stunde wiederkommen. »In einer Stunde!« Die Stimme klang wie eine Glocke. »Und zwar pünktlich, Mr Boagey, nicht mehr, nicht weniger. Jawohl.« Die Türglocke klingelte lautstark, und ich hörte sie lachen, als der Wind sämtliche Matten in der Halle anhob und umherwirbelte. Alice brachte sie nach oben, und sie stürmte aufgeregt herein und redete ununterbrochen, auch wenn nicht klar war, ob mit Alice oder mir oder sich selbst.
Sie war zu einer immer noch ziemlich beunruhigenden und sehr fröhlichen Frau geworden, in enganliegenden Kleidern, mit Pelz am Kragen und an den Manschetten, sehr modisch: eine hässliche, lange, vorn übereinandergeschlagene Jacke, kurzer Rock, und das Haar so kurz wie das eines Mannes, aber immer noch lockig unter einem herrlichen Glockenhut. Sie redete und redete und schien nicht in der Lage, stillzuhalten. Leuchtend grüne Augen sahen sich um.
»Du hast dich überhaupt nicht verändert! Überhaupt nicht. Oh, Polly, ich kann es kaum glauben! Du warst die ganze Zeit hier. Nichts hat sich verändert!«
»Ich konnte nicht weg.«
»Die alte Dame — diese Tantenfrau. Ist sie gestorben?«
»Ja, am Ende.«
»Aber konnte niemand … Gab es da niemanden? Du warst doch nicht mal mit ihr verwandt.«
»Nein. Aber …«
»Ja, natürlich. Ich erinnere mich, ihr wart alle schrecklich religiös im Gelben Haus. Aber du bist doch hier nicht ganz allein, Polly?«
»Nun ja, wir hatten ein paar Offiziere einquartiert.«
»Ihr müsst doch auch vom Krieg etwas mitbekommen haben?«
»Sie haben Hartlepool bombardiert. Gleich zu Beginn. Aber da war ich nicht hier, sondern auf einer Farm.«
Wir tranken Tee.
»Und keine romantischen Abenteuer? Mit den Offizieren?«
»Die habe ich kaum gesehen. Alice hat sich um sie gekümmert. Ich bin nicht so romantisch.«
»Ja, ich erinnere mich. Die pragmatische, bodenständige Pol. Robinson Crusoe. Du warst schon immer eher schlicht.« Dann merkte sie, was sie da gesagt hatte, und versuchte, es zu retten. »Ich meine, du warst immer so herrlich geradlinig. Das Salz der Erde. Verlässlich. In Frankreich wärst du großartig gewesen. Aber vielleicht hattest du Glück.«
»Es ist auch ohne mich vorbei. Es ist vorbei, und wir haben gewonnen.«
»Es ist vorbei«, sagte Beccy. »Sonst nichts.«
»Was hast du als nächstes vor, Beccy?«
»Im Moment sitze ich noch in einem privaten Pflegeheim fest. Aber da höre ich jetzt auf und gehe wieder nach Cambridge, das Studium beenden.«
»Verstehe. Ist deine Mutter …«
»Oh, Mamma hat überlebt. Aber es dauert jetzt nicht mehr lange …«
»Ist sie krank?«
»Nein, nein, Mamma ist nie krank. Nein, der Krieg. Wir haben eine Entscheidung getroffen. Wir gehen zurück nach Deutschland. Wir alle. Das war Mutters Idee. Aber wir sind alle dafür. Hier wird es nicht einfach — alles in England ist verkauft, wurde falsch gemanagt und vernachlässigt. Mamma war im Lager. Theo in der Armee. Plötzlich fühlt sie sich sehr kontinental — sehr deutsch-jüdisch. Sie will für Nachkriegsdeutschland arbeiten.«
»Könnt ihr das? Nach alldem dort leben? Nach allem, was ihr von den Deutschen gesehen habt?«
»Ja. Wieso meinst du, sie wären so anders? Irgendjemand muss irgendwo anfangen zu zeigen, dass alle Länder gleich sind. Einfach Menschen. Wenn wir Deutschland jetzt ausbluten, gibt es in der nächsten Generation den nächsten Krieg. Wirst du schon sehen.«
»Sagst du das den Leuten?«
»Nein, nein. Das sagen wir lieber nicht laut. Nicht zu diesem Zeitpunkt.«
»Warum sagst du es mir, Beccy?«
»Na, du bist ja nicht irgendjemand. Komisch, ich habe dich immer als Teil der Familie angesehen. Aber wenn man sich überlegt, wie oft wir uns gesehen haben, das war ja fast nichts. An dem Tag am Strand — weißt du noch — hatte ich das Gefühl, dich schon immer zu kennen.«
»Ja, ich weiß. Ging mir genauso.«
»Und ich glaube, Theo warst du noch näher. Du und Theo — ich glaube, du kanntest ihn besser als ich.«
»Kanntest?« Ich stand da und hielt mich an der Rückenlehne eines Sessels fest. »Wie geht es Theo?«
»Och, Theo geht es gut. Er wurde ziemlich früh verletzt. Er hat das Kriegszittern, aber ist nicht ganz gebrochen. Hatte einen schönen, langen Genesungsurlaub. Er war wirklich tapfer — er hätte einfach gleich rausgekonnt, wenn er es versucht hätte. Aber man weiß natürlich bei Theo nie ganz genau, was er will. Er hat überlebt — und er hat es recht vorsichtig angehen lassen. Erinnerst du dich an den komischen Treece? Er hat es nicht lange geschafft. Aber Theo war nicht nur vorsichtig. Er hatte auch Glück. Er ist die Sorte Mensch, die nie Krebs oder Tuberkulose bekommen wird oder überfahren wird oder Unfälle hat. Mamma und ich, wir machen uns nie wirklich Sorgen um ihn. Ist das nicht komisch? Er ist tatsächlich immer noch wie immer, so stillvergnügt. Oje, Liebes, da ist schon mein Taxi! Es war wirklich schrecklich nett, dich zu sehen, Polly. Mamma spricht oft von dir. Ich glaube, sie hat ein bisschen ein schlechtes Gewissen. Sie hatte so große Pläne für dich — sie wollte dich an die Uni bringen, Oxford. Weißt du noch? Sie trifft immer noch gern so große Entscheidungen.«
Sie zog sich energisch die Handschuhe an.
»Das hätte ich gar nicht bezahlen können, Beccy.«
»Ach, da hätte sie sich schon drum gekümmert. Und auch darum, dass du die entsprechenden Qualifikationen hast. Sie hätte dir Nachhilfe erteilen lassen. Sie hat Verbindungen zum Somerville College in Oxford. Moderne Sprachen sollten es sein, oder?«
»Keine Ahnung. Und ich hätte sowieso nicht gehen können. Wie die Dinge hier standen.«
»Mamma hätte sich um die alte Dame gekümmert. Aber dann war Krieg. Der hat sie überrollt. Uns alle. Sie hatte im Lager eine schlimmere Zeit als ich — Ächtung und so weiter. Zwei Jahre lang. Und es war so lächerlich. Sie erträgt es nicht, lächerlich zu sein. Aber ich weiß, dass sie deinetwegen ein schlechtes Gewissen hat — es hätte nicht viel gefehlt.«
»Das ist wirklich nicht nötig. Es hätte sowieso nicht geholfen.«
»Ach ja, Theo heiratet übrigens. Vielleicht wusstest du das auch schon? Delphi Vipont natürlich. Ich konnte nie viel mit ihr anfangen, Mamma auch nicht, und wir sagen ihm seit Jahren, dass sie nichts für ihn ist. Aber er ist ganz vernarrt. Wie immer. Nun ja, das geht schon ihr ganzes Leben so. Dabei hat sie ihm nicht ein einziges Mal geschrieben, solange er in Frankreich war! Sie war ziemlich wild. Die Viponts haben im Krieg alles verloren, und jetzt ist er ihr Rettungsanker.«
Wir waren am Taxi angekommen. Sie musterte mich mit diesem scharfen, bewertenden Vogelblick, an den ich mich gut erinnerte. Sie sagte: »Das war wirklich reizend. Also, wir sehen uns wieder, nicht wahr, Polly?«
Es wird allgemein davon ausgegangen, dass jemand, der über Jahre in großer Einsamkeit lebt, verrückt wird. Alexander Selkirk wurde nach nur vier Jahren auf seiner Insel vollkommen irr, wie die meisten der historischen Figuren, die Daniel Defoes Inspiration für Robinson Crusoe gewesen sein könnten oder auch nicht. Vielleicht ist es sogar ein Zeichen geistiger Gesundheit, dass man unter solchen Umständen verrückt wird, und vielleicht war Crusoe selbst bereits verrückt, als er auf der Insel ankam, denn die achtundzwanzig Jahre auf der Insel zeigen nur die Entwicklung einer erstaunlichen und unnatürlichen Beständigkeit.
Diese wachsende, ziemlich furchteinflößende geistige Gesundheit entsteht aus seiner liebevollen Selbstanalyse, seiner Fähigkeit, beiseitezutreten, zu beobachten und darüber nachzudenken, wie er als struppige und unansehnliche Gestalt am herrlichen Strand entlangwandert, auf schroffen Klippen hockt oder durch den Wald stapft und sich sagt: »Also, ich weiß nicht. Sieh mich doch mal an. Ich habe Gott und mich selbst als Gesprächspartner. Es ist doch viel besser, Gott und sich selbst zur Hand zu haben als fast jeden anderen, den man kennt. ›Wer sich selbst genug Gesellschaft ist, wird das Gespräch nicht vermissen, und wer nicht gewinnbringend mit sich selbst sprechen kann, eignet sich gar nicht für Gespräche.‹«
Wie unerschütterlich dieser Mann aus Yorkshire war! Nachdem er zwei Jahre lang — zwei Jahre! — den Graben ausgehoben hat, mit dessen Hilfe das Meer sich des großen, gestrandeten Bootes annehmen sollte, stellt er fest, dass das Meer das Boot nie erreichen wird. Er steht weise und ruhig daneben und sagt: »Wie wunderbar der Mensch beschaffen ist. Er kann aus seinen Fehlern lernen.«
Manchmal treiben seine Leidenschaften seltsame Blüten. Manchmal drohen sie überhandzunehmen. Aber das geschieht nie — nicht vollständig. Denn sobald sie in Erscheinung treten, werden sie überprüft, auseinandergenommen, überdacht — und aufgelöst.
Unsere Gefühle unterliegen geheimen Antrieben, die, sobald sie von einem Gegenstand erregt werden, den man vor Augen hat — und sei es, sofern es kein konkreter Gegenstand ist, kraft der Einbildung vor dem inneren Auge —, durch ihre Heftigkeit ein so starkes Verlangen nach dem Gegenstand in uns wecken, dass der Verzicht darauf schier unerträglich ist.
Wenn das geschieht, ballen sich Robinson Crusoes Fäuste, und Robinson Crusoe beobachtet sie dabei, wie sie sich so fest ballen, dass alles in ihnen, sinniert er, zerquetscht werden würde.
Robinson merkt, wie Robinsons Zähne so hart aufeinanderbeißen, dass er sie kaum mehr auseinanderbekommt. »Zweifellos«, sagt Robinson, »war es eine Folge der leidenschaftlichen Wünsche und lebhaften Fantasien, die sich eingestellt hatten.«
»Wie überaus interessant«, sagt Robinson, und tick-tack, nach und nach verhält Robinsons Körper sich, wie Robinson bemerkt, wieder wie immer.
Der monumentale, gottgleiche Crusoe. Wie er monumental und deistisch die Kontrolle über seine Gefühle übernimmt. Und ich, Polly Flint, machte mich, nachdem ich von meinem Verlust erfahren hatte, daran, es ihm gleichzutun. Polly Flint blendet Theos Gesicht und sein Sein und seine Anwesenheit in ihrem Nacken aus und richtet all ihre Hingabe und Freude auf das edle und unfehlbare Gesicht und Wesen Robinsons.
Robinson ist ihr Vorbild und ihr König.
Robinsons Bewältigung der Umstände.
Robinson, Polly Flints Vater und Mutter.
Robinson, der unveränderliche, der treue.
Robinson, den sie als erstes sah, nachdem ihre Eierschale geplatzt war.
Robinson, die Prägung.
Robinson, ihr King-Charles-Kopf.
Wird Polly Flint je Robinsons großartige Anspruchslosigkeit erreichen?
Wird Polly Flint ihre Gefühle je so gut analysieren können, auf dem Weg zu Moral und Wahrhaftigkeit?
Wird Polly Flint jemals an seine wundervollen Bemühungen heranreichen, Dinge ins göttliche Gleichgewicht zu bringen? »Wir beenden unsere Jahre wie einen Seufzer.«
All dies wurde nach Theo Zeits Verschwinden Polly Flints ganzes Begehr.
Sie saß in dem Gelben Haus und hatte überhaupt nichts zu tun. Polly Flint. Zwanzig Jahre alt. Ob noch Zeit war?
Ich wurde sehr seltsam. Wirklich sehr seltsam.
Die Offiziere, die 1917 im Gelben Haus einquartiert worden waren, hatte ich, wie ich es Rebecca erzählt hatte, komplett Alice überlassen, die auch das Geld verwaltete, das wir für ihren Unterhalt bekamen. Erst als sie weg waren, wurde mir klar, dass wir ohne sie wahrscheinlich halbwegs verhungert wären.
»Wir haben keine andere Wahl, als Mieter aufzunehmen«, sagte Alice.
»Würden wir denn welche finden? Hier draußen?«
»Ja. Wenn wir mit der guten Luft werben. Wir könnten fünfzehn Shilling pro Woche bekommen, Vollpension. Pro Person.«
»Vielleicht versuchen wir erst mal eine Person.«
»Wir sollten mehr nehmen. Drei könnte man versuchen.«
»Würdest du das hinbekommen, Alice? Du weißt, dass ich alle Zeit für mein Buch brauche?«
»Ich bekomme das schon hin, wenn wir die Einkünfte teilen.«
»Teilen? Natürlich. Oh, Alice, bezahle ich dir zu wenig?«
»Mehr als zwölf Shilling können Sie sich nicht leisten. Aber wir haben hier die Möglichkeit für ein anständiges Leben, Miss Polly!«
»Mieter. Das ist schon ungewöhnlich.«
»Es ist unsere einzige Möglichkeit. Wir richten erst Miss Frances’ Zimmer her, dann das Gästezimmer, dann räume ich bei Mrs Woods aus.«
»Haben wir das noch nicht gemacht?«
»Ich habe mich nie so richtig darum gekümmert.«
»Verstehe. Könnte ich …«
»Nein. Ich mache das schon. Wir verkaufen alles, es ist ja niemand aufgetaucht, der es haben wollte, und sie hatte kein Testament.«
»Herzlich wenig«, sagte sie vielleicht eine Woche später. »Lumpen, Lappen, Bibeln. Ihr Kruzifix kann zu den Nonnen, und ihre Kleider habe ich in den Wohltätigkeitsladen am Fisherman’s Square gebracht, die waren allerdings nicht besonders erfreut. Und Bibeln wird man anscheinend gar nicht los. Sie zu verbrennen ist Sünde …«
»Ach, verbrenn sie ruhig. Das ist doch Aberglaube.«
»Den Nippes habe ich verkauft — ein oder zwei Bilder und ein Nähkästchen. Ich habe zwei Pfund bekommen und davon Whisky gekauft. Immer gut, ein bisschen Whisky im Haus zu haben. Für Notfälle.«
Sie stellte zwei Flaschen auf meinen Tisch. »Und die hier«, sagte sie, »waren mit einem Band in ihrem Gebetbuch festgebunden.« Und damit stellte sie zwölf dicke Briefe an die Flaschen, ungeöffnet und an mich adressiert. Darin standen Aunt Frances’ Abenteuer nach ihrer Hochzeit, die Mrs Woods in ihrer sonderbaren Finsternis zwischen sich und Gott aufbewahrt hatte — lange, liebevolle Briefe, die noch niemand gelesen hatte, und in jedem einzelnen stand, wie sehr sie sich darauf freute, dass ich sie in Indien besuchen würde.
»Ich hatte immer den Verdacht, dass sie runter in die Halle flitzte und dort herumgewirbelt ist, am Anfang, und niemand hat es mitbekommen. Immer gleich zu dem Tischchen. Würde mich nicht wundern, wenn sie deswegen den zweiten Schlaganfall hatte«, sagte Alice. »Und dann keinen aufzumachen und niemandem davon zu erzählen! Das ist wirklich grausam und nachtragend. Richtig böse.«
Vielleicht war es Pech, dass das Glück, das diese Briefe mir bescherten, für immer mit der gleichzeitigen Ankunft des medizinischen Whiskys verknüpft bleiben würde. Oder vielleicht war auch das ein Teil des Musters.
»Ihr Zimmer ist jetzt wirklich hübsch«, sagte Alice. »Und eine Miss Gowe hat es sich angeguckt, oder besser gesagt, ihre Schwester. Miss Gowe kommt heute Abend an.« (Es war einen Monat danach.) »Sie arbeitet bei der Post. Um hier zu leben«, fügte sie hinzu. »Verstehen Sie?«
»Darauf sollten wir trinken, zur Feier des Tages«, sagte ich.
»Nächste Woche kommen noch drei«, sagte Alice und schenkte uns ein. »Mein Dad sagt, in einer Flasche sind sieben Drinks. Das sieht nach ganz schön viel aus. Ich würde sagen, neun. Himmel, ist der stark!«
»Er ist großartig. Wer sind die drei?«
»Zwei Handlungsreisende und ein Lehrer an der Schule im Neuen Haus. Unbedeutender kleiner Wicht, ich habe ihn in das Zimmer über Ihnen gesteckt.«
»Aber das ist deins — ehemals Charlottes.«
»Ich bin runtergezogen in das Zimmer von Miss Younghusband.«
»Verstehe. Danke für deinen Einsatz, Alice.«
»Nächstes Jahr sind wir reich. Jedenfalls reich genug, dass wir uns mal um die Fensterläden auf der Seeseite kümmern können. Und noch rechtzeitig für das Dach.«
»Ist das Dach kaputt?«
»Sie sollten mal die Decke in Charlottes Zimmer sehen. Von dem Lehrer nehme ich nur sechs Shilling.«
Von diesem Moment an war Alice die Weiße Königin und flatterte von früh bis ganz spät im Haus herum, die Arme voller Wäsche (Wäsche kostete extra) und Bettzeug und Tabletts mit Essen. Die Mieter waren unkompliziert — oder Alice sorgte dafür, dass sie das waren. Die Handlungsreisenden stellten sich als blässliche Herren heraus, die irgendetwas mit Büroausstattung bei der Stockton and Darlington Railway zu tun hatten, wo sie lange Tage verbrachten. Miss Gowe war ein dickes, grinsendes Wesen in Strickjacken, angeblich zuständig für die Telegramme in Middlesborough, was unwahrscheinlich schien, denn ihre kommunikativen Fähigkeiten waren eindeutig unterentwickelt.
Der Lehrer hieß Selwyn Benson, ein fast transparentes Silberfischchen, aber Alice sagte, dass sämtliche Lehrer an der Schule — die den Zeits abgekauft worden war — entweder Überbleibsel aus den Schützengräben waren oder so fragil, dass man sie dort gar nicht erst hingeschickt hatte. Mr Benson gehörte vermutlich in die erste Gruppe, denn er zitterte und flitzte verängstigt an uns vorbei, die Treppe hinauf und wieder runter, und er erstarrte, wenn wir etwas sagten. Nachts hörte ich ihn manchmal in Charlottes ehemaligem Bett weinen, und Alice sagte, wenn sie ihm morgens das Frühstück brachte, versteckte er sich manchmal hinter der Schranktür, der arme, kleine Kerl.
Nach 1918 gab es überall seltsame Gestalten, viele Jahre lang.
»Man sollte nicht meinen, dass wir den gottverdammten Krieg gewonnen haben«, sagte Alice. »Mein Dad sagt, nach der Belagerung von Mafeking gab es noch echte Helden.«
»Was hast du gerade gesagt?«
»Gottverdammt«, sagte Alice. »Tut mir leid, Miss. Das hört man jetzt überall. Ich komme nicht dagegen an, die Marsch ist plötzlich voller Häuser. Als nächstes kommt der Vergnügungspark und so, und ein öffentlicher Rosengarten. Drehleiern und Spiralrutsche. Das werden wir bis hierher hören. Zwischen uns und der Stadt. Soll Arbeitsplätze schaffen. Na ja. Ist vielleicht das einzig Gute, was die Deutschen uns verschafft haben, Arbeitsplätze.«
»Daniel Defoe«, sagte ich, »beziehungsweise Robinson Crusoe, hat immer gut von den Spaniern gesprochen, obwohl der Krieg gegen Spanien gerade erst vorbei war.«
»Das will ich gar nicht hören, Miss. Sie kennen meine Ansichten in der Hinsicht. Wird Zeit, dass Sie diese Romanze vergessen. Da ist jetzt wirklich nichts mehr zu holen, würde ich sagen. Kann ich gehen? Ich muss einkaufen und die Bestellungen erledigen. Und wir brauchen eine neue Flasche.«
In den folgenden Monaten sah ich ihr oft aus dem Arbeitszimmerfenster nach, wenn sie für Haushaltserledigungen in die Stadt ging, in hohen Schuhen, mit falschem Fuchs um den Hals und einem zuckersüßen rosa Kapotthut, und fragte mich, wohin Alice, die müde, kleine Maus, verschwunden war —, aber ich mochte sie beide.
Im Laufe der Zeit fiel mir auf, dass ein junger Mann von der anderen Seite der Marsch immer wieder aus dem Schatten der Esplanade trat und sie begrüßte. Er lüftete respektvoll den Hut, und nachdem er ihn wieder aufgesetzt hatte, nahm er ihren Arm. Irgendetwas an ihm kam mir vertraut vor, aber es war weit weg, und ich war jetzt unglaublich beschäftigt und hatte überhaupt keine Zeit, über die Liebe nachzudenken.
Denn die komplizierte und schwierige Außenwelt hatte sich inzwischen zurückgezogen und war beinahe verschwunden. »So hatte ich nach zwei Jahren ein dichtes Gehölz, nach fünf oder sechs Jahren einen Wald vor meiner Behausung, von so ausnehmend dichtem und stabilem Wuchs, dass er absolut undurchdringlich war.«
Nur mein monatlicher Brief von Maitland auf Thwaite warf einen Strahl Tageslicht durch meine Bäume, und mit dem gelegentlichen Brief von Mr Thwaite brach ein Scheinwerfer durch. Sein jährlicher Besuch bei uns überstrahlte kurz alles.
Lady Celia lebte nicht mehr. Sie war während des Krieges gestorben und in der Familiengruft in der Kapelle am Ende des alten Parks von Thwaite bestattet worden. Maitland trauerte. Ihre Briefe waren traurig, und noch trauriger deswegen, weil Barker und Mr Thwaite selbst gar nicht so um sie zu trauern schienen, wie sie sollten. »Und von ihren ganzen Künstlern und Hallodris, die ihr jahrelang die Haare vom Kopf gefuttert haben, hören wir nichts, wobei Mrs Woolf und der kleine Mr Gertler immerhin geschrieben haben, und Mr Gertler hat eine entzückende Zeichnung von ihr mitgeschickt, in der ihre besten Seiten zur Geltung kommen. ›Meine Lady hatte ihren Platz‹, schrieb ich ihm zurück, ›in einer schäbigen Welt.‹«
Maitlands Briefe beantwortete ich immer sofort, selbst an schlechten Tagen, und ich fragte mich, ob ich recht daran getan hatte, Lady Celia für furchterregend zu halten — eitel, kalt und durchtrieben. Sie hatte die Hochzeit ihres Bruders mit meiner geliebten Aunt Frances verhindert, die sonst nicht so offensichtlich verrückt an Bord eines Schiffes nach Indien gegangen wäre. Nein, dachte ich, Lady Celia war ganz bestimmt eine Sünderin gewesen.
Vielleicht lag es an meinem genauen Studium von Maitlands Briefen und Lady Celias Charakter, dass ich schließlich doch mit dem Konzept der Sünde zurechtkam, wobei ich natürlich auch in dem großen Roman Robinson Crusoe weiterhin gute allgemeine Unterweisungen zu dem Thema fand.
Denn Robinson Crusoe ist eine Studie über die Realitäten der Sünde. All sein Unglück entspringt daraus. Es war die Sünde, die die erste Katastrophe in den Straßen von Yarmouth verursachte, bis hin zum letzten Schiffbruch auf der einsamen Insel. Er hat von Kind an gegen seinen Vater gesündigt und gegen die gute, ruhige, durchschnittliche Lebenssituation, in die Gott ihn gesetzt hatte. Er hatte durch seine Sehnsucht nach dem Meer gesündigt, das stets sein Feind war.
Tatsächlich kam all sein Unglück auf die ein oder andere Weise vom Meer, schien mir, und seinem hartnäckigen Verlangen danach. Darüber dachte ich nach und ging am Ende jedes Tages an unserem eigenen Strand spazieren und betrachtete die Bewegungen des Wassers um meine Stiefel, die zwischen dem rostroten Stacheldraht umherstapften.
»Junger Mann«, hatte der Kapitän von Crusoes erstem Schiff gesagt, »Ihr solltet nie wieder zur See fahren, sondern das Geschehene als klaren und unmissverständlichen Beweis dafür nehmen, dass Ihr nicht für die Seefahrt gemacht seid.«
Und weil Crusoe gegen Gottes Urteil handelt und sich auf eine Mission begibt, die seiner Pflicht zuwiderhandelt, wie Bileam, wie Jona, wie Hiob, wie Ishmael in Moby Dick, wie der heilige Augustinus, geht er unter. Bis er am Ende bereut.
Aber warum war Robinsons Sehnsucht nach Freiheit, Abenteuer und Reisen eine Sünde? Warum war es falsch, sein langweiliges Heim in Yorkshire nicht zu wollen, den vernünftigen Mittelschichtsalltag in Hull? Und seiner instinktiven Sehnsucht nach dem Meer nachzugeben?
Weil Gott es so gesagt hatte.
Es war wie bei Hiob: Sobald er es akzeptiert hatte, wurde es besser. Sogar wunderbar. Und am Ende von Buch 1 noch mehr. Und am Ende von Buch 2 hat Crusoe einen wahrhaft edlen Charaker.
Oh, ich beneidete ihn. Ich beneidete ihn nicht wegen seines Leids und seiner Buße, sondern um seine Kraft zum Kämpfen und seine analytischen Fähigkeiten, seine Seefahrt und darum, dass er genau wusste, wo er war. Und darum, dass er in Versuchung geführt wurde, was bewies, dass Gott ihn für würdig befunden hatte, geprüft zu werden.
Und hier war ich, vollkommen unbeachtet von Gott, und saß mein Leben im Gelben Haus ab.
Oh, ich war so neidisch.
Ich neidete Robinson seine Sünden, seinen Mut, seine Ruchlosigkeit, alles hinter sich zu lassen, was zu respektieren er eigentlich gelernt hatte; seine Unverwüstlichkeit, sein wundervolles Überleben nach der Katastrophe.
Ich neidete ihm seine Bekehrung, seine Reue, seine wunderbare Selbstgewissheit, die er durch Einsamkeit und Verzweiflung errungen hat.
Ich neidete ihm seine Unbefangenheit, seine Entscheidungsstärke, seine Selbstgenügsamkeit. Er träumte nie von einem anderen Wesen — ich neidete ihm seine sehr vernünftige Geschlechtslosigkeit, die er so einfach erreicht zu haben schien. Aber am meisten neidete ich ihm, dass er von Gott beachtet wurde.
Ich war neidisch.
Tag für Tag saß ich an meinem Schreibtisch, um mich herum nur die Schritte der Mieter auf den Fliesen und ein gelegentliches Türenklappen, wenn Alice vorbeikam; Flasche und Glas vor mir und die Schatten von Menschen, die ich gekannt hatte, irgendwo hinter meinem Rücken, in den Ecken des Raumes, wo ich sie nicht sehen konnte, die mich beobachteten, aber kein besonderes Interesse an mir hatten, und beneidete ihn.
»Miss Gowes Schwester ist hier und möchte mit Ihnen sprechen.«
»Sag ihr, ich habe zu tun.«
»Habe ich schon. Sie sagt, sie bleibt, bis Sie Zeit haben.«
»Was will sie denn?«
»Sie ist auf hundertachtzig wegen ihrer Schwester.«
»Was hat das mit mir zu tun? Alice, kannst du nicht …«
»Nein. Kann ich nicht. Kommen Sie, Miss Polly.«
Die Schwester saß mit Miss Gowe in Mrs Woods’ ehemaligem Zimmer. Miss Gowe nickte freundlich, lächelte und deutete nervös auf einen Sessel.
Die Schwester starrte mich an. Sie hatte einen glänzenden Mund, feingeschwungene Augenbrauen, die mit einem Bürstchen nachgezogen waren, und ihre übereinandergeschlagenen Beine steckten in cremefarbenen Seidenstrümpfen. Miss Gowe in ihren schäbigen Wollstrümpfen war zu einem Teil meines Hauses geworden, aber dank der pudrig-seidigen Schwester wurde mir deutlich bewusst, dass ich in Aunt Frances’ altem Schultertuch und irgendwessen Pantoffeln steckte, dass meine Finger voller Tintenflecken waren und dass ich langsam hager wurde.
»Dieses Haus ist nicht angemessen für meine Schwester«, sagte die Schwester. »Es liegt isoliert, ist exzentrisch und das Essen indiskutabel.«
»Ja, verstehe. Möchte sie ausziehen?«
»Das wird sie müssen«, sagte die Schwester.
»Ja, gut.«
»Außer«, sagte sie, »es gibt günstigere Konditionen.«
»Ja, gut.«
Alice war hinter mir hereingekommen und stupste mich in den Rücken. »Wie viel?«, fragte sie.
»Meine Schwester bezahlt Ihnen vierzehn Shilling die Woche«, sagte die Schwester. »Nicht wahr, Winnie?«
Miss Gowe kicherte schüchtern und leise.
»Vierzehn Shilling die Woche. Ich schlage zehn Shilling und Sixpence vor.«
»Ja, gut.«
»Zwölf Shilling«, sagte Alice laut.
Sie einigten sich auf zwölf Shilling. Die Schwester fegte die Treppe hinunter und wandte sich an der Tür noch einmal zu uns um. »Das muss ich jetzt noch sagen!« Alice hielt ihr die Tür weit auf. »Meine Schwester ist geradezu stigmatisiert, weil sie in diesem Haus lebt.«
»Stigmatisiert?«
»Stigmatisiert. Ich höre gewisse Dinge. Vielleicht sollten Sie wissen, dass die Gowes aus Scarborough stammen. Ich selbst lebe jetzt in Harrowgate. Im Valley Drive.«
»Ja, verstehe.«
»Alice«, sagte ich, »hol dir ein Glas. Warum sind wir etwas Schlechteres als Valley Drive? Und warum müssen wir Miss Gowe behalten?«
»Wir brauchen die zwölf Shilling, um das Dach instand zu halten. Und was Valley Drive angeht — Miss Polly, sehen Sie sich doch mal an. Gucken Sie mal in den Spiegel.«
Ich sah meinen Whisky an.
»Nein, Miss Polly. In den großen.«
Das tat ich natürlich nicht. Metaphorisch deckte ich jeden Spiegel ab wie Paul Treeces Mutter, als das Telegramm kam, damit die Seele sich nicht selbst begegnete.
Ich kehrte zu meinem Manuskript zurück. Ich war jetzt, nach der deutschen und der französischen Übersetzung von Robinson Crusoe ein Jahr zuvor, 1930, mit einer Analyse des Romans als spirituelle Biographie im Kontext anderer spiritueller Biographien des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts beschäftigt, beschäftigt mit roter Tinte, beschäftigt mit grüner, und Mr Thwaite brachte mir jedes Jahr wunderbare Notizbücher zum Schreiben.
Dass Mr Thwaite das braune Packpapierpaket mit den Notizbüchern auf den Tisch in der Halle legte, war stets der erste Akt seines jährlichen Besuchs am ersten August. Es ist nicht ganz einfach, die Freude zu beschreiben, die Mr Thwaites Besuche brachten, denn von allen Männern auf der Welt war er der stillste, und manch einer mag vielleicht sagen, der farbloseste. Aber er hatte eine ganz leise Autorität — er fragte kein einziges Mal, ob er kommen könne, sondern kam einfach alljährlich um vier Uhr nachmittags an, egal, welcher Wochentag der erste August auch sein mochte, und blieb für drei Wochen. Er klingelte nie, sondern war immer plötzlich einfach bei uns, in seinen Knickerbockern und dem Norfolk-Jackett und sah uns aus seinen hellen, blauen Augen sanft an. Hinter ihm auf der Treppe warteten Box-Boageys Taxifahrer (Mr Box und ein Assistent) geduldig mit zwei Reisekoffern und einem Überseekoffer mit umlaufendem Metallband. Mr Thwaite liebte Kleidung, solange sie sehr alt war. Er zog sich zum Abendessen immer um und hatte einen Hausrock dabei, außerdem einen großen Vorrat an Kleidern für seine Strandspaziergänge und seine Ausflüge zum Makrelenfischen oder Wittlingangeln an der Pier. Er hatte mit viel Bedacht in den letzten Jahren Ausstattungen für den neu angelegten See zum Bootfahren angeschafft, die Kleider für die Spiralrutsche im Freizeitpark allerdings noch nicht getragen. Zu einem Busausflug nach Hinderwell-for-Runswick Bay oder Filey trug er eine Sherlock-Holmes-Mütze oder einen Südwester, je nach Wetter. Wenn Alice sagte: »Sie fahren doch nicht mit dem alten Landauer, Mr Thwaite — der Bus hat ein Dach«, sagte er, er fühle sich in Automobilen niemals bedacht.
Er strahlte so einen Frieden aus. Man hörte ihn nie im Haus umhergehen, aber wenn man eine Tür öffnete, wusste man immer gleich, ob er im Raum war, denn dann hatte er eine angenehme Atmosphäre. Er aß mit kleinen Bissen und großer Freude und betrachtete Aunt Marys hübsche Löffel. Manchmal hielt er sie ins Licht, blickte aus dem Fenster, räusperte sich ein paarmal und kommentierte dann das Wetter und die Windrichtung. Er brauchte keine Konversation und sprach wenig. Und kein einziges Mal kritisierte er irgendetwas — das heruntergekommene Haus, die seltsamen Mieter, das einfache, einfache Essen. Selten machte er uns Komplimente, aber wir wussten, dass seine Besuche bei uns ihm ein wertvoller Teil seines Lebens waren.
»Und wie läuft es mit dem Buch, Polly?«
»Ach, es geht voran. Es ist eine Menge Arbeit.«
»Davon gehe ich aus.«
Er fragte nie nach Einzelheiten, sagte nie, es würde bestimmt bald fertig, stellte seine Bedeutung nie in Frage. Ich nahm an, dass ihm klar war, dass möglicherweise am Ende gar kein Buch daraus werden würde, dass ich mir eine Rüstung angelegt hatte, dass ich mich in meinem Unterschlupf versteckte, mich vor dem Schmerz versteckte. Er machte jedoch nie eine Andeutung.
»Enorme Arbeit, so ein Buch«, sagte er. »Wir hatten eine Menge davon in Thwaite.«
Wenn er bei uns war, ging ich jeden Tag hinaus, bei ihm untergehakt, am Strand entlang, das Meer warf Spitzenschals vor uns aus und zog sie wieder zurück. Der Wind war immer kalt — selbst im August kam er normalerweise von Nordwesten — und ich wickelte mich in irgendetwas, was gerade an den Haken in der Küche hing — schlabberige Stiefel an den Füßen, das Haar zu einem Knoten hochgesteckt, aus dem sich Strähnen lösten, manchmal einen uralten Hut auf dem Kopf.
Aber mit Mr Thwaite fühlte ich mich immer sorglos und hübsch. An schönen Tagen zog ich die Stiefel aus und planschte am Wassersaum, und er sah mir dabei zu. Einmal räusperte er sich und sagte: »Polly, du bist wirklich noch ein Kind.«
»Ich bin über dreißig. Ich benehme mich nur ungebührlich, wie die Nonnen früher.«
»Nonnen«, sagte er. »Ah, ich erinnere mich an die Nonnen. Arme Frances. Sie waren einmal hinter ihr her, glaube ich.«
»Nein, bestimmt nicht. Es war Aunt Mary, und die haben sie dann ja auch bekommen.«
»Nein, nein. Es war ihre eigene Entscheidung, das mit der frommen Pflegetätigkeit.«
»Na, jetzt sind sie jedenfalls weg. Allesamt. Die Nonnen sind in die Slums bei den Eisenhütten gezogen.«
»Mysteriöse Frauen«, sagte er. »Aber alle Frauen sind mysteriös.«
»Ich bin nicht mysteriös.«
»Nein, nein. Du bist nicht mysteriös, Polly. Du bist sehr geradeaus.«
»Ja. Ich verstehe gar nicht, wieso mich alle belämmern.«
»Tun sie das?«
»Alice sagt, ich verplempere mein Leben.«
»Ach, das würde ich nicht sagen. Du musst dein Buch schreiben. Du musst das Gelbe Haus bewahren, den Sitz der Familie. Das ist sicher eine große Belastung. Sehr gerne — du weißt schon — Unterstützung. Jederzeit.«
»Ach, wir kommen schon zurecht. Aber vielen Dank! Wenn das Buch fertig ist, muss ich natürlich überlegen …«
Er sagte nichts. Er atmete tief ein, betrachtete die Schiffe am Horizont, die auf die Flut warteten, und die Schornsteine, die Flammen über den Dünen ausstießen. »Es ist sehr schön hier«, sagte er. »Teil meiner Jugend. Du bist natürlich — das weißt du ja — jederzeit willkommen, in Thwaite zu leben.«
»Danke.« (Das Alter, die Leere, selbst Mr Barker war inzwischen tot.)
»Hast du schon mal ans Reisen gedacht? Eine Kreuzfahrt?«
»Reisen!«
»Nur so eine Idee. Indien, habe ich oft gedacht. Karibik. Da würde ich dich gern begleiten. Wäre auch für Maitland gut. Seit sie verwitwet ist und Celia nicht mehr da ist, langweilt sie sich ein wenig.«
»Kann ich jetzt nicht drüber nachdenken. Ich habe so viel zu tun. Gehen wir nach Hause?«
An diesem Abend blühte das Manuskript der spirituellen Biographie schöner denn je, mit farbiger Tinte und verschiedenen Handschriften. Als Mr Thwaite und ich uns vor dem Schlafengehen noch auf eine heiße Milch trafen, sprachen wir nicht von Kreuzfahrten, sondern saßen, wie gewöhnlich, einfach beisammen und sprachen kaum und hörten der Uhr auf dem Kaminsims zwischen Glasprismen und dem Foto meines lustigen Vaters beim Ticken unter ihrer Glaskuppel zu. »Hast du mal etwas von den Zeits gehört?«, fragte er plötzlich. »Ich vermisse den alten Zeit. Ich vermisse ihn immer noch.«
»Nein, ich habe nichts gehört.«
»Sie sind nach Deutschland gegangen. Sonderbare Idee. Sehr — entschiedene Leute, außer dem Jungen. Der Junge hat geheiratet — lief nicht besonders gut, habe ich gehört. Delphi Vipont. Sie war mal bei uns — vielleicht war es auch ihre Mutter. Ich bin überhaupt nicht mit ihr zurechtgekommen. Schöne Frau natürlich. Das Leben ist schwer für sehr schöne Menschen.«
»Ja. Vielleicht.«
»Ich habe gehört, sie hat ihn verlassen. Mit einem Deutschen durchgebrannt. Jemand aus der deutschen Regierung, oder der Armee. Nicht klar. Zu schade, dass die Zeits in dieses elende Land gegangen sind.«
»Beccy sagte, sie hatten das Gefühl, es sei trotz allem ihr Land.«
»Die armen Zeits. Was für ein Fehler.«
»Warum?«
»Juden. Nicht gut im Moment. Für Juden in Düsseldorf.«
»Ja, verstehe.«
»Ich mochte den Jungen. Ein ruhiger Vertreter, wie sein Vater. Die Schwester hat mehr gefunkelt. Die Mutter war — eine Herausforderung. Es gibt auch Enkelkinder, habe ich gehört. Von Theo und seiner Frau, Delphi. Sie haben Kinder.«
»Oh?«
»Zwei Mädchen. Nach langer Zeit. Delphi war nicht besonders scharf darauf, sie sind bei ihrem Vater. Nun — unwahrscheinlich, dass wir sie je wiedersehen.«
»Ja.«
Das war das längste Gespräch, dass Mr Thwaite je mit mir angestoßen hatte.
Wie langweilig er sich anhört.
»Dann habt ihr euch nie geschrieben, du und die Zeits?«, fragte er, als wir das Licht ausschalteten (Miss Gowe und die anderen Mieter hatten dafür gesorgt, dass wir im Gelben Haus jetzt Strom hatten) und die Treppe hinaufgingen. Ich hielt mich am Geländer fest, griff alle drei oder vier Stufen danach und ging wie eine alte Frau. Fehlten nur noch die Löffel.
»Ich hatte da immer so eine Ahnung«, sagte er erstaunlicherweise und starrte intensiv den grünen Blumentopf im Flur an.
»Wo?« Ich studierte den Topf.
»Zwischen dir und dem Jungen.«
Als ich nichts erwiderte, ging er zu seinem Zimmer, blieb an der Tür noch einmal stehen und sagte: »Er hat ein- oder zweimal über dich gesprochen. ›Hübsches Mädchen. Ein Feger‹, hat er gesagt. Anscheinend hat er dich mal an einem Bach gesehen.« Und während er die Tür leise hinter sich schloss, sagte er: »Man hat immer gehofft, es wäre vielleicht nicht vorbei.«
Am nächsten Tag, in der nächsten Woche, bis zum Ende von Mr Thwaites Aufenthalt bei uns arbeitete ich nicht mehr an dem Buch; ich begleitete ihn auf den Bus-Ausflug nach Filey, adrett gekleidet, und war wieder Aunt Frances’ Nichte.
Es war vermutlich die Erleichterung in meinem Herzen durch diesen speziellen Besuch, die die große Wende einläutete. Alice hatte mich schon seit längerer Zeit gefragt, ob ich nicht mal mit dem Silberfischchen-Lehrer sprechen wollte. Ich wusste, dass sie manchmal mit ihm über mich sprach. Er war inzwischen seit vier Jahren bei uns, und einmal, als sie mir die Treppe hinaufhalfen, fiel mir auf, dass sie intimer miteinander agierten, als es normal ist zwischen Nüchternen, die sich um eine Betrunkene kümmern. Mr Benson war bei dieser Gelegenheit recht forsch gewesen, so ganz anders als zu seinen ausweichenden, sich dauernd entschuldigenden Zeiten. Inzwischen saß ich oft auf der untersten Stufe, manchmal mit dem Whiskyglas in der Hand; manchmal, nachdem ich beschlossen hatte, nicht mehr zu trinken, aber auf dem Weg ins Bett kurz innehalten und Bilanz ziehen musste. »Guten Abend«, sagte Mr Benson dann und schlüpfte an mir vorbei. Miss Gowe und die Geschäftsmänner — es waren nicht immer dieselben, und in letzter Zeit waren es noch mehr Lehrer von der Schule im Neuen Haus, die ich nie auseinanderhalten konnte —, Miss Gowe und die anderen sprachen bei diesen Gelegenheiten nie mit mir, sondern gingen taktvoll an mir vorbei.
Aber am Ende waren keine weiteren Mieter mehr da, bis auf Mr Benson. Die Geschäftsmänner und Lehrer waren weg. Nicht einmal Miss Gowe war noch da, sie war in einem Sturm der Entrüstung eines Samstagnachmittags weggeholt und in ein Reihenhaus namens Boagey’s Guest House for Business Women, Seperate Tables gebracht worden. Dort gab es fließend kaltes und warmes Wasser in den Zimmern, und laut Alice Zierdeckchen und Petersilie. Und zweifellos eine Vermieterin, die dem Valley Drive genehm war.
Miss Gowe wollte uns nicht verlassen. Sie hatte das rauschende Meer vor ihrem Fenster gemocht und die Bridgeabende mit den Geschäftsmännern und Schulmeistern, denen ein Glas Sherry ebenfalls nicht unbekannt gewesen war. Ich glaube, sie missbilligte nicht einmal ihre Vermieterin so ganz, denn ein- oder zweimal sah ich in ihren Augen so ein Glitzern, das gut Neid gewesen sein konnte, als ich auf der Treppe meine nackten Füße betrachtete, mit bereits für die Nacht gelöstem Haar. Manchmal sang ich auch ein bisschen.
Platsch, platsch, Miss Gowes Schritte waren den roten Treppenläufer hinaufgegangen, der jetzt verblichen war und langsam fadenscheinig wurde, und die Messingstangen glänzten nicht mehr, denn Alice konnte nicht alles tun. Einmal hatte ich versucht, ihr zu helfen, indem ich sie polierte, und hatte jede einzelne Stange abmontiert und mich mit Putzzeug und Tüchern auf den Boden in der Halle gesetzt. Aber dann war ich auf die Suche nach etwas zu essen gegangen, und spitze Schreie drangen an mein Ohr. Miss Gowe war auf dem losen Treppenläufer gestürzt und lag in einem verbeulten Haufen auf den Fliesen. Sie nahm dankbar mein Fitzelchen Hilfe an, um sich aufzurappeln, und dann saßen wir da und unterhielten uns eine Weile lang nett über dies und das, bis Alice vom Einkaufen heimkam und uns beiden ins Bett half.
Nachdem Miss Gowe von uns entfernt und in die Ehrbarkeit gebracht worden war — mit einem gebrochenen Arm —, sagte Alice: »Gut. Dann sage ich jetzt mal was.«
»Du sagst doch etwas, Alice.«
»Ich sage etwas. Ich habe es kommen sehen. Sie haben es kommen sehen. Das hört auf, oder ich gehe.«
»Was hört auf?«
»Das Trinken. Sie trinken nicht, wenn Mr Thwaite hier ist. Und für ungefähr eine Woche, wenn Sie einen Brief von ihm oder dieser Maitland bekommen. Also brauchen Sie es nicht. Es ist noch nicht lebensnotwendig. Ich weiß das. Von meinem Vater.«
»Es hilft mir bei der Arbeit.«
»Kokolores. Sie sitzen besoffen vor Ihrer sogenannten Arbeit. Sie sind eine Blamage, Miss Polly. Und eine Schande. Alle reden schon.«
»Wer ist denn alle? Alle sind niemand für mich.« Das kam mir vor wie ein wunderbares Epigramm, brillant und traurig.
»Sehen Sie sich doch mal an. Die Haare ein wirres Nest, das Gesicht aufgedunsen, die Strümpfe in Falten. Beschämend. Ich schäme mich für Sie. Ich schäme mich zu sagen, dass ich Sie kenne.«
»Du trinkst doch selbst.«
»Das tue ich nicht. Nicht mehr. Ich habe es getan, und ich tu’s nicht mehr, denn ich habe Stolz und Verstand. Und eine richtige Arbeit. Denken Sie jemals an Ihre Tanten?«
»Nein.«
»Oder an Ihre Freunde aus früheren Zeiten?«
»Nein.«
»Dieser reizende Soldat, der tot ist, Gott segne ihn, der eine so hohe Meinung von Ihnen hatte. Der diese bezaubernden Gedichte über Sie geschrieben hat.«
»Die waren nicht über mich. Woher weißt du das?«
»Ich kann lesen.«
»Hilf mir auf.«
»Ich habe sie gelesen. Und ich habe auch dieses Malbuch gelesen, mit dem Sie immer spielen. Und ich schäme mich.«
»Sei still. Nenn mich, wie du willst. Ja gut, ich trinke, und es ist mir egal. Aber mach dich nicht über meine Arbeit lustig, oder …«
»Was?«
»Du kannst gehen. Ich entlasse dich. Hilf mir aus dem Kleid. Ich gehe ins Bett. Wenn du irgendetwas über meine Arbeit sagst …«
»Immer im Bett. Wann haben Sie sich zuletzt die Haare gewaschen? Wann haben Sie gebadet? Sie verlassen kaum je das Haus. Nein — es ist an der Zeit. Oh, Miss Polly, Sie waren so ein hübsches Mädchen, und so klug. Wo ist Ihr Wille hin?«
»Der ist nie gewachsen. Ich bin ein Häufchen Elend, Alice. Ich habe keine Bildung.«
»Das ist allerdings wahr. Sie sind ein Häufchen Elend. Aber Sie haben nicht keine Bildung. Und hören Sie auf zu heulen. Mr Benson will mit Ihnen sprechen. Na, na. Tun Sie mir diesen einen Gefallen, Miss Polly, und sprechen Sie mit Mr Benson.«
»Worüber? Ich sehe nicht, was Mr Benson für mich tun könnte. Lass mich erst mal schlafen.«
»Sprechen Sie morgen mit ihm?«
»Morgen, morgen …«
»Ja. Morgen. Ich nagel Sie drauf fest.«
»Du machst wirklich etwas mit, Alice.«
»Ist wohl besser«, sagte sie. »Sonst helfe Ihnen Gott.«
»Das wird er nicht tun.«
»Das überrascht mich nicht.«
Gott hilft nur den Starken, dachte ich am nächsten Morgen und hielt mir den Kopf. Robinson, der so viel stärker war als ich, half mir mit Bildern von Sicherheit und Freude — Robinson, der fünfundzwanzig Jahre lang mit seinem Brandy haushielt, sodass sogar noch welcher für Freitags Vater übrig war, als er sich davon erholte, dass er fast von den Kannibalen gegessen worden war. Robinson, der kontrollierte, der respektierte, der von Gott geliebte.
Als Selwyn Benson an die Bibliothekstür klopfte, wirkte er nicht ganz so erpicht darauf, mich zu sehen, wie Alice es hatte klingen lassen. Er schob das Gesicht nur ein wenig um den grünen Vorhang herum, der dazu diente, die Geräusche des Hauses aus meinem Arbeitszimmer auszublenden. Ich hatte mir an diesem Morgen die Haare gekämmt, meine Kopfschmerzen ließen etwas nach, denn es war ein Brief aus Thwaite angekommen, und seine Zögerlichkeit gab mir Auftrieb.
»Oh, kommen Sie doch herein, Mr Benson. Ich hoffe, es ist alles in Ordnung?«
»Danke, ja, Miss Flint.«
»Setzen Sie sich doch.«
Er war ein sehr kleiner Mann. Zwischen Grandfather Younghusbands Möbeln wirkte er winzig.
»Möchten Sie …« Der Dekanter war nicht mehr da. »Kaffee?« (Ein bisschen ging es noch.)
Schweigen. Ich spürte eine Art Anwesenheit hinter der Bibliothekstür, Wellen von Alice brandeten an. Er hatte offenkundig nicht viel mehr Lust auf dieses Gespräch als ich, aber sie würde ihn jetzt noch nicht rauslassen. Ich fragte mich, ob Alice uns irgendwie zusammenbringen wollte.
»Wir haben ziemliche Schwierigkeiten in der Schule«, sagte Mr Benson irgendwann.
»Oje. Ich hoffe, sie muss nicht schließen, ich habe gehört, sie macht sich ziemlich gut.«
»Oh, ja. Sehr gut. Viele Jungs. Vor allem Jungs, die bei bekannteren Schulen keine Chance haben, und sie ist nicht so teuer. Sie wird schon überleben.«
»Ach, das ist gut.«
»Wir sind allerdings ziemlich … ähm, unterbesetzt. Sie haben eine akademische Qualifikation?«
»Nein, gar nicht.«
»Mr Thwaite und Alice sagten etwas von modernen Sprachen?«
»Ich bin kein Mann. Es ist eine Jungsschule.«
»Seit dem Krieg sind kaum Männer zu finden. Wir dachten, vielleicht … ein bisschen Französisch?«
»Mein Deutsch ist besser.«
»Alice sagt, Ihre Mutter war Lehrerin. Sie meint, Sie könnten gut mit Kindern umgehen.«
»Ich weiß nicht, wie sie darauf kommt. Ich habe noch nie welche getroffen.«
»Alice weiß es«, sagte er. Wir sahen einander an. Wir wurden warm.
»Und vielleicht eine Stunde Englisch pro Woche? Zum Spaß?«
»Ja, verstehe. Ich würde schon gern — aber ist das erlaubt? Ich dachte, man braucht die entsprechenden Qualifikationen?«
»Nein.« Ich sah ihm an, dass er das für ungeheuerlich hielt. Warum tat er das dann für mich?
»Vielleicht kommen Sie mal in die Schule und sehen es sich an? Probieren es aus? Vielleicht erzählen Sie ein bisschen von Ihrem — ähm, Fachgebiet?«
»Das ist Robinson Crusoe.«
»Ja.« (Er wirkte jetzt traurig.) »Natürlich, wenn Sie das Gefühl haben …«
Draußen vor der Tür spürte ich Alices Wunsch, ihm den zarten Hals umzudrehen. Er saß ganz still in dem geschnitzten Eichensessel und wirkte, als würde er sich nie wieder bewegen wollen.
»Ich muss jetzt weiterarbeiten, Mr Benson.«
»Ja, natürlich.« Er bahnte sich einen Weg durch die Unordnung und sah sich um. »Vielleicht kann ich Ihnen ebenso helfen wie Sie mir«, sagte er. »Ich könnte Ihnen zeigen, wie man archiviert und sortiert.«
»Also — gehen Sie hin?«
»Ich glaube, ich habe zu viel zu tun.«
»Sie haben Angst, diesen Tisch zu verlassen und festzustellen, dass es nie einen Grund gab, daran sitzenzubleiben, und dass Sie dann gar nichts mehr haben.«
»Du bist gemein.«
»Ja, bin ich. Und muss ich sein. Es ist wirklich an der Zeit.«
»Ich habe heute noch nichts getrunken.«
»Das ist doch mal ein Anfang. Aber bis zur Schlafenszeit sind Sie doch wieder betrunken. Betrunken vor Angst — und Feigheit und Verfall.«
»Ich kann doch keine Jungs unterrichten, Alice. Sieh mich doch mal an.«
»Das lässt sich ja beheben. Jetzt noch. Wenn Sie mit Mr Thwaite unterwegs sind, sehen Sie wieder aus wie ein junges Mädchen. Kommen Sie, ich kümmere mich mal um Ihr Haar.«
»Ganz bestimmt nicht.«
»Was ist das für eine Schere?«
»Zum Schneiden. Also …«
»Alice, hör auf. Was machst du denn? Du hast ja einen Meter abgeschnitten!«
»Kinn runter. Machen Sie die Augen zu. Na los.«
»Alice!«
»Halten Sie still.«
»Alice.«
Auf den Boden fielen schreckliche dunkle Knäuel, schwer wie Filz. Die Schere knurpselte und knarzte.
»Alice.«
»So — aufpassen, der Kessel. Ich habe einen Beutel Kamillenshampoo. Großer Gott, sehen Sie sich mal das Wasser an!«
»Alice — das ist mir alles schon einmal passiert.«
»Dann beten Sie zu Gott, dass es nicht wieder passiert.«
»Und hier ist ein gutes Baumwollkleid.«
»Wo kommt das denn her?«
»Aus dem neuen Kaufhaus. In der High Street. Vom Bon Marsh.«
»Wer um alles in der Welt ist Bon Marsh? Die Marsch ist ja kaum noch da.«
»Das ist Französisch. Sollten Sie wissen, wenn Sie unterrichten wollen. Es bedeutet billig. Nicht, dass es das gewesen wäre. Nichts ist Bon Marsh, seit wir keine Mieter mehr haben. Hier, ziehen Sie das an. Oje, sind Sie dünn. Aber … holla! Sie sehen gut aus. Jetzt Schuhe — ich habe Ihnen welche mit Fesselriemchen und ein bisschen Absatz gekauft.«
»Klingt furchtbar.«
»Aber im Bus können Sie nicht Ihre Galoschen tragen.«
»Im Bus. Zum Neuen Haus? Das ist nicht mal eine Meile. Ich gehe in den alten Schnürschuhen.«
»Hier sind noch die von Mrs Woods. Ich habe sie als Kuriosität aufbewahrt, ich glaube, sie sind aus Afrika.«
»Die finde ich gut.«
Und so zog ich mit einem graugesträhnten Bubikopf, den Schuhen von Wilden, einem neumodischen Baumwollkleid und vollgestopft mit Mrs Woods’ Wissen los, um Lehrerin zu werden.
Als ich die wohlbekannte Meile ging, überkam mich abwechselnd die nackte Angst und dann wieder eine ganz neue Aufgeregtheit, die damit zusammenhing, dass ich einem Raum voller Kinder den großartigen Roman Robinson Crusoe näherbringen durfte — denn Mr Benson hatte vorgeschlagen, mit dem Thema anzufangen, mit dem ich mich am besten auskannte.
Die Angst kam daher, dass dieses Buch nicht mehr nur ein Buch für mich war, sondern so essentiell, dass es schwierig werden konnte, seinen Kern herauszuschälen. Die einsame Arbeit an der spirituellen Biografie und an den späteren Studien dazu, sie nicht als Fiktion, sondern als metaphysische Landschaft zu betrachten, hatte ich in der heiligen Ruhe meines Arbeitszimmers vollbracht — eines Zimmers, das ich so von der Außenwelt abgeschnitten und für alle so unergründlich gemacht hatte wie die Beschaffenheit und Farbe des Gehirns im Schädel.
Sobald eine Arbeit über diesen Roman fertig gewesen war, hatte ich mit der nächsten begonnen und die erste sorgfältig ins Regal gestellt. All die Jahre hatte ich den Wunsch des Autors nach Ruhm Lügen gestraft. Ich war zu tief drin, zu vereinsamt, zu schlicht, vielleicht zu verrückt, um mich mit den Mühen einer Veröffentlichung oder auch nur der Kommunikation abzugeben, ich dachte nicht mal: »Vielleicht, wenn ich tot bin.«
Und jetzt sollte ich mein enormes Wissen weitergeben, und zwar an Kinder, nachdem ich kein einziges kennengelernt hatte, seit ich selbst eins gewesen war, und Stanley mir heiße Kohlen ins Gesicht katapultiert hatte.
Aber ich erinnerte mich an seine großen Augen, sein »das ist toll, wirklich toll«, und das Gefühl, das er in mir ausgelöst hatte, bevor die Kohle flog und das Buch in Flammen aufging, aus dem ich unterrichtet hatte. Eine kleine Flamme hatte sich entzündet. Die sich aufrollenden Seiten des Buchs, die Flammen und Funken und das Flackern waren mir nicht als Zerstörung im Gedächtnis geblieben, sondern als Triumph, als eine Art Vervollständigung. Erst jetzt wurde mir bewusst — und es kam tief aus meinem Unterbewusstsein, aus einem Tiefseeplateau, als ich das Gartentor passierte und auf die geteerte Straße trat, durch das Eisentor, die vertraute Einfahrt hinauf, unkrautfreier, nackter Zement —, erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich, als ich Stanley das Französische vorgelesen und übersetzt hatte, eine geerbte Fähigkeit in mir festgestellt hatte. »Deine Mutter war eine wunderbare Lehrerin«, hatten sie alle gesagt. »Was für ein Verlust für den Beruf, als du geboren wurdest.«
Und so beschwor ich diese Kraft, als ich heute zur Schule ging, herauf. Ich würde diesen Jungs, diesen neuen Stanleys, aufgeschlossen, reich, bereits gut erzogen, Dinge erklären, die sie nicht vergessen würden.
Ich würde mit dem Begriff des Romans anfangen: dem englischen Roman, wie er sich vor etwa dreihundert Jahren aus einem Wirrwarr eher simpler Quellen zu der literarischen Form entwickelt hat, die wir heute kennen, und zu seinem Zweck, Trost zu spenden und gleichzeitig zu verstören; wobei seine wahre Genese tief im Menschen selbst lag, in seinem Bedürfnis, Geschichten zu erzählen. Ich würde beschreiben, dass wie bei der Entwicklung von Gallertklumpen und flachen Bändern im Meer zu Fischen, dann zu Vögeln, dann zu Säugetieren und auf verschlungenen Wegen zum Menschen, auch aus dem Grunzen und Schnaufen in den Höhlen Anekdoten, Witze, Geschichten, Geschichten zu Musik, Sagen, Liederzyklen und herrliche Reiseberichte wurden. Und dann kam Defoe aus den stinkenden Straßen Londons, ein ehrlicher Mann (und Krimineller), produktives Genie (und Lohnschreiber), und schrieb dieses große Wunder, dieses herausragende Meisterwerk, das Paradigma Robinson Crusoe, den großen Roman, so perfekt und vollendet wie das Kind Athene, das dem Kopf des Göttervaters Zeus entsprang.
Wenn ich das gesagt hätte, würde ich mit einer Analyse des Romans fortfahren, entlang folgender gedanklicher Linien (jemand schlüpfte in der Einfahrt zur Schule im Neuen Haus an mir vorbei — es war der Küster, mit einem Seitenblick, und ich grüßte ihn herzlich):
Entwicklung der Erzählkunst im 18. Jahrhundert. Besonderer Einfluss Defoes auf die englische und europäische Literatur. RC und seine Wurzeln — heutiger Journalismus. Die subtile Transzendenz dieser Quellen. Brillante Lesermanipulation. Wir lesen mit der Freude, die der beste dramatische Journalismus bietet, und merken zunächst nicht, dass wir viel mehr lesen.
Imitatoren, dann Reaktionen gegen Defoe, vor allem Fielding und Richardson. Abriss Nachahmer, Persiflagen, Kuriosa; Romanbegriff im 18. Jh., weitere Ausbreitung; innerhalb dieser Strömung (Untergruppe) originale, nicht damit zusammenhängende geniale Werke: v.a. Swift (vgl. Swifts Meinung über Defoe!).
Aufstieg der Frauen als Romanautorinnen: Fanny Burney, die Blaustrümpfe, Lady Mary Wortley Mantagu »Briefe aus dem Orient als Fiktion«. Das einzige Buch, das Dr. Johnson nur zum Vergnügen gelesen hatte.
Interessante weitere Entwicklungen: Schauerroman, die schwächlichen ersten Schritte des späteren Spannungsromans. Sprachgewandtheit, Leidenschaft, Brillanz bei den Brontës im Pfarrhaus von Haworth; die fünf Wunder von Chawton, Hampshire, von einer Dame, die von der Häuslichkeit und einer schwierigen Mutter geplagt wurde.
Abschließender Punkt: Jeder ernstzunehmende Roman muss bis zu einem gewissen Grad und unmerklich die Form voranbringen. Er muss etwas Neues wagen. Um zu überleben — wie der Gallertklumpen im Meer, der Samen, braucht er starke Fasern, eine zunächst absurd erscheinende neue Qualität, er muss das Licht aus einem ungewohnten Winkel einfangen, und zwar unvoreingenommen. Das kann scheitern — aber das ist besser, als auf Nummer sicher zu gehen. Dabei muss er außerdem unterhalten. Keine Polemik. Keine getarnte Predigt.
Den Roman des späteren neunzehnten Jahrhunderts, dachte ich, würde ich vielleicht für die zweite Stunde aufsparen.
An der abblätternden Eingangstür der Schule im Neuen Haus öffnete niemand, also ging ich hinten herum und sah, dass der Tennisplatz kaum besser gepflegt war als zu der Zeit, als die Soldaten ihn 1914 auseinandergenommen hatten. Das Netz hing durch, große Pflanzen wuchsen auf dem Platz, im rostigen Zaun waren Löcher. Das Gewächshaus, das die Zeits nicht mehr fertiggestellt hatten, war von außen immer noch herrlich, aber — ich öffnete die Tür und ging hinein — die Steinplatten waren schmutzig, und es standen kaputte Tische und billige, alte Stühle herum. Es roch nach Früchtebrot.
Ein Junge streifte umher. Er sagte mir, das Büro des Direktors sei oben. Ich sagte: »Läufst du bitte hinauf und sagst ihm, dass ich da bin? Miss Flint«, und er ging. Während ich noch darüber nachdachte, dass ich mit ihm gesprochen hatte, als würde ich die Regeln kennen, und mich fragte, warum mein flatternder Magen sich nicht ebenso verhielt, kam der Junge schon zurück und sagte: »Sie sollen die 1c nehmen. Ich soll Sie hinbringen.«
»Was für ein schrecklicher Lärm«, sagte ich, als wir uns Mrs Zeits ehemaligem Morgenzimmer näherten, wo sie das Depot für die Leute in den Schützengräben eingerichtet hatte.
»Mr Benson ist nicht hier«, sagte der Junge. »Da drin ist es.« Er ging fort, ohne mir die Tür zu öffnen, und ich trat ein.
Es waren etwa zwanzig kleine Jungen da. Ich hatte keine Vorstellung, wie alt sie waren, aber ihr Haar war immer noch wie Seide oder die Federn von Jungvögeln. Sie hatten große Zahnlücken oder kurze Stummel der nachwachsenden Zähne. Stöckchenartige Beine mit herzzerreißenden Kniekehlen. Rutschende Socken. Die meisten balgten sich auf dem Fußboden.
Von denen, die das nicht taten, standen zwei auf der Fensterbank und waren die Royal Air Force, zwei weitere schlugen in einem hypnotisierenden Rhythmus immer wieder ihre Schreibtischklappen zu. Andere hatten sich um das hohe Lehrerpult und den Stuhl versammelt, scharrten und traten einander, um zu sehen, was darin war, und das war offenbar nicht viel. Die Tafel war mit Gesichtern und Wörtern mit B bedeckt.
Der Lärm ebbte nach und nach ab, als ich an der Tür stand, dankenswerterweise erstarb zuerst das Tischeknallen. Wie ein abziehender Sturm. Die Jungen auf dem Boden blieben liegen, rappelten sich hoch, die am Lehrerpult lachten weniger und zogen sich in den Raum zurück. Zwei letzte Fallschirmsprünge von der Fensterbank verliefen ein wenig gleichgültig. Ein weißes Porzellan-Tintenfass flog, ging kaputt und lief aus. Ich setzte mich auf ein leeres Pult in der Nähe der Tür.
In einem kurzen Moment der Stille sagte das verschwommene Foto der jungen Frau, die das dicke Baby in Großvater Younghusbands Arbeitszimmer auf dem Schoß hat, sehr entschlossen: »Also, Polly. Bevor sie wieder anfangen.«
»Bevor ihr wieder anfangt«, sagte ich, »heb das Tintenfass auf. Danke. Du — mit dem zerrissenen Hemd — wisch die schmutzigen Wörter von der Tafel. Ja, und du kannst gleich dableiben. Alle anderen bleiben bitte an ihren Tischen sitzen, solange die nicht schon Brennholz sind. Und schließt die Deckel. Danke. Und jetzt holt mal ganz tief Luft.«
»Na los, ihr alle. Tief einatmen.«
»Geht doch.«
»Also: Ich bin Miss Flint. Ich bin ein STAHLBLECH. Schreib das an die Tafel, und ich will all eure Namen wissen, von euch allen. HÖR AUF DAMIT«, als ein Fuß sich unter einem Tisch hervorstahl, sich um das Bein des davorstehenden Stuhls schlang und daran ruckelte. »Geh ebenfalls an die Tafel und schreib deinen Namen dran. Das S geht andersherum. Schreib zwanzig davon.«
»Also, ich bin eure neue Lehrerin. Passt bloß auf, ich bin eine schreckliche Frau. Ich weiß jede Menge über Kannibalen. Auf einsamen Inseln. Ich esse kleine Jungs zum Mittagessen. Wer weiß, wie man Kannibale schreibt? Falsch. Setz dich. Will es jemand anders versuchen? Oh, sehr gut. Ziemlich schwieriges Wort. Wie heißt du? Gegg? Schön.«
»Was gibt es da zu lachen? Was ist komisch daran, Gegg zu heißen? Er kann Kannibale schreiben, ihn werde ich sicher nicht essen.«
(Was für ein Spaß! Was für einen ungeheuren Spaß mir das machte!)
»So, ich erzähle euch jetzt mal etwas, damit ihr aufhört, über Dinge zu lachen, für die niemand etwas kann, wie seinen Namen. Außer es handelt sich um Damen, sie können es manchmal korrigieren, wenn sie heiraten, aber es wird dann nicht immer besser.
Es war einmal ein kleiner Junge in einer Londoner Schule, der hieß Tim Crusoe. Das war ein sehr ungewöhnlicher und sonderbarer Name, und ich nehme an, dass er deswegen ausgelacht wurde. Aber einer der anderen Jungen in der Klasse erinnerte sich daran, als er erwachsen war, und schrieb eine Geschichte über ihn. Wer kann mir denn sagen, wie die Geschichte hieß?«
»Warum seid ihr denn so still? Was? Gegg — Gegg weiß es — Robinson Crusoe! Das stimmt! Und worum geht es in der Geschichte? Wer war Robinson?«
»Er hatte ein Holzbein, Miss.«
»Er hatte ein Holzbein, Miss Flint. Nein, hatte er nicht. Ja?«
»Bitte, Miss — Flint —, er hatte einen Papagei und einen Haken statt einer Hand.«
»Ein Punkt für den Papagei. Kein Punkt für den Haken. Ihr verwechselt die Seemänner. Als nächstes sagt ihr noch Flint!«
»Er hat einen Fußabdruck gesehen. An einem Freitag.«
»Ein Punkt für den Fußabdruck, aber Freitag war ein Mensch. Warum hieß er Freitag?«
»Bitte, Miss …«
»Bitte, Miss Flint.«
»Bitte, Miss Flint, er war ein Klassenkamerad von Mr Crusoe.«
»Von Mr Defoe. Daniel Defoe hat Robinson Crusoe geschrieben, vor mehr als zweihundert Jahren. Und wir lesen es heute immer noch! Warum?«
»Weil Sie es uns sagen.«
»›Weil Sie es uns sagen, Miss Flint.‹ Nein, tue ich nicht. Wenn du es nicht lesen willst, lies es nicht. Dann finde ich etwas anderes für dich, du kleiner Spinner. Hört auf zu lachen. Wenn ihr es nicht lesen wollt, verpasst ihr eine wunderbare Geschichte. Aber erst werde ich sie euch erzählen — sie ist noch zu lang für euch zum Selbstlesen. Was ist denn das für ein furchtbarer Lärm?«
»Die Glocke, Miss Flint.«
»Glocke?«
»Ende der Stunde. Was ist die Hausaufgabe?«
»Hausaufgabe? Oh.«
(Hausaufgabe?) »Oh. Schreibt mir eine Geschichte. Auch wenn sie nur zwei Zeilen lang ist. Ich verspreche euch, ich lese jedes Wort. Steht auf. Sagt guten Morgen. Zieht die Krawatten gerade, ihr Großen. Und schreibt nicht alle über Gegg, sonst bildet er sich noch etwas drauf ein. Auf Wiedersehen!«
»Bitte, Miss Flint, wann kommen Sie wieder?«
»So bald wie möglich.«
»Yippie!«
Und dann — wieder — herrje.
»Bitte«, sagte der mutlose Junge, der immer noch wie Smike in der Halle des Neuen Hauses herumlungerte — es hätte mich nicht überrascht, wenn er einen Besen hinter sich hergezogen hätte —, »Sie sollen nach oben zum Direktor gehen.« — »Gut«, sagte ich und fühlte mich plötzlich stark. »Zeig mir bitte, wo das ist. Komm zurück! Bring mich bitte hinauf. Solltest du nicht eigentlich im Unterricht sein?« (Woher nahm ich eigentlich diese Worte?)
»Mr Benson ist heute nicht da«, sagte er wieder.
»Und wenn er hier ist, ist es anders?«, fragte ich.
»Oh, ja, Miss, ganz anders.«
Und dort, in Mrs Zeits Schlafzimmer, dem Zimmer, in dem ich nach Paul Treeces Tod verhätschelt und bemitleidet worden war, in dem immer noch der Geist von Paul Treece zu spüren war, wo ich damit gerechnet hatte, bald als Tochter in der Familie begrüßt zu werden, dort saß der Besitzer der Schule im Neuen Haus, sommersprossig, teigig, schlaff, bleich.
»Ein Pfund«, sagte er, »pro Trimester, pro Schüler. Eine Klasse, maximal zwanzig Schüler.« Er seufzte. »Fünf Vormittage die Woche, alle Fächer. Fußball-Aufsicht. Gelegentlich Aufsicht beim Mittagessen, Sekretariat für mich. Putzen in meinem Büro und dem oberen Flur. Kleinere Einkäufe. So lange, bis ein passender männlicher Lehrer gefunden ist, dann ist Schluss.«
Hinunter durch das nach Früchtebrot riechende Gewächshaus, über den betonierten Hof, wieder die leere Einfahrt entlang, und kein Junge zu sehen. Stille wie in einem Altersheim mit weggeschaufelten Bewohnern, Stille wie im alten Kloster, aber nichts zu spüren vom Gottvertrauen der Nonnen, von Fröhlichkeit oder Leben.
Und nach Hause.
Mr Benson und Alice erwarteten mich. Alice wurde zu einem wütenden Wirbelsturm, und Mr Benson drehte sich um und schlug so fest auf das Kaminsims, dass die Glasprismen hüpften und die Uhr unter ihrer Glocke ein überraschtes Geräusch von sich gab. »Ich kann das nicht machen. Oh, und ich würde so gern«, sagte ich. »Aber es ist zu viel. Das würde ich nicht schaffen.«
Ich ging an meinen Schreibtisch. In der Schublade war eine Flasche Whisky. Ich schenkte mir zwei Fingerbreit ein. Und dann noch einen Fingerbreit. Etwas später noch einen.
Was für eine Demütigung. Aber sie würden nachsichtig mit mir sein. Ich war erleichtert, wieder hier zu sein, in meinem eigenen Umfeld, hinter meiner selbstgebauten Abschottung. Ach, Robinson Crusoe, »immer wieder schiffbrüchig, aber öfter an Land als auf See«. Ich sackte über dem Whisky zusammen. Sie würden bald mit meinem Tea kommen. Sie würden nett zu mir sein. Die gute Alice, immer so freundlich zu mir.
Aber der Tea kam nicht.
Ebenso wenig wie das Abendessen, das Alice mir normalerweise auf einem Tablett brachte. Ich schenkte mir noch einen Whisky ein und ging in die Küche, aber dort war niemand. Das Haus schien leer zu sein. Wir hatten im Moment keine Mieter, bis die regelmäßigen Sommergäste kommen würden, dank derer wir auch über den Winter unsere Ausgaben bestreiten konnten. Ich rief. Keine Antwort.
Ich ging hinaus in die Dünen, und da sah ich Alice und Mr Benson im intensiven Gespräch. Mr Benson rang die Hände, ließ den Kopf hängen und nickte gelegentlich heftig. Dann bemerkten sie mich. Sie sahen mich an. Sie sahen weg. Sie unterhielten sich weiter.
Nach einer Weile standen sie auf und kamen zu mir, immer noch miteinander redend, und Alice sagte: »Wir gehen rein. Kommen Sie«, und auch wenn Mr Benson zurücktrat, um mich vorzulassen, ging Alice uns beiden voran, ins Haus hinein und schnurstracks in den Salon. Ich folgte ihnen, tastete mich vorsichtig von einem Stuhl zum nächsten, denn die frische Luft tat ihre Wirkung. Mr Benson stand mitten im Raum an Aunt Frances’ Klavier und sah nach rechts und links.
»Soll ich Sie verlassen?«, fragte Alice.
»Nein, nein.«
»Das wäre vielleicht besser. Es ist Ihr Haus, nicht meins.«
»Jetzt setzen Sie sich doch um Himmels willen, Mr Benson«, sagte ich und plumpste in Mrs Woods’ Sessel. Eine Staubwolke kam heraus. Es hatte seit Jahren niemand mehr darin gesessen.
Mr Benson setzte sich langsam und blickte ernst in den Kamin, und ich begann mich zu fürchten.
Die Zeit verging, und ich fürchtete mich jetzt ernsthaft, denn auch Alice setzte sich. Sie saß mit mir im Salon. Alice, das Hausmädchen.
»Miss Polly«, sagte sie, »Mr Benson möchte Ihnen etwas sagen. Er hat die Schule im Neuen Haus gekauft und wird der nächste Direktor.«
»Mr Benson! Ich habe den Direktor doch heute Nachmittag getroffen. Er hat nichts davon gesagt — na ja, Sie wissen ja, was er gesagt hat.«
»Trauriger Kerl. Ich glaube nicht, dass ihm klar ist, was Sache ist. Ich hatte gehofft …«
»Aber dann sind Sie ja reich, Mr Benson! Sie müssen schon die ganze Zeit reich gewesen sein.« Ich war vollkommen nüchtern.
»Nein. Die Schule ist ziemlich heruntergekommen. Ich habe einen Kredit aufgenommen. Ich bin ganz glücklich …«
»Aber … ach, gut. Gut gemacht. Herzlichen Glück…«
»Ich möchte Sie etwas fragen.«
»Na also«, sagte Alice. »Dann kann ich ja gehen, und Sie machen das hier unter sich aus. Wie es sich gehört.«
Ich sah Mr Benson an, der lächelte und seine entschlossenen, quadratischen Zähne zeigte, die mir nie aufgefallen waren, und für einen Augenblick strahlte er richtig. Er wirkte glücklich. Ein irrer Gedanke durchzuckte mich. Er wollte mir einen Antrag machen.
»Ich wollte Sie bitten«, sagte er, »mir Alice zu überlassen.«
»Oh, ich kann Alice auf keinen Fall entbehren.«
»Ich habe sie gebeten, meine Frau zu werden. Schon vor langer Zeit. Ich habe sie immer wieder gefragt. Sie hat immer nein gesagt, bis heute Nachmittag.«
»Oh. Ja, verstehe. Wie schön für Alice.«
»Und wie schön für mich. Miss Flint, ich glaube, Sie wussten es schon. Sie haben es geahnt. Sie freuen sich. Ich habe immer gesagt, dass Sie sich freuen würden.«
Alice. Die Frau eines Schulleiters.
»Oh, natürlich.«
»Wir werden nicht weit weg sein.«
»Weit weg? Alice wird doch nicht weggehen? Sie verlassen Oversands doch nicht?«
»Wir werden natürlich in der Schule wohnen. Natürlich«, und er zeigte mir wieder die quadratischen Zähne.
»Verstehe.«
»Ich beziehe meinen neuen Posten im nächsten Semester. In den Sommerferien werden die Neuerungen vorbereitet. Ich werde Einstellungsgespräche führen und Bauunternehmer anheuern müssen. Den neuen Stundenplan aufzustellen dauert normalerweise eine Woche, das mache ich schon seit ein paar Jahren. Es werden neue Schüler kommen und neue Eltern, mit denen ich sprechen muss. Sie sehen, es ist viel zu tun, und dann natürlich die Hochzeit und die Flitterwochen.«
»Ach, Flitterwochen.«
»Wir heiraten in Alices Zuhause in Skinningrove.«
»Alices Zuhause? Aber Alices Zuhause ist …«
»Ja. Ihre Mutter wird darauf bestehen, den Empfang auszurichten.«
»Das wusste ich gar nicht. Alice fährt natürlich Weihnachten nach Hause, aber …«
»Ihr Vater ist Bergarbeiter, aber das wissen Sie natürlich.«
»Oh, ja. Ehrlich?«
»Sie sind natürlich unser Ehrengast.«
»Wann …?« Ich sah, wie meine Finger anfingen, den Rock meines Kleides zu kneten, angeblich das erste Anzeichen dafür, dass eine Frau alt wird. »Wann werden Sie? Wann müssen Sie?«
»In einem Monat«, sagte Mr Benson. »Da haben Sie genug Zeit, einen Ersatz für Alice zu finden. Also, wollen wir Alice reinholen? Ich hole uns Gläser und Zitronen-Gerstenwasser, und dann stoßen wir auf die Zukunft an.«
»Oh, Alice!«
»Oh, Miss Polly!«
»Sag ruhig Polly.«
»Niemals. Wen werden Sie denn als Ersatz für mich finden?«
»Niemand kann dich ersetzen.«
»Ach, Miss Polly, was machen Sie denn jetzt? Ich wusste doch auch nicht. Ich musste es tun. Nach dem Tag heute gab es nur friss oder stirb. Es ist Ihre einzige Chance.«
Am liebsten hätte ich gesagt: »Aber hältst du diesen Mann aus, Alice? Seine Stundenpläne und sein Gerede?«
»Und oh, Miss Polly, was der Whisky kostet!«
»Hem, heremmm«, machte Mr Benson. »Sie können natürlich im nächsten Schuljahr mit dem Unterricht beginnen, Miss … Polly. Ich versichere Ihnen, dass Sie nicht den Flur putzen werden.«
»Das war es nicht«, sagte ich. »Es war … mindestens ebenso sehr das Einkaufen. Und die Unsicherheit — er hat gesagt, wenn ein männlicher Lehrer gefunden wird, muss ich gehen.«
»Der hat Nerven!«, rief Alice.
»Das wird nicht so sein. Bitte nehmen Sie doch noch Kartoffeln, Miss — ähm — Polly — Flint.« (Wir saßen inzwischen bei drei Kotletts um den Küchentisch.) »Ein Vormittag die Woche für den Anfang, ganz normale Bezahlung, mit Erhöhung im Laufe der Zeit. Französisch und Deutsch, aber auch ein bisschen Allgemeinbildung, die wir Englisch nennen.«
»Das können Sie, Miss Polly.«
»Warum glauben Sie das eigentlich?« Ich war so müde. »Es war großartig heute Nachmittag, aber …«
»Na also!«
»Aber das war wahrscheinlich reine Angeberei. Schauspielerei. Ich habe das ja überhaupt nicht gelernt, und ich war selbst nie in der Schule.«
»Manche können es, manche nicht — stimmt doch, Selwyn? Miss Polly …«
»Alice hat«, sagte Mr Benson, »eigentlich immer recht. Auch wenn wir uns wegen heute Nachmittag beide vertan haben. Das haben wir falsch eingeschätzt. Sie hätten nicht allein zur Schule gehen sollen.«
Später, als Alice und ich zusammen abwuschen — und ich den letzten guten Teller fallen ließ —, sagte sie: »Wissen Sie, Miss Polly, Selwyn hat Angst. Er ist ziemlich durcheinander. Auf den Schwulst muss man gar nicht hören, das ist nur Pfeifen im Dunkeln. Er hat immer noch Angst, obwohl ich schon viel für ihn getan habe. Frankreich und so, das kann immer noch wieder hochkommen. Ich habe auch Angst, aber das bleibt bitte unter uns. Weil ich nur aus Skinningrove komme und keine Bildung, keine Eleganz habe. Die Frau des Schulleiters — Alice! Miss Polly, wir brauchen Sie wirklich.«
»Das hat er nicht gesagt.«
»Er ist stolz. Aber es ist ihm klar. Die Schule braucht Sie für den guten Ton. Es werden anfangs ganz einfache Leute ihre Söhne dorthin schicken, nur um sagen zu können, sie waren auf einer Privatschule.«
»Die werde ich kaum beeindrucken können. Ich glaube nicht, dass ich da für den guten Ton sorgen kann. Die Leute halten mich im Allgemeinen für komisch.«
»Aber Sie haben ein gewisses Etwas, Miss Polly. Sie haben was. Weil Sie von ungewöhnlichen Menschen aufgezogen wurden. Denen es egal war, was man über sie dachte. Und Sie haben Köpfchen. Dieses großartige Buch, das Sie schreiben. Ich erzähle allen davon.«
»Zuletzt hast du es Malbuch genannt.«
»Erst nach Jahren. Ich hatte solche Angst um Sie. Wie Sie langsam verschwunden sind. Ganz kaputt und von der Welt abgeschnitten, ganz weit weg. Aber das wird sich jetzt ändern. Das weiß ich. Ich weiß es, ich weiß es wirklich. Das ist genau das Richtige für uns alle.«
. Ich schenkte ihnen Aunt Marys Löffel und mein chinesisches Nähkästchen. In Alices Obhut florierte die Schule und füllte sich, und Mr Benson schritt in Universitätsrobe und Barett umher, mit finsterem Blick und freundlichem Herzen, und die Menschen begannen die beiden zu lieben. Schüler bevölkerten das Gelände und schlugen Bälle über die Tennisplätze mit dem ordentlich gemähten Rasen. Dann erlaubte man ihnen, in die Stadt zu gehen, in hübschen schwarzen Jacketts und schwarzweißen Kappen. Ihre Väter spendierten für Sportfeste riesige Pokale aus schwerem Silber, und Mr Benson trug zu diesen Gelegenheiten sein gestreiftes Jackett und einen Panamahut, so groß und seidig hell, dass er auch Mr Woods in Afrika gut hätte kleiden können.
Mr Thwaite kam oft zu den Sportfesten, und auch Maitland kam, in brauner Tussahseide, mit einem bildschönen Hut und einem Pompadour. Mr Thwaite wirkte inzwischen recht fragil, seine Beine waren in eine Decke gewickelt, gegen den sandigen Wind, der die Namen von Ereignissen und Sportlern, die in Megaphone gerufen wurden, in den Himmel fegte. Einmal verlieh Mr Thwaite die Preise und hielt eine Rede, in der es nur um das Wetter ging, aber der Wind fegte auch diese Rede davon, sodass niemand sie hörte, aber am Ende klatschten alle begeistert und sagten zueinander, wie glücklich die Schule sich schätzen könne, ihn zu haben, denn er war eine Art Lord.
Und ich, Polly Flint, war immer da — beim Sportfest und beim Debattierwettbewerb und an jedem anderen Tag, an Wochentagen und Wochenenden, früh und spät, und das Gelbe Haus wurde »Das Gelbe Haus« — eine Pension für Schüler. Ich zog in die beiden vorderen Zimmer. Der Esszimmertisch wurde mit rotem Filz bezogen und bekam eine weiße Decke, und zehn Jungen saßen drum herum und aßen mit großer Lautstärke und großem Appetit. Oben in Mrs Woods’ Zimmer schliefen sechs Schüler mit Spinden und Fotos von zu Hause neben sich, und mit so vielen Büchern und Spielsachen, wie sie wollten. Wenn ich am Ende des Tages von der Schule nach Hause ging, begleiteten die kleinsten Jungen mich immer bis zum Tor, plapperten auf mich ein und tänzelten umher. Und wenn ich mich an der Tür noch einmal umdrehte, waren sie immer noch da. So vergingen einige wunderbare Jahre.
Alices Hochzeit hatte mich gerettet, sie hatte mir meinen Weg gezeigt. »Denn meine Befreiung lag greifbar vor mir, alles war bereitet, und ein großes Schiff wartete nur darauf, mich hinzubringen, wohin ich wollte.«
Wie glücklich ich im Gelben Haus geworden war! Und dann kam an einem Samstagnachmittag der wundersamste Tag meines Lebens. Über Jahre unseres Lebens vergehen die Tage eintönig, ohne Eigenheiten oder Bedeutung, ohne besonderes Glück oder Unglück. Und dann sieht man — als würde man einen Gobelin umdrehen, den man bisher nur von der Rückseite kannte —, plötzlich ein Bild.
Es war im Frühjahr 1939. Ich ging von der Schule nach Hause, wo ich vormittags unterrichtet und dann Selwyn Bensons Post sortiert hatte, denn er war mit einem Kricketspiel beschäftigt, und Alice beaufsichtigte den Tea für die Besucher — sämtliche Hausmädchen hatten Angst vor ihr. Es war schwül und ziemlich warm geworden. Ich ging langsam. Ich dachte an meine eigenartige Verschrobenheit vor langer Zeit zurück, meine Besessenheit von meinem Leitbild, Robinson Crusoe, das inzwischen ziemlich verflogen war, abgehauen wie am Ende einer Liebesaffäre, wie ein Vogel, der von der Schulter wegfliegt. Das Fieber vorbei.
So viele Jahre.
Ich beschloss, auf dem Heimweg bei der Kirche vorbeizugehen und nach den Gräbern von Aunt Mary und Mrs Woods zu sehen, denn ich hatte kürzlich begonnen — wie eine alte Kirchendame —, samstagnachmittags in die Kirche zu gehen. Ich kam am Grab des Küsters vorbei und dachte, es müsste eigentlich ein düsteres, aber komisches Gedicht über das Grab eines Küsters geben. Ich betrachtete die einsamen, bedeutungslosen Krankenbetten der anderen Gräber, zupfte Unkraut, dankte Gott, dass ich aus dem Fegefeuer meiner Beschäftigung mit dem alten Defoe mit einem Sinn für Gott und die Auferstehung herausgekommen war. Dann ging ich in die Kirche und setzte mich in eine der hinteren Reihen.
Frauen bereiteten den Sonntag vor. Seltsame alte Vögel. Sie klangen auch wie Vögel, wenn sie sich von einer Seite der Kirche zur anderen etwas zuriefen. Eine flatterte um den Altar herum, eine andere polierte die infernalischen Fenster noch leuchtender, eine zog die Schrauben an der Verbleiung fest, ein paar zwitscherten um die Messingtafeln herum. Zwei straußenartige Damen bewegten schwere Bohlen über die roten Fliesen. Ihre Unterhaltung war kaum in Worten auszumachen, sie sprachen in Melodien wie Vögel am Abend in einem stillen Wald.
Im vergangenen Jahr hatte ich diese Musik lieben gelernt. Die Kirche lieben gelernt, und an dieser Art von Gesang teilzunehmen. »Oje, oje«, sagte die Dame am Altar, »heute ist oje für alle!« — »Alles voller Sand, alles voller Sand!«, rief eine andere und fegte eine Menge davon in ein Gitter. »Sand, Sand«, und Christus sah aus der Dornenkrone Jerusalems auf sie herab.
»Da ist ja Miss Flint und kann uns helfen. Was für ein schöner Tag, Miss Flint.«
»Es ist heiß«, sagte ich. »Es ist heiß.«
»So, das Fenster ist wieder fest«, sagte die Dame mit dem Schraubenzieher. »Das war seit den Bomben von neunzehnhundertvierzehn lose. Ach, diese Kirche ist wirklich heruntergekommen! Die hätten Sie mal früher sehen müssen, Miss Flint.«
»Ich kenne sie schon immer«, sagte ich, »seit ich sechs war. Aber ich bin nicht mehr hergekommen. Ich war eine Rebellin.«
»Aber ich erinnere mich an Ihre Aunt Mary. Eine Heilige. Wir haben immer gesagt, sie hätte Nonne werden sollen. Und Miss Frances. Miss Frances haben wir alle geliebt. Das war ja keine große Ehe …« Und die Vögel zwitscherten wie verrückt und wurden vor Aufregung lauter, als der Pfarrer kam.
Es war ein neuer Pfarrer, angeblich einer aus der Gegend, und er sah hungrig aus, sprach in dem Akzent von Grangetown und trug durchgescheuerte Manschetten zum Anzug. Er legte einigen der Frauen den Arm um die Schulter und grüßte laut. Ich dachte an Mrs Woods, die gesagt hatte, man solle in der Kirche nicht reden. Die Damen zerschmolzen und wandten sich ihm zu wie Hühner zur Fütterungszeit. Ich sah Mrs Woods’ verdunkeltes, wütendes Gesicht vor mir — und stellte fest, dass ich auch das liebte.
»Hallo, Miss Flint«, sagte der Priester. »Sind Sie vor dem Sturm geflohen?«
»Ich wollte nur mal vorbeikommen.«
»Draußen wird es gleich dramatisch. Sehen Sie lieber zu, dass Sie nach Hause kommen. Soll ich Sie über die Marsch bringen?«
»Über die Marsch? Da ist ja kaum noch Marsch. Und es sind nur ein paar Schritte, das geht schon. Danke.«
»In ihr wundervolles Haus«, sagte er. »Haben Sie eigentlich schon darüber nachgedacht?«
»Über das Gelbe Haus?«
»Wenn es Krieg gibt, werden Sie rausmüssen. Sie sind fast im Meer.«
»Das haben sie letztes Mal auch gesagt, und dann ist nichts passiert. Wir sind geblieben, wo wir waren.«
»Diesmal wird es anders.«
»Wird es Krieg geben, Father?«, fragte eine alte Dame.
»Ja«, sagte er, »es wird Krieg geben. Schon sehr bald.«
Wir standen zusammen auf der Veranda, der Priester und ich. Ich sagte: »Sehen Sie mal, ganz oben auf dem Schulturm. Sehen Sie das Teleskop? Als ich ein Kind war — so ungefähr zwölf —, habe ich das Teleskop auf dem Weg zur Kirche zum ersten Mal gesehen und es für einen Engel gehalten.«
»Hat man es Ihnen erklärt?«
»Ich habe es niemandem erzählt. Beziehungsweise nur der armen Charlotte. Dem Hausmädchen. Aber sehen Sie mal — es ist wieder da. Selwyn Benson hat es im Keller gefunden.«
»Es wird wieder in den Keller kommen, wenn der Krieg losgeht.«
Wir gingen zusammen über die Marsch. Er sagte: »Polly Flint. Wissen Sie noch, dass ich Sie einmal küssen wollte?«
»Bitte?«
»Ich war der Milchjunge. Der Gehilfe des Milchmanns. Ich wüsste gern mehr über Sie«, sagte er.
»Da gibt es nicht viel zu wissen.« Ich errötete lächerlicherweise und stolperte über meine eigenen Füße. (Mit über vierzig!)
»Sie leben allein, oder? Bis auf die Schüler. Keine Familie? Sie kommen nie zum Gottesdienst.«
»Ich glaube, das mache ich bald. Kommen Sie mich doch mal im Gelben Haus besuchen!«
»Sie sind ja immer woanders. Immer bei der Arbeit, habe ich gehört, in der Schule.«
»Na, es wurde Zeit zu arbeiten. Ich muss jetzt los. Ich muss noch Hefte korrigieren.« Ich streckte die Hand aus und legte sie ihm auf den Arm. Triumphierend.
»Es ist wirklich ganz schön heiß«, sagte er, und wieder errötete ich, als er mich ansah.
»Auf Wiedersehen, schöne Miss Flint.«
Und so ging ich nach Hause, nachdem ich schön genannt worden war, und musste mir die Tür aufschließen, denn an diesem Abend war es, und das war ungewöhnlich, ganz leer. Die Bewohner waren noch beim Spiel, und die Haushälterin hatte an diesem Samstag frei.
Ich mochte es, wenn das Haus leer war. Jetzt, wo das so selten vorkam. Ich ging durch Licht und Schatten der Eingangshalle mit den langen Reihen von Haken an der Wand und Kinderkleidern und Spinden und durcheinanderfliegenden Schuhen und dem Geruch nach Jungs, und in die Küche, um Teewasser aufzusetzen. Ich dachte an die vestalischen Jungfrauen, das Gesicht des sterbenden Jesus, das herrliche Glück in der Welt, das ich jetzt so klar sah, kurz vor dem neuen Krieg.
Ich dachte an den abgeschabten jungen Pfarrer und errötete schon wieder, diesmal ging es von meiner Taille aus und strömte durch meinen ganzen Körper, ich hielt inne und stand still und dachte: »Den Verdacht hatte ich ja schon. Wieder das Blut. Eine Unruhe im Blut.«
Nun gut, dann ist es vorbei. Keine Kinder. Tausend Jahre nach dem Sonntag mit dem Lammfell. Aber nur ein Moment. Das Erröten kam noch einmal.
Ich sah dem Wasser beim Kochen zu und dachte: »Es ist vorbei.«
Ich schnitt mir drei Scheiben Brot ab und aß sie mit etwas Butter. Ich dachte an die Whiskytage zurück, als Essen mir egal gewesen war. Ich ging zur Spüle, um mir die Butter von den Händen zu waschen, und sah aus dem Fenster, und draußen auf dem Hof stand Stanley und beobachtete mich.
Er war ganz klar umrissen und gut zu sehen.
Er trug die Kleider, die er getragen hatte, als ich ihn zuletzt sah, in der Woche, in der er starb.
Seine Hose war altmodisch und lang, sie ging über die Knie, und seine Krawatte — die ich schon ganz vergessen hatte — war ein Band mit gelben und grünen Streifen. Die Bleistifte waren da, das Lineal in der Socke. Seine Augen waren blau und wach und sehr klar. Er beobachtete mich schon seit einer Weile.
Dann war der Geist verschwunden.
Er verblasste nicht langsam. Als ich aufsah, war er da — eindeutig. Ein klar umrissener Junge. Dann war er weg, der Hof war leer.
Aber er hatte mir eine Art Auftrag gegeben. Eine Richtung, die unmöglich zu beschreiben gewesen wäre, und die vielleicht verlorengegangen wäre, wenn ich darüber nachgedacht hätte. Ich trocknete mir die Hände ab und legte das Handtuch neben die Spüle. Ohne ein Wort oder ein Luftholen oder einen weiteren Blick aus dem Fenster ging ich aus der Küche und zur Haustür.
Auf der Matte lagen zwei Briefe, die mit der Nachmittagspost gekommen waren, und ich hob sie auf. Auf einem war oben links ein rotes Kreuz, es schien eine Bitte um Spenden für jüdische Kinder zu sein, die aus Deutschland herausgeholt werden sollten. Massenversand. Das würde ich mir später ansehen. Aber seltsam, dass er an mich persönlich adressiert war. Miss Flint.
Dann wandte ich mich dem anderen Brief zu, brauchte aber meine Brille. Sie war im Arbeitszimmer, und dort setzte ich mich ins Fenster zwischen all den toten Akten und den staubigen Büchern, die ich nur noch selten in die Hand nahm.
Der zweite Brief kam aus Deutschland. Düsseldorf. Und er war von Theo Zeit.
Aber ich konnte ihn nicht lesen. Seine Handschrift, die schon immer so klein und seltsam gewesen war, war nicht entzifferbar. Ich konnte es zunächst nicht glauben — stand mit dem Brief auf, zog das Papier glatt, starrte darauf, hielt ihn mir dicht vor das Gesicht, schritt den Raum auf und ab und hielt ihn in jedes erdenkliche Licht.
Er war auf Deutsch geschrieben. Hier und da konnte ich eine Formulierung erkennen. »Fast fertig«, »verloren, keine Chance«, »plötzlicher Aufbruch«, »lange geplant«, »unaussprechlich«. Gegen Ende las ich, klar und deutlich: »Ich werde ihnen bald folgen«, und dann: »Meinen Segen, in Dankbarkeit und ewiger Liebe, Theo.«
Ich fand das stärkste Vergrößerungsglas des Hauses und legte den Brief in die letzten Sonnenstrahlen auf die Fensterbank, aber Theos feine und nervöse Handschrift war jetzt so klein, dass sie kaum mehr Gestalt hatte. Ich holte eine Taschenlampe und richtete sie auf das Papier, dann hielt ich den Brief ganz dicht unter die Schreibtischlampe. Es nutzte alles nichts.
Ich zog meine Jacke an, um zur Schule zu rennen, aber dann bremste ich mich. So wichtig sie mir auch war, ich konnte nicht mit Theo zu Alice gehen, damit sie mir lesen half. Stattdessen öffnete ich den anderen Brief.
Hepzibah und Rebecca Zeit, die Töchter von Dr. Theo Zeit aus Düsseldorf, würden mit dem Flüchtlingszug aus Düsseldorf am Montag, dem 8. Mai 1939 erwartet. Ihre Unterstützer — Cousins, die ein Jahr zuvor aus Deutschland geflohen waren — hätten so lange wie möglich gewartet, aber schlussendlich nach Amerika ausreisen müssen, wo sie arbeiten würden. Sie hätten kein Geld mehr. Dr. Zeit sei unter sehr schwierigen Umständen kontaktiert worden und habe den Namen Polly Flint in Oversands als Unterstützerin angegeben. Er werde den Kindern zusammen mit dem Rest der Familie so bald als möglich folgen. Er warte nur noch auf die letzten Dokumente. Man halte es für vernünftig, wenn die Kinder wie geplant und so schnell wie möglich ausreisten. Ihr Zug würde Düsseldorf am 7. Mai verlassen und mehrere Hundert jüdische Kinder mitbringen. Miss Flint möge bitte zur Liverpool Street Station in London kommen und die Kinder abholen und dieses Schreiben sofort beantworten und bestätigen, dass sie die Kinder finanziell unterstützen wird.
Dann ging ich hinaus, aber nicht zur Schule, sondern zur Esplanade. Und immer weiter, bis sie landeinwärts führte. Ich kam zu The Hall, wo ich den Postmeister vorfand. Seine Frau öffnete die Tür — sie war eine der Kirchendamen vom Nachmittag, und mir fiel ein, dass sie mich gefragt hatte, ob ich abends zu einem gemütlichen Beisammensein kommen wolle. »Na so was! Sie ist da!«, rief sie.
»Hast du Töne? Miss Flint ist da. Sie ist zum Singen gekommen. Kommen Sie rein, Miss Flint. Das Wasser kocht gerade.«
»Es ist wegen des Telefons«, sagte ich. »Ich brauche das Telefon. Sehr schnell. Könnten Sie einen Anruf für mich durchstellen?«
Sie wirkte so enttäuscht, dass ich sagte: »Danach komme ich natürlich sehr gern zu Ihrem gemütlichen Beisammensein.«
»Natürlich können Sie telefonieren. Dickie kümmert sich um die Nummer.«
»Es sind zwei Nummern. Eine in der Nähe von York, die andere in Deutschland.«
»Deutschland? Ich glaube nicht, dass wir das schon mal gemacht haben. Aber York kriegen wir hin. Dickie, wir haben doch schon mal nach York telefoniert?«
»Natürlich. Was haben wir denn hier? Setzen Sie sich, und dann wollen wir mal sehen. Also, Thwaite ist auf jeden Fall möglich — das ist eine Nummer in Pilmore Junction, die wird bei Trunks in York durchgeschaltet. Dauert vielleicht eine Stunde. Wegen Deutschland muss ich mich erst mal erkundigen. Ist das die Nummer?«
Theos Adresse und Telefonnummer waren auf das Briefpapier aufgedruckt. Der Postmeister ging.
Ich saß beim gemütlichen Beisammensein in seinem winzigen Wohnzimmer, Knie an Knie mit zwölf Leuten in üppig gepolsterten Sesseln und einem Sofa. Es war sehr heiß. In der Ecke saß die Tochter des Postmeisters, die nicht ganz richtig im Kopf war. Ihr Mund stand offen. Sie nickte und glotzte und versuchte, mich zu streicheln. Ihre Hände waren sehr kalt. Ein weiteres Mysterium dieses gespenstischen Tages.
»Wir haben gerade Lieder gesungen«, sagte die Postmeisterin, »Strophe um Strophe, das Gesangbuch durch. Wollen wir weitermachen, bis der Anruf durchkommt?« Jemand gab den Ton an, das verrückte Mädchen wurde noch aufgeregter, und zwei alte Männer begannen zu singen:
Old folk, young folk, everybody come
Join the donkey Sunday School and make yourselves at home.
… und ich dachte: »Das reicht.« Ich stand auf und ging zur Tür, wo plötzlich der Postmeister stand und mit leisem Stolz sagte, er habe Thwaite in der Leitung.
»Mr Thwaite? Hier ist Polly. Nein, alles in bester Ordnung. Glaube ich. Mr Thwaite — ich habe einen Brief bekommen. Ich soll Theo Zeits Kinder aufnehmen. Er hat mich darum gebeten. Dass sie bei mir wohnen. Ja. Sie kommen mit einem Zug voller jüdischer Flüchtlinge aus Düsseldorf in London an. Am 8. Mai.«
»Die Verbindungen sind recht einfach«, sagte Mr Thwaite. »Ich habe den Internationalen Zugfahrplan neben mir.«
»Mr Thwaite. Es wird natürlich absolut wundervoll sein, sie bei mir zu haben, aber …«
»Ich mochte den alten Zeit«, sagte das dünne Stimmchen, »es war schön, als er noch da war. Den Jungen mochte ich auch. Bisschen unentschlossen, aber ein guter Junge.«
»Es ist nur — Mr Thwaite — ich war noch nie in London.«
»Oh, ich komme mit.« Die Stimme erzitterte in der Gewitternacht. »Wir treffen uns in York. Nach York schaffst du es?«
»Sicher nicht. Ich meine, ja, natürlich schaffe ich es nach York. Aber Sie brauchen nicht …«
»Ich werde da sein. An dem Sonntag. Wir nehmen den Zug um elf Uhr dreiundvierzig von Bahnsteig 4, und das bedeutet, du fährst pünktlich um acht Uhr fünfundvierzig in der Marsch los, damit du den Anschluss in Darlington auf jeden Fall bekommst. Achtzehn Uhr fünfzig in King’s Cross, wenn ich mich recht erinnere. Ich kümmere mich um eine Unterkunft.«
»Mr Thwaite, Sie sind zu … Sie haben doch gar nicht mehr die Kraft.«
»Ich freue mich, mal wieder nach London zu kommen«, sagte das Stimmchen. »Das könnte sich demnächst dramatisch verändern.«
»Düsseldorf«, sagte der Postmeister, »ist allerdings eine andere Geschichte. Anrufe nach Deutschland sind im Moment nicht einfach. Ich habe Sie für morgen Vormittag vorgemerkt — gegen elf, vorläufig. Und ich fürchte, es wird teuer.«
»Das macht nichts. Jetzt bezahle ich erst mal für York. Kann ich morgen herkommen und hier warten?«
»So lange Sie möchten, Miss Flint.«
Das gemütliche Beisammensein beobachtete mich mit Argusaugen. »Wir können mit den Liedern weitermachen«, sagte jemand, »wenn Miss Flint möchte?«
»Es kommen ein paar jüdische Kinder aus Deutschland«, sagte ich. »Zu mir. Es ist ziemlich überraschend. Sie werden bei mir in Oversands wohnen. Sie sind Flüchtlinge.«
Sie hatten mein Gespräch im Hintergrund alle mitgehört, taten aber überrascht. »Je mehr, desto besser, je mehr, desto besser«, sagte die Postmeisterin, und ihre Tochter nickte. »Die armen Seelen, die armen, kleinen heimatlosen Dinger. Keiner von uns kann sich vorstellen, was dort los ist. Keiner von uns. Sie sind uns eine Lehre, Miss Flint. Sie spielen wohl nicht Harmonium?«
So beendete ich den Tag, an dem du mich gebraucht hast, mein Geliebter, indem ich das Harmonium spielte und Kirchenlieder sang, in der Straße, die über Delphis Stallungen und das Mausoleum aus alten Zeiten gewachsen war.
»Ich saß drei Tage im Hinterzimmer des Postamts«, erzählte ich Mr Thwaite und Maitland, als der Zug aus York ausfuhr, »aber ich bin nicht nach Deutschland durchgekommen.« Wir drei saßen in der ersten Klasse in blaugrauem Plüsch, die Köpfe an kleinen spitzenumrandeten Tüchern mit eingesticktem L. N. E. R. in Satin, aber irgendwie weniger gestärkt als die in dem Zug aus Wales, als ich sechs war. Mr Thwaites alte Don-Quichotte-Gestalt verlieh dem Abteil etwas Vornehmes. Niemand würde hier eine Fleischpastete zerteilen.
Maitland saß sehr aufrecht und in Schwarz da, einen glänzenden Strohhut auf dem Kopf, und daran war mit einer goldenen Nadel eine Feder befestigt. Mr Thwaite trug Knöpfstiefel und einen silbrigen Fischgrätmantel, ziemlich lang für einen so heißen Tag; seine hohe Melone lag auf der Ablage über seinem Kopf, und auf der kleineren Ablage darunter seine gelben Handschuhe und der Gehstock mit dem silbernen Knauf. Urlauber in Shorts und Tornistern sahen uns interessiert an, wenn sie auf dem Gang vorbeikamen. Ich sah vermutlich auch seltsam aus, denn ich habe Kleidung nie recht verstanden. Sie war irgendwie immer falsch. Aber meine Strümpfe waren aus Seide.
Mr Thwaite sah sich mit enormem Gleichmut um, und Maitlands Mund war fest gekräuselt, was ihre Bewegtheit verriet, und mit den Händen umklammerte sie eine Reisetasche auf ihrem Schoß.
Wir gingen zu Kaffee und Schokoladenkeksen in den Speisewagen; dann noch einmal zum Mittagessen und »einer Flasche Gutem«, der sich als Wein entpuppte. Wir aßen Roastbeef und Ingwerpudding mit Vanillesauce. Maitland sagte, in der Bahn gebe es immer guten Ingwerpudding und sie könne sich nicht erklären, wieso, denn Ingwer brauchte gut eine oder zwei Stunden zum Dämpfen. Die Vanillesauce fand sie passabel, auch wenn sie nur aufgekocht war. Aber wir dachten an die Kinder in dem anderen Zug, wie er immer wieder stehenblieb und weiterfuhr, langsam Richtung Holland.
Mr Thwaite betrachtete das Wetter über Selby, zeigte auf die Abtei und sagte, dass ein gedämpfter Bahn-Pudding, der in Doncaster gegessen wurde, in Edinburgh zubereitet worden sein konnte, wo der Zug losgefahren war. Und er fügte erfreut hinzu, dass wir zum Tea immer noch im Zug sitzen würden.
Wir tranken unseren Kaffee nach dem Mittagessen, eingeschenkt von einem Magier, der keinen Tropfen verkleckerte, während wir durch das flache Lincolnshire flogen. Stille Felder, stille Dörfer. »Sie müssten jetzt über die Grenze sein«, sagte Mr Thwaite. »Wenn sie pünktlich in Düsseldorf losgefahren sind.« Wir sahen die Gesichter der dortgebliebenen Eltern vor uns. »Jetzt sind sie in Holland in Sicherheit«, sagte er.
In den Feldern von Rutland spazierten Riesen aus Pappe umher. Maler und Tapezierer, die eine Leiter zwischen sich trugen, und auf der Leiter stand der Name einer Wandfarbe. »Miss Polly ist immer noch ein Kind«, sagte Maitland. »Sie guckt und guckt.«
Der Name sämtlicher Bahnhöfe schien Mazawattee Tea zu sein, oder Oxo-Bovril-Oxo, und manchmal sprang uns ein junges Mädchen in Gold und Rosa aus einer riesigen Schachtel entgegen, um sie herum waren große Getreidegarben gemalt, und zu ihren Füßen stand eine dampfende Tasse mit Untertasse. »Wie viele Getränke wir heutzutage zur Auswahl haben«, sagte Mr Thwaite. »Uns geht es wirklich gut.«
Die Landschaft glitt still vorbei, schneller und schneller. Newark war anonym, Peterborough unsichtbar. Zum Tea gab es Scones mit Marmelade, der Tee kam in Kannen mit Rosenknospen rund um den Deckel, die Tassen waren niedrig und breit wie Nachttöpfe. Sie saßen tief in den Untertassen, unerschütterlich an diesem schönen Nachmittag. Draußen aalte sich der milde und friedliche Süden, noch drei Monate. Hertfordshire: Kühe und große Bäume.
»Wie groß die Bäume hier sind, Mr Thwaite.«
»Ah, ja. Natürlich findest du die Bäume groß. Zu schade, dass du keinen südlichen Frühling erlebst. Ich würde mich freuen, wenn du mal einen Frühling in Italien erlebst, Polly.«
»Hoffentlich haben sie warme Kleidung dabei«, sagte Maitland. »Bei uns ist es ganz schön kalt im Winter.«
»Sie müssten jetzt gut durchkommen. Schon fast in Hoek van Holland«, sagte Mr Thwaite und sah auf seine silbergoldene Taschenuhr.
Acht wilde Tunnel. Wir kreischten hindurch, dann glitten wir in den donnernden und zischenden Bahnhof King’s Cross. Der Gepäckträger konnte uns nicht hören. Unsere Stimmen verloren sich in Echos in den hohen Bögen über uns, und ich verstand ihn nicht. Es klang wie eine Fremdsprache. Aber er organisierte uns ein breites Taxi, wie eine Kutsche oder ein Kinderwagen, in dem wir wieder in einer Reihe saßen und aus dem wir unter Verbeugungen ins Brown’s Hotel geleitet wurden.
Mr Thwaite ging schnell zu Bett, und auch Maitland und ich schliefen bald, und am nächsten Morgen um sieben saßen wir wieder in einem Taxi zum Zug aus Deutschland. »Wenn wir als erste da sind, kommen wir auch als erste wieder weg. Die armen Kleinen, sie werden so erschöpft sein.«
»Wir müssen vier Stunden warten«, sagte Mr Thwaite. »Von sieben bis elf. Und dann kommen sie erst an. Aber die Papiere zu unterschreiben — oder was auch immer wir da tun müssen, ich nehme an, da wird ein Schalter oder so etwas aufgebaut sein — kann ja nicht länger als, sagen wir, eine halbe Stunde dauern, dann können wir vielleicht noch heute Nachmittag einen Zug nach Hause bekommen.«
»Das wäre zu viel für Mr Thwaite, alles an einem Tag«, sagte Maitland.
»Nein, gar nicht. Überhaupt nicht.«
»Sollen wir unser Gepäck dann schon mit zum Bahnhof nehmen?«, fragte ich. »Und dann direkt von Liverpool Street Station aus fahren, um Zeit zu sparen?«
»Ich spreche mal mit dem Hoteldirektor«, sagte Mr Thwaite und berichtete, der Hoteldirektor habe gesagt, wir sollten unsere Zimmer vorsichtshalber für eine weitere Nacht reservieren und eins für die Gäste dazu.«
»Gäste?«
Plötzlich dämmerte mir, dass die Kinder, die wir abholen sollten, unsere Gäste sein würden. Menschen.
Kinder.
Verstörte Kinder, vielleicht kranke Kinder, und sicher unglücklich.
»Wir bringen sie so schnell wie möglich nach Hause«, sagte Maitland. »Dann sind sie um Mitternacht im Bett und haben die Reise hinter sich. Das ist für mein Gefühl das Beste. Heute noch nach Hause.«
Liverpool Street Station war um sieben Uhr morgens, als wir ankamen, ganz ruhig, und auf einer Tafel stand in Schönschrift, dass der Zug aus Düsseldorf vierundzwanzig Stunden Verspätung haben würde.
»Dann können wir ein bisschen was besichtigen«, sagte Maitland. »Polly war noch nie in London.« Aber wir zögerten mit dem Besichtigen, wir wagten es nicht, den Bahnhof zu verlassen.
»Was, wenn sie kommen, und wir sind nicht hier?«
Einige Juden standen in lautstarken Grüppchen herum. »Heute sicher nicht«, sagte ein Mann mit einem langen Rauschebart und einem runden, schwarzen Hut, der irgendwie lustig aussah. »Wir sollten alle nach Hause gehen.«
»Vielleicht sollten wir Polly wenigstens Westminster Abbey zeigen«, sagte Maitland, also nahmen wir ein Taxi zum Parliament Square, und um die Gebäude waren Festungsanlagen aus Sandsäcken aufgehäuft, auch um die Kirche herum. Innendrin wirkte sie staubig, gedämpft, enttäuschend. Eine große Menge Menschen betete. Alle still. Wir gingen ein Stückchen die Victoria Street hinunter und kamen an den eleganten Türen des Army and Navy Store vorbei. »Oh, da wollte Aunt Frances hin!«, sagte ich. »Um ihre Missionarssachen für Indien zu kaufen. Ob sie so etwas da immer noch verkaufen?«
»Im Moment vermutlich nicht viel. Aber wir könnten dort zu Mittag essen und danach gucken«, sagte Mr Thwaite.
Nach dem Essen gingen wir in die Abteilung für Missionarsausstattung, und sie war in der Tat ziemlich leer. Es gab eine ganze Festungsanlage von Schrankkoffern mit Messingbändern, einen Wolkenkratzer aus schweinsledernen Campinghockern, tigersichere Zelte, Wasserflaschen aus Chrom und Krokodilleder und glänzende Elefantentöter.
»Arme Frances«, sagte Mr Thwaite. »Elefantentöter. Sieht ihr überhaupt nicht ähnlich.« Er nahm einen Tropenhelm in die Hand, strich darüber und setzte ihn sich auf den Kopf. »So einen wollte ich immer gern haben«, sagte er und stand gertenschlank stramm.
»Zwölf Shilling und Sixpence, Sir«, sagte eine Verkäuferin.
»Ach — na ja …«
»Mr Thwaite«, sagte ich, »ich möchte Ihnen den Tropenhelm gern schenken.«
»Ich denke nicht, dass ich ihn viel tragen würde. Das ist Geldverschwendung. In Yorkshire. In Anbetracht des kommenden Krieges.«
»Sie sollen ihn trotzdem haben«, sagte ich.
Als die Verkäuferin den Hut einpacken lassen ging, sagte Mr Thwaite etwas Erschreckendes.
»Also, Thwaite wartet schon«, sagte er.
»Bitte? Sie können jetzt nicht nach Thwaite zurück. Nicht jetzt. Sie können unmöglich allein reisen — und Maitland und ich kommen ohne Sie nicht zurecht. Sie müssen sichtbar sein. Für die Taxifahrer und so weiter. Wir brauchen Sie, um die Kinder nach Hause zu bekommen.«
»Nein, nein«, sagte er und räusperte sich so laut, dass die Safariwaffen klirrten. »Ich, ähm … hm … werde, Thwaite … lassen.«
»Thwaite lassen? Sie wollen gar nicht dorthin zurück?«
»Nein«, sagte er. »Ich … ähm, was ich zu sagen versuche, Polly, ist … Thwaite wartet. Ich habe mein Testament bereits gemacht. Thwaite wartet auf dich. Wenn ich sterbe. Du bekommst es.«
»Benötigen Sie sonst noch etwas?«, fragte die Verkäuferin, als sie mit der Hutschachtel kam.
Am nächsten Morgen waren wir wieder um sieben Uhr an der Liverpool Street Station, und wieder war kein Zug da. Die Tafel war saubergewischt.
Und niemand da, den man hätte fragen können. Keine jüdischen Verwandten. Niemand. Offenbar hatte es eine wichtige Ankündigung gegeben, als wir am Tag zuvor im Army and Navy Store gewesen waren. Wir gingen die Moorgate entlang und die City Road und die London Wall und sahen uns die Bank of England an, auf und ab. »Wie ertragen die das?«, fragte Maitland. »Den ganzen Lärm? Gucken Sie sich mal die bleichen Gesichter an. Und warum rennen die alle so? Es tut mir leid, Miss Polly, ich muss mich hinsetzen.«
»Oh, ja. Ich auch.«
»Ich dachte, wir können uns noch ein paar Kirchen ansehen«, sagte Mr Thwaite, der im Laufe der Tage immer kräftiger wurde, während wir immer schwächer wurden. »Und das Mansion House und Smithfield Market. Ach, und es gibt einige großartige Bahnhöfe, glaube ich. Zum Beispiel wird keiner von uns jemals Fenchurch Street sehen, wenn wir es nicht jetzt tun.«
»Nun, du kannst es dir ja alles angucken, aber dann allein«, sagte die gebieterische Maitland, die mir am Abend zuvor im Hotel gestanden hatte, dass sie und Mr Thwaite sich nach dem Tod des Butlers und Lady Celias nähergekommen waren. »Miss Polly und ich brauchen eine Tasse Kaffee.«
»Oder Bovril, Oxo, Ovomaltine oder gar Mazawattee-Tee«, sagte ich.
»Vielleicht einen Sherry«, sagte Mr Thwaite, »falls wir Polly von ihrer absoluten Enthaltsamkeit abbringen können.«
»Nein, danke. Also, es ist wirklich schrecklich hier. Maitland hat recht. Wie wir uns hier anschreien, bei dem Verkehr! Lassen Sie uns noch einmal nachsehen, ob es Neuigkeiten gibt, und wenn nicht, dann können wir in einen Park fahren oder den Fluss angucken.«
»Es ist der Fluss in den Wiesen von Thwaite, auf den ich mich freue«, sagte Maitland. »Falls wir es je dorthin zurückschaffen. Im Moment kommt es mir vor, als würden wir für den Rest unseres Lebens in Liverpool Street festsitzen.«
Aber am Bahnhof war jetzt alles anders. Menschenmengen schoben sich herum, riefen, schubsten einander, bekamen Erkennungsmarken; und in null Komma nichts waren wir mittendrin und wurden auf eine Art Galerie des Bahnhofsgebäudes geschickt. Unter uns strömten Kinder herein, zusammen mit Damen vom Roten Kreuz. Dazwischen rannten wild aussehende Bahnangestellte und Regierungsbeamte herum, die Arme voller Akten, und die Luft war salzig und sauer vom Geruch verschmutzter und schwitzender Kinder, Englisch und Deutsch flogen durcheinander, es wurde gestritten und geweint. Die Kinder strömten langsam und unaufhörlich unter uns in die Halle, als würde diese Flut nie mehr nachlassen.
Wir setzten uns in eine Reihe, und Mr Thwaite nickte ein. Maitland und ich waren jetzt hellwach. »Er ist alt«, sagte Maitland. »Er ist jetzt wirklich alt. Manchmal übermannt ihn urplötzlich die Müdigkeit. Er ist über achtzig. Das vergisst man leicht.«
»Für mich ist er irgendwie alterslos.«
»Und er hinterlässt Ihnen Thwaite«, sagte sie und richtete den Blick auf das Durcheinander der Welt unter uns.
»Oh, Maitland, habe ich das nicht geträumt? Tut er das wirklich?«
»Ja. Ich wusste es schon. Er hat darüber gesprochen. Immerhin ist er Ihr Großvater, Polly.«
Die Familie neben uns wurde aufgerufen von einer grimmigen Rotkreuzlerin mit einer eleganten Dauerwelle, und sie stürmten an uns vorbei und traten uns auf die Füße.
»Wie bitte?«
»Ihr Großvater natürlich.«
»Sie meinen …«
»Emma — Ihre Mutter — war seine Tochter.«
»Aber wie kann … Maitland! Sie meinen Aunt Frances?«
»Nein, nein. Mr Thwaite hat sich nie besonders für Frances interessiert, außer als Schwester. Er hat Miss Younghusband geliebt, Ihre Aunt Mary. Sie muss in jungen Jahren eine umwerfende Schönheit gewesen sein. Habe ich gehört.«
»Aber Sie meinen doch nicht …« Die Welt kippte und wirbelte herum wie die wiedervereinten Familien um uns. »Aunt Mary!«
»Nein, auch Mary war nicht Ihre Großmutter, auch wenn sie alt genug gewesen wäre, zwanzig Jahre älter als Ihre Mutter. Mary wollte ihn heiraten, aber dann hat er sich unglücklicherweise — oder glücklicherweise, denn das Ergebnis waren Sie — in ihre Mutter verliebt.«
»Was, in die … die Matrone? Großmutter Younghusband? Die, der Fanny Hill gehört hat?«
»Von einer Fanny Hill weiß ich nichts. Ich glaube nicht, dass sie noch weitere Kinder hatte, auch wenn, was man so hört, der Erzdiakon es womöglich gar nicht bemerkt hätte.«
»Aber das kann nicht sein. Das kann sie nicht! Mr Thwaite muss noch so jung gewesen sein. Und meine Großmutter so alt.«
»Er war zwanzig. Sie vierzig. Habe ich gehört.«
»Das ist ja schrecklich.«
»Ein bisschen seltsam vielleicht«, sagte Maitland. »Aber das Leben in viktorianischer Zeit war voller Überraschungen. Und der Erzdiakon war geradezu besessen von Steinen — und Gott natürlich. Ich glaube, ich gehe noch mal kurz raus in die Halle und hole ein paar Sandwiches.«
Ich saß da und betrachtete Mr Thwaite. Mr Thwaite mit zwanzig, Liebhaber der kriegerischen Mutter von Aunt Mary, der eisigen Jungfrau. Ich dachte an Aunt Mary im Taxi auf dem Weg zu Aunt Frances’ Hochzeit, wie ihr Gesicht unter dem herrlichen, uralten Hut immer weißer wurde. Und wie Mr Thwaite sich die ganze Zeit räusperte und in den Regen hinaussah. Wie sich all diese Spannung immer weiter aufbaute und ich schließlich in Tränen ausbrach. Und wie ich gar nicht mehr hatte aufhören können zu weinen, weil diese schreckliche Verwirrung in der Luft lag.
Der arme Mr Thwaite — in einem erotischen Durcheinander meine Mutter zu zeugen. (Ich betrachtete sein Gesicht, eine längliche, braune Landkarte, die Augen in ihren tiefen Höhlen geschlossen, genau wie … Ja, genau, wie auf dem Foto meiner Mutter in den Pappbergen mit dem Knick in der Mitte, todmüde in Liverpool.) Hatte er sie geliebt — seine Tochter? Hatte er sie überhaupt gesehen? Er musste sicher, ziemlich kurz nachdem es passiert war, aufgehört haben, ins Gelbe Haus zu kommen. Ohne jede Erklärung für Aunt Mary.
Ich meine, wie hätte er es ihr erklären sollen? Wie sollte er einem Mädchen, das er heiraten wollte, erklären, dass er ihre Mutter geschwängert hatte? Das war ja wie bei den Borgia!
Arme Aunt Mary. Ihre Löffel und ihr Gebetsschemel.
Und was für ein furchterregender, furchterregender Mann, dieser Arthur Thwaite. Was für ein Halunke. Und doch — nein, nein.
Und was für eine Großmutter ich hatte! Was für eine schreckliche Frau. Aber dann — die Einsamkeit, der Ehemann, der still Seiten umblätterte und fromme Lieder sang, während er ins Meer sprang. Wie er Steine anstarrte. Die arme Frau.
So vieles, was man nie wissen würde.
Und dann dauernd die Kirche!
Mr Thwaite rührte sich, wachte auf und sah mich mit seinen blauen Augen an — Himmel, meine eigenen Augen — und lächelte.
»Immer noch nichts?«
»Nein. Maitland ist Sandwiches holen gegangen. Es geht alles entsetzlich langsam.«
»Ich nicke einfach noch einmal weg«, sagte Mr Thwaite und machte die Augen wieder zu.
Ich konnte nicht aufhören, ihn anzusehen, wie er einfach wieder einschlief, seine Hände (Oh Gott! Mein Daumen!) auf dem silbernen Knauf seines Gehstocks verschränkt.
O Himmel — Männer!
Was für Männer ich gekannt hatte. Vorsichtig, unangemessen, schemenhaft, habgierig, langweilig. Vielleicht hatte ich einfach Pech gehabt. Mr Thwaite hingegen war bei keiner Gelegenheit irgendetwas davon gewesen. Meine Großmutter hatte sich in einer erstaunlichen Nacht (oder öfter? Vielleicht dutzende Male? Vielleicht nicht mal bei Nacht?) bei mindestens einer erstaunlichen Gelegenheit in einem verlassenen Bett in Thwaite oder dem Gelben Haus oder womöglich in Danby Wiske — mit quietschenden Bettfedern und ächzenden Daunen — oh Gott! — einem herrlich unvorsichtigen Mann hingegeben.
»Eier und Kresse«, sagte Maitland. »Er ist wieder eingeschlafen. Habe ich Sie schockiert, Polly? Hätten Sie es lieber nicht gewusst?«
»Nein, nein, natürlich nicht. Hat — was hat Lady Celia gewusst?«
»Alles natürlich. Sie und Mr Thwaite standen sich sehr nah. Immer.«
»Sie haben gesagt …« Ich sah das Eier-Kresse-Sandwich an, die hochgebogenen, angetrockneten Ränder des Bahnbrots. »Sie haben gesagt, Sie und Mr Thwaite stehen sich auch nahe?«
»Oh, ja.«
»Er hatte immer … Erfolg bei den Frauen, oder? Ich meine, ich habe ihn als Mädchen vergöttert. Interessant, dass es solche Männer gibt. Normalerweise gibt es die nur in Romanen.«
»Oh, sehr viel Erfolg«, sagte Maitland zufrieden. »Er hat immer sehr intensiv gelebt. Diese Künstlerboheme in Thwaite fand er immer ein bisschen wischiwaschi.«
Wir saßen in unseren Reihen auf der Galerie. Die Namen der Kinder wurden ausgerufen, ach, so unglaublich langsam; die Kinder in dem Gewirr unter uns wurden weniger, so unglaublich langsam — plappernde Kinder, müde Kinder, ganz kleine Kinder — fast noch Babys — verstummte, graue Kinder, starke, kämpfende Kinder und Kinder, die älter aussahen als Abraham. Alle waren wunderschön angezogen, in Kleidern, die viel zu warm für das Wetter waren und ein wenig zu groß. Jedes hatte ein großes Gepäckschild um den Hals. Manche hatten Päckchen dabei, manche Puppen und Teddybären, manche kuschelten sich auf den Bänken aneinander und lutschten am Daumen. Im Laufe der Zeit schliefen einige ein.
Um vier Uhr nachmittags waren unter uns immer noch etwa sechzig Kinder übrig. Die Bänke mit den Angehörigen um uns herum leerten sich. Man hatte uns Tee und etwas zu essen gebracht. Ich aß und trank nichts. Ich schaute. Zwei dieser Kinder waren meine? Welche, welche, welche?
»Warum sind wir immer noch übrig? Sind sie nicht dabei? Ich kann nicht richtig sehen. Jetzt stehen sie alle mit dem Rücken zu uns.«
»Es geht alphabetisch«, sagte Mr Thwaite beim Aufwachen aus seinem letzten Nickerchen. »Wir kommen erst ganz am Ende.«
»Viele jüdische Namen fangen mit Z an«, sagte Maitland. »Dann hoffen wir mal, dass Pollys wenigstens am Anfang von Z sind.«
Aber das waren sie nicht. Gegen sechs Uhr waren von der großen Kinderschar nur noch ein paar Reste übrig, aber unsere waren immer noch nicht aufgerufen worden.
Welche, welche, welche?
Theos Kinder. Theos und meine.
Sieben Uhr. Es war nur noch ein halbes Dutzend übrig, und das halbe Dutzend sah nicht sehr besonders aus. Mindestens sechsmal fing mein Herz an zu klopfen, wenn ich dachte, ich hätte Theos Kopfbewegung wiedererkannt, Theos Lächeln — oder Rebeccas rotes Haar, die langen Beine. Diese letzten Kinder waren sehr still und blass auf den Bänken zusammengesackt, und ich sagte mir, um einer Enttäuschung vorzubeugen: Vielleicht sind meine unversöhnlich, mürrisch, übellaunig. Wenn man bedenkt, was ihnen widerfahren ist. Oder schlimmer — ich versuchte, rational zu sein —, sie könnten aussehen oder sein wie Delphi Vipont. Die Delphi, die mich vierzig Jahre zuvor angesehen hatte und die ich angesehen hatte, und unsere wechselseitige Abneigung hatte sich in uns beiden festgebissen.
Und wenn zwei Delphis auf mich warteten?
»Zeit? Flint?«, sagte die Frau vom Roten Kreuz mir ins Ohr, und ich ging allein hinunter in die Halle und sah zwei dünne Mädchen neben dem Tisch stehen. Eine hatte Locken, die andere glattes Haar. Sie hatten den hölzernen Gesichtsausdruck von Menschen, die hoffnungslos erschöpft waren, aber nicht weinen wollten. Das größere Mädchen klammerte sich an einem Buch fest, den Finger an der Stelle, an der sie unterbrochen worden war, als sie zu mir gerufen wurden. Das kleine hatte eine Puppe dabei, einen Bären, ein Porzellanpferd und einen schlappohrigen Hasen, und sie hatte Theos Augen.
In York verabschiedeten wir uns von Maitland und Mr Thwaite. Maitland war besorgt und wollte uns gar nicht allein lassen, und Mr Thwaite war sichtlich erleichtert, dass alles erledigt war. Hinter ihm kümmerte sich ein Gepäckträger um das Gepäck und die Hutschachtel.
Ich war vollkommen zuversichtlich, plauderte auf Deutsch daher und war so entspannt, als würde ich jede Woche nach London fahren.
Hepzibah, Rebecca und ich.
In Darlington stiegen wir um in den kleinen Zug, der durch die Eisenhütten und dann hinaus in die Marsch fuhr — oder dahin, wo einmal die Marsch gewesen war. Die großen Flammen und Rauchwolken stiegen immer noch von dort auf, wo das Eisen verhüttet wurde, dieselben langen Krokodile aus Lastwagen fuhren umher, lange Pfützen zogen sich durch den Schlamm, lange, klirrende Rohre und grobe, alte Maschinen bestimmten das Bild, und auf den Hügeln gegenüber wuchsen die Wälder immer noch so spärlich, dass das Licht durch sie schien wie durch Strickmaschen, wenn man die Nadel herauszieht.
Aber die Marsch war inzwischen fast unsichtbar. So klein.
Es war Nachmittag — der Nachmittag des nächsten Tages, und natürlich hatte es, als wir uns dem Gelben Haus näherten, angefangen zu regnen. »Ich habe mir so gewünscht, dass ihr es im Sonnenschein seht«, sagte ich. »Sieh mal, Hepzibah — guck mal aus dem Fenster, auch wenn es grau ist. Da hat euer Daddy gewohnt. Leg doch mal für zehn Sekunden das Buch beiseite.«
»Oh, hübsch«, sagte Hepzibah und sah das Neue Haus an, als der Zug daran vorbeiratterte. »Was ist denn das da oben auf dem Dach?«, dann wandte sie sich wieder ihrem Buch zu — das, soweit ich es sehen konnte, Schund war.
»Ein Teleskop.«
»Sie machen irgendwas damit«, sagte Beccy.
»Es hat eurem Vater gehört. Ich fürchte, sie montieren es ab. Das machen sie immer. Es ist wegen …«
»Dem Krieg«, sagte Beccy und guckte den Hasen mit den Schlappohren an.
»Daddy kommt auch her«, sagte Hepzibah fest. Beccy legte den Kopf an meine Seite.
»Es ist ganz nah«, sagte ich, als wir am Bahnhof ankamen. »Wir können zu Fuß gehen, wenn ihr wollt. Mr Boagey bringt uns das Gepäck später nach. Wie findet ihr das?«
»Ich lasse meine Sachen nicht allein«, sagte Hepzibah. »Ohne meine Sachen gehe ich nirgendwohin.« Sie war dreizehn. Es würde problematisch werden.
»Ich bleibe bei Tante Polly«, sagte Beccy. »Du kannst ja mit dem Gepäck im Taxi fahren, Hep.«
So kamen Beccy und ich über die geteerte Straße und über das letzte bisschen Marsch zum Gelben Haus.
»Ist das unseres?«, fragte sie.
»Ja. Unseres. Es ist ein lustiges altes Haus.«
»Es ist wunderschön«, sagte sie. »Wie ein großes Schiff.«
Und so wehten wir durch die große Eingangstür hinein, die Alice uns aufhielt. Hepzibah und das Gepäck warteten schon in der Halle. Die Tür schlug zu, und das Meer toste, die Fenster zitterten, und wir waren alle in Sicherheit und zu Hause.