Zurück ohne Lisa

8. September – 26. Oktober 2011

»Ich verstehe einfach nicht, wie das passieren konnte!« Die Frau mit der Wespentaille und den blondierten Haaren, der ihre siebzig Jahre nicht anzusehen waren, nippte an einem Cocktail. »Es kann doch nicht so schwer sein, auf ein vierjähriges Kind aufzupassen! Als mein Friedrich in dem Alter war, ist er mir auch nicht verlorengegangen! Und der war weiß Gott ein lebhaftes Kind.«

»Frag mich nicht!« Oma Betty unterstrich ihre Worte mit einer theatralischen Handbewegung und stieß dabei gegen ihre Sonnenbrille, die prompt ein paar Zentimeter tiefer rutschte. So hastig, als würden ein paar Sekunden Spätsommersonne ihr das Augenlicht kosten, schob sie sie wieder nach oben. »Angeblich haben sie beide geschlafen … ausgelaugt vom Job. Es war ja erst der zweite Urlaubstag.«

»Eben deshalb sind wir nie ohne Kindermädchen verreist!« Die dritte in der Damenrunde meldete sich mit dunkler Stimme zu Wort. Sie verbarg ihr Haar unter einem orangefarbenen Turban, der Ton in Ton zu ihrem gemusterten Sommerkleid passte. »Das war teuer und teilweise auch sehr ärgerlich, diesen jungen Dingern Reisen zu ermöglichen, die sie im Grunde gar nicht zu schätzen wussten, aber zumindest hatten wir das Problem mit den Kindern gelöst. Im Urlaub will man sich schließlich erholen und etwas erleben, nicht die ganze Zeit hinter dem Nachwuchs herrennen!«

Die beiden anderen Damen nickten zustimmend.

Etwas abseits der illustren Runde, die sich auf der Terrasse versammelt hatte, saß ich unter einem Apfelbaum auf einer Strohmatte im Gras und hoffte, dass die Zeit verstrich. Am Wochenende und damit quasi pünktlich zum Schulanfang würde zumindest mein Vater aus Griechenland zurückkehren und mich aus Oma Bettys Fängen retten. Eva wollte noch in Kreta bleiben. Sie hoffte anscheinend immer noch, dass ihre Anwesenheit dazu beitrug, der griechischen Polizei Beine zu machen.

Sie werde nicht gehen, ehe sie Lisa gefunden haben, hatte sie mir erst vor zwei Tagen am Telefon versichert und die Hoffnungslosigkeit nur noch vergrößert. Dass ich meine Schwester nicht mehr hatte, war schlimm genug. Ein Zuhause ohne Eva aber war die Katastrophe. Sie war immer in meiner Nähe gewesen.

Papa blieb den ganzen Tag weg, manchmal auch über Nacht. Wer würde sich nun um mich kümmern, für mich da sein, wenn ich aus der Schule kam? Ada, unsere Haushälterin, war nett, aber definitiv kein Ersatz.

Ich wünschte mir so sehr, dass Lisa gesund und munter gefunden würde! Darüber hinaus wollte ich nur eines: weg von Oma Betty.

Seit meiner Ankunft in Deutschland gab sie beinahe jeden Tag Audienzen für ihre Freundinnen – allesamt alt, reich und affig. Ihnen schilderte sie stundenlang und haarklein, wie ich Lisa auf dem Weg vom Strand zum Hotel »einfach verloren« hatte. Die Reaktionen waren immer dieselben: Unverständnis, warum ich sie nicht an der Hand genommen hatte. Entsetzen, weil ich so auf mich konzentriert gewesen war. Sensationslust.

»Man will sich gar nicht ausmalen, was der Kleinen jetzt passiert!«, stieß die Blondierte hervor, und ich las trotz der Entfernung in ihren Augen, dass sie sich im Moment genau das vorstellte. »Wenn sie überhaupt noch am Leben ist!«

»Ich habe da nicht allzu viel Hoffnung«, gab Oma Betty zu. »Man weiß ja, wie das läuft: So ein Perverser schnappt sich das Kind, missbraucht es und bringt es dann um, damit es nichts verraten kann. – Aber Eva klammert sich mit aller Gewalt an den letzten Strohhalm. So war sie leider schon immer: im Prinzip klug, in Lebensdingen leider sehr naiv. Sie will nur die schönen Seiten sehen.«

»Ich verstehe das noch immer nicht.« Die mit dem Turban ergriff wieder das Wort. »Dass sie kein Kindermädchen engagiert haben! – Es kann doch nicht am Geld liegen? Die Eva wird doch für diese Promi-Sendung ein nettes Gehalt kriegen, oder nicht?«

»Ach, so besonders üppig ist ihr Einkommen meines Wissens nach nicht«, erwiderte Oma Betty. »Ich habe sie ja damals davor gewarnt, sich auf diese Boulevard-Schiene einzulassen. Bei einem Privatsender! Es weiß doch jeder, dass die nur nach Quote zahlen – und dann eine Nachmittagssendung! Außerdem ist Eva dafür viel zu seriös. Das war sie schon als Kind. Das hat sie von ihrem Vater. Der war auch nicht sonderlich unterhaltsam.«

»Da muss ich dir leider recht geben.« Die Blondierte stellte ihr Cocktailglas auf den Tisch. »Sie kommt wirklich … nun ja, sehr emotionslos rüber. Selbst bei ihrem Auftritt jetzt, wo sie sich an den Entführer wandte. Sie wirkte so unberührt, so sachlich!«

Ich dachte an die Unterhaltung zwischen Margarete Stretenfeld und ihrem Kollegen.

Humorbefreit. Nüchtern. Ein paar Tränen würden sie glaubwürdiger machen.

Auch heute empfand ich das Urteil, dass über Eva gefällt wurde, vollkommen ungerecht. Ich kannte sie schließlich anders: Wie lustig und lebendig sie war, wenn sie Gute-Nacht-Geschichten erzählte. Oder wie sie uns sonntags mit frischgebackenen Scones und einem liebevollen Kuss aufweckte.

»Sie bewahrt eben Contenance!«, widersprach Oma Betty. »Kopf hoch, auch wenn der Hals dreckig ist – das hat schon mein Vater, der General, immer gepredigt!«

Eine Weile schwiegen sie und hingen ihren eigenen Gedanken nach.

»Noch Nachschub?«, fragte Oma Betty dann plötzlich. Die Freundinnen begriffen eher als ich, dass sie auf die leeren Cocktailgläser anspielte. Ihre knochige Hand, an deren Fingern wie immer üppige Ringe steckten, griff nach einer kleinen silbernen Glocke. Die Haushälterin erschien im Rock und Schürze.

Ich wusste, dass sie Maya hieß und irgendwo aus Osteuropa stammte. Ihr Deutsch war nicht sehr gut, und ich ahnte, dass sie nur drei, vier Monate bleiben würde. Länger hatte es bisher keines der Mädchen bei meiner Oma ausgehalten.

»Nochmal dasselbe, bitte. Und diesmal weniger Saft und mehr Rum. Wir sind hier nicht auf einem Kindergeburtstag!«

Maya knickste artig, ehe sie wieder im Haus verschwand.

»Eva hat den Job bei diesem Promi-Magazin nur angenommen, weil sie dann noch Zeit hat für die Kinder.« Oma Betty redete sich anscheinend warm. »Zwei, drei Tage die Woche – mehr ist sie damit nicht beschäftigt. Erst wollte sie unbedingt Karriere machen, aber nach dieser Sache mit Esther …« Oma Betty seufzte. »Ich werde nie verstehen, wie man sich so für eine Studienkollegin aufopfern kann! Sie hat sogar das Angebot als Chefin vom Dienst beim ZDF in Mainz ausgeschlagen! Für ein politisches Magazin hätte sie da arbeiten können – das wollte sie ja immer! Aber dann ließ sie alles schleifen, erst wegen Esther und dann wegen deren Tochter.«

Oma hatte anscheinend vergessen, dass ich ganz in der Nähe in der Wiese saß und alles mithörte. Vielleicht war es ihr aber auch egal, dass ich ihre Worte aufsaugte wie ein Schwamm. Dass Eva wegen meiner Mutter und mir auf eine tolle Karriere verzichtet hatte, hörte ich zum ersten Mal.

»Vielleicht wollte sie sich vor allem um Dieter kümmern?«, wandte der Turban mit einem vielsagenden Lächeln ein.

»Ach, Dieter war ja völlig überfordert mit dem Kind!« Oma Betty griff nach ihrer Schachtel Zigaretten und zündete sich eine an. Maya servierte die Cocktails, was Oma Betty aber nicht daran hinderte, weiterzureden. »Genauso, wie er überfordert war mit seiner Frau. Als Krankenpfleger wollte der sich nie betätigen. Der überließ alles meiner Eva und vertiefte sich lieber in seine Promotion. Wenn ihr mich fragt – Eva hat in dieser Beziehung von vorne bis hinten nur draufgezahlt!« Sie blies eine helle Rauchwolke in die Luft und griff nach ihrem Cocktail.

»Das klingt ja schrecklich«, sagte die Blondierte. »So viele Opfer – und dann für nichts! Ich meine, jetzt hat sie nicht einmal mehr das eigene Kind als Entschädigung!«

Oma Betty nickte. Zu mehr war sie nicht in der Lage, da sie ausgiebig an ihrem Strohhalm saugte.

»Das mit der Kleinen ist wirklich tragisch«, sagte die Turbanfrau schließlich. »Die werden sich zwar noch lange Vorwürfe machen, dass sie kein Kindermädchen engagiert haben. – Aber schlimme Dinge passieren. Und irgendwann kommt man auch darüber hinweg. Krisen sind doch auch immer ein Neuanfang. Jetzt kann Eva sich wieder ihrer Karriere widmen.«

Mir schwirrte der Kopf. Dass diese Frauen hier Cocktails tranken und über die vergeigte Karriere meiner Stiefmutter diskutierten, während wir Angst um meine kleine Schwester hatten, war zu viel. Ich wollte schreien, wollte einfach nur weg, wollte, dass mein Vater endlich kam und mich von Oma Betty wegholte.

Um nicht mehr Dinge zu hören, die ich gar nicht erfahren wollte, stand ich auf. Meine Beine waren taub von der langen Sitzerei, und es dauerte, bis ich einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Unauffällig zum Seeufer verschwinden ging nicht.

»Lea. Wenn du etwas zu essen willst, dann sagst du Maya Bescheid, ja? – Mit mir musst du heute nicht rechnen; ich habe meinen Safttag!« Oma Betty war nun doch wieder eingefallen, dass es mich auch noch gab.

»Okay. Danke.«

Ich hatte genauso viel Hunger wie Oma Betty einen Safttag. Mit kribbelnden Beinen setzte ich meinen Weg durch den Garten fort. Zu langsam – denn ich hörte sie noch deutlich sagen: »Dieters Tochter ist auch so ein Problemfall. Eine Schönheit wird sie mit dieser Nase nie. Eva behauptet, sie wäre zumindest intelligent – aber ehrlich, mir kommt sie seltsam vor. Wenn sie überhaupt mit jemanden spricht, zieht sie den Kopf ein wie ein geprügelter Hund. Bei der ist gehörig was schiefgelaufen! Dass Eva dem Mädel überhaupt zugetraut hat, auch nur fünf Minuten auf die Kleine aufzupassen, ist einfach nur unglaublich!«

Bis es dunkel wurde, saß ich am See und wünschte, ich könnte nicht schwimmen. Mich einfach ins Wasser stürzen und untergehen.

*

Am ersten Schultag nach den Sommerferien lehnte ich an einer der gelben Säulen der Schulaula, bemüht, das Stimmengewirr um mich herum auszublenden und mich auf das zu konzentrieren, was Nicki und Tina zu sagen hatten. Meine besten Freundinnen waren braun gebrannt und vergnügt aus dem Urlaub zurückgekehrt – und was noch schlimmer war: Sie sahen überhaupt nicht mehr aus wie die Mädchen, von denen ich mich vor Ferienbeginn verabschiedet hatte.

Nicki war ein ganzes Stück gewachsen und überragte mich jetzt um einen halben Kopf. Sie hatte ihr langes braunes Haar durchstufen lassen und trug nun einen Pony, der die hohe Stirn kaschierte und die dichten Augenbrauen, über die sie sich immer beklagt hatte, vorteilhaft verbarg. Statt Jeans und Pulli, unserer üblichen Schulkleidung, trug sie einen braunen Lederrock, dessen Saum zwei Hand breit über dem Knie endete, und ein eng anliegendes dunkelrotes Shirt.

Noch mehr verwandelt hatte sich allerdings Tina. Wäre ich ihr auf der Straße begegnet, hätte ich sie vermutlich kaum erkannt. Mit roten Strähnen im Haar und Nasenpiercing – auch eine Neuerung – wirkte sie richtig rebellisch, was dunkler Kajal um die Augen noch unterstrich. Die Jeans waren an den Knien zerrissen. Ihr Oberteil sah aus, als hätte sie es in letzter Sekunde aus dem Reißwolf gezerrt. Es wurde mit übergroßen, bunten Sicherheitsnadeln zusammengehalten.

Nicki und Tina waren über den Sommer coole Jugendliche geworden, während ich noch immer aussah wie ein unterentwickeltes Kind, das sich wie hundert fühlte.

»… Polizei nicht gründlich genug gesucht?«

Tina drang erst mit einiger Verzögerung zu mir durch. Ich hob hilflos die Schultern. Mir fehlte die Kraft, das, was sich in den vergangenen Wochen ereignet hatte, noch einmal in allen Details zu berichten. Noch vor der ersten Schulstunde, als wir uns in der Sportumkleide trafen, hatten die beiden mich mit Fragen durchlöchert – wobei sie aus den Medienberichten über Lisas Verschwinden sowieso bestens im Bilde waren.

»Ich bin sicher, dass sie bald auftaucht«, sagte Nicki und strich mir tröstend über den Arm. »Du darfst nur nicht den Glauben daran verlieren!«

Wieder erwiderte ich nichts. Wie sollte ich ihnen auch erklären, was in mir vorging? – Ich hatte keine Worte für die Leere, die in mir herrschte, seit Papa ohne Lisa und Eva, aber mit sorgenzerfurchtem Gesicht aus Kreta zurückgekehrt war.

Nicki erzählte von irgendeinem Mädchen, das vor Kurzem aus jahrelanger Gefangenschaft befreit worden war. Zweifelsohne wollte sie mir Hoffnung machen, erreichte aber das Gegenteil. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie das Leben nach so langer Zeit des Missbrauchs durch einen perversen Triebtäter sein konnte. Wenn Lisa so wiederkäme, würde niemand von uns je wieder glücklich, am allerwenigsten sie selbst. Wäre es da nicht besser, sie wäre tot?

Die Frage in den Raum zu stellen wagte ich nicht. Ich behielt sie für mich und untermauerte damit mein Image als die komische Introvertierte, die ich ja auch war. Erst als der Gong das Ende der Pause ankündigte, fiel mir auf, dass Nicki und Tina überhaupt nichts von Kroatien erzählt hatten.

*

Meine Tage besaßen wieder eine klare Struktur: Von 8 bis 13 Uhr hatte ich Schule – außer am Mittwoch, da gab es Nachmittagsunterricht, unterbrochen von eineinhalb Stunden Mittagspause. Der Nachmittagsunterricht war neu, ansonsten gab es kaum Änderungen gegenüber dem Vorjahr. Sogar die Klassenlehrerin, die uns in Deutsch und Englisch unterrichtete, war die gleiche geblieben.

Neu war, dass ich nicht mehr mit der U-Bahn zur Schule fahren durfte. Auf dem Weg zur Arbeit setzte mich mein Vater direkt vor dem Tor ab. Dass er dafür ein absolutes Halteverbot ignorieren musste und schon zwei Strafzettel kassiert hatte, kümmerte ihn nicht. Mir war es unangenehm. Bis auf ein paar Fünftklässler und das Mädchen im Rollstuhl, das in die Parallelklasse ging, wurde niemand von den Eltern in die Schule gefahren. In den ersten Tagen starrten mich alle an und steckten die Köpfe zusammen.

Nach der Schule holte mich Ada ab. Papa musste ihre Stunden aufgestockt haben. Vor dem Sommer war sie nur an zwei bis drei Tagen die Woche bei uns gewesen – dann, wenn Eva mit Dreharbeiten beschäftigt war. Jetzt blieb sie jeden Tag, bis Papa aus dem Büro kam.

Was sie eigentlich bei uns machen sollte, wusste sie wohl selbst nicht genau. Ihr Auftrag lautete sicher, auf mich aufzupassen, aber ich verzog mich nach dem Mittagessen sowieso in mein Zimmer, machte Hausaufgaben, lernte und starrte Löcher in die Luft. Ada putzte währenddessen die Wohnung und die Fenster, befreite die letzten Ritzen von Staub und Schmutz und bügelte jedes Hemd zweimal, um sich irgendwie zu beschäftigen. Darüber hinaus litt auch sie unter Lisas Verschwinden. Ich wusste es, weil ich sie in der Küche hatte weinen sehen. Sie kochte mir da gerade Lisas Lieblingsgericht: Spaghetti Bolognese – nur mit Sojaschnetzeln statt Hackfleisch, weil ich ja kein Fleisch mehr aß.

Papa erschien abends zwischen acht und neun. Mir kam es vor, als käme er immer später aus dem Büro. Wahrscheinlich erledigte er all den Mist, der während seines unfreiwillig verlängerten Kretaaufenthalts liegen geblieben war. Eigentlich war ich froh, dass wir uns nur so kurz sahen. Schon vor dem Urlaub hatte er ständig an mir herumgemeckert. Machte ich es mir an einem regnerischen Nachmittag auf meinem Bett mit einem Buch gemütlich, fand er mich eigenbrötlerisch. Verabredete ich mich mit Tina und Nicki, um im Einkaufszentrum abzuhängen, flippte er fast aus, weil das keine Art sei, seine Freizeit zu verbringen.

Wollte ich für Greenpeace spenden, wie das einige aus meiner Klasse taten, drohte er damit, mir mein ohnehin karges Taschengeld zu kürzen. Ich solle mir bitteschön bewusst sein, womit er das Geld verdient, dass ich in eine Umweltorganisation stecken will, deren Mitglieder glauben, Handys und Speicherchips würden auf Bäumen wachsen. Zehn Minuten später bemäkelte er mein schwaches soziales Engagement und schwärmte davon, wie engagiert meine Mutter doch in allem gewesen war.

Inzwischen nörgelte er noch mehr an mir herum als vor dem Urlaub. Mir war klar, woran es lag: Schließlich hatte ich seinen kleinen Sonnenschein verloren – das Kind, das offenbar genau so geraten war, wie er sich das vorstellte.

Wenn ich abends gute Nacht sagte und aufs Zimmer ging, hörte ich ihn durch die geschlossene Tür mit Eva telefonieren. Die Gespräche wurden immer einsilbiger. Außer »Ja«, »Aha«, »Wie du meinst« kam nicht mehr viel.

Dafür wurden die Ringe unter Papas Augen immer dunkler. Es war Anfang Oktober, als ich zu fragen begann, wann Eva endlich wiederkäme. Er zuckte mit den Schultern. »Das weiß nur sie selbst.« Seine Stimme klang nach einer Mischung aus Resignation, Schmerz und Ärger.

Und dabei blieb es. Keine Erklärung, was Eva eigentlich noch in Kreta tat, kein Verständnis für ihre Besessenheit, so lange wie möglich vor Ort zu bleiben, kein Trost für mich, die sich ohne sie allein und verloren fühlte.

Ich ging zur Schule, schrieb zur offensichtlichen Überraschung meiner Lehrer weiterhin gute Noten und funktionierte irgendwie. Papa war auf Arbeit und funktionierte offenbar auch. An den Wochenenden verschanzte er sich hinter seinem Notebook, während ich das Bett nur zu den Mahlzeiten verließ und ein Buch nach dem anderen verschlang, egal, wovon es handelte. Zum Glück war unsere Schulbibliothek gut bestückt. Ich flüchtete mich in Phantasiewelten. Manchmal war ich so darin gefangen, dass ich den ganzen Tag nur im Schlafanzug blieb. Papa fiel das gar nicht auf.

So verstrichen die Wochenenden. Und beide waren wir froh, wenn montags Punkt 6:15 der Wecker klingelte und uns in den Trott zurückwarf, der uns keine Zeit zum Nachdenken ließ.

*

»Am Samstag dann. Die Adresse kennt ihr ja. Meine Alten sind nicht da, nur mein Bruder … aber den findet ihr eh süß!«

Den Worten, gesprochen in dem näselnden Tonfall, der typisch für Vanessa Meier war, folgte mehrstimmiges Kichern.

»Und er uns sicher auch! Der Tom kann echt froh sein, dass du ihm eine Ladung Mädels quasi frei Haus lieferst!«

Dem Kommentar, der zweifellos von Vanessas bester Freundin Marina stammte, folgte wieder Kichern.

Ich hockte in einer der Kabinen der Schultoilette. Ein Sperrholzblatt trennte mich von Vanessa, dem beliebtesten Mädchen meiner Klasse, und ihrer Anhängerschaft. Vermutlich standen sie wie immer gegen Ende der Pause vor dem Spiegel, frischten die Haare auf und zogen ihren Kajalstrich nach. Was Ende vergangenen Schuljahres begonnen hatte, war inzwischen in alltägliche Routine übergegangen. Tatsächlich mischte sich der Gestank von Putzmittel und Zigaretten – striktes Verbot hin oder her – mit dem beißenden Duft von Haarspray.

»Tom hat übrigens noch Freunde vom Tennistraining eingeladen. Ich hoffe mal, wir kriegen alle im Spa-Bereich unter. Im Garten ist es um diese Jahreszeit einfach zu kalt!«

Ich war noch nie bei Vanessa Meier zu Hause gewesen, wusste aber, dass sie in einer ziemlich großen Villa in Ismaning wohnte, einem Vorort von München. Der Spa-Bereich, mit dem sie quasi ständig prahlte, bestand aus einem Hallenbad und einer Sauna. Immer wieder kamen ein paar Auserwählte aus unserer Klasse in den Genuss eines Wellness-Tages bei den Meiers und beschrieben den Pool anschließend als riesig. Angeblich gab es sogar eine kleine Bar am Beckenrand.

Ich würde sie gewiss nie zu Gesicht bekommen und war nicht wirklich traurig darüber. Vanessa Meier und der Hofstaat von Mädchen, die sie bewunderten, waren nicht mein Fall.

»Hast du wirklich die ganze Klasse eingeladen?«

Ich war gerade dabei, mir die Hose hochzuziehen. Die Frage ließ mich aber abrupt innehalten. Die Stimme auch. Sie gehörte Nicki.

Dass Nicki näheren Kontakt mit Vanessa pflegte, war mir neu. Im Gegenteil: Vanessa Meier und ihr Fußvolk hatten uns immer wie Luft behandelt, während wir uns hinter ihrem Rücken darüber lustig machten, dass Vanessa nichts in der Birne hatte. Seit ich sie kannte, war ihre Versetzung schon zweimal gefährdet gewesen.

»Ja, klar, ist doch ’ne Klassenparty«, hörte ich Vanessa näseln. »Toms Freunde kommen doch nur, weil mit unseren Jungs nichts anzufangen ist. Das sind doch alles totale Kinder!«

Ich zog nun endgültig die Hose hoch und sah auf die Armbanduhr. Gleich würde die Pause vorbei sein. Ich wollte trotzdem noch warten, bis die anderen weg waren. Meine Lust, Nicki nach diesem mitgehörten Gespräch in die Augen zu schauen, hielt sich auch in Grenzen. Ich verstand einfach nicht, was mit ihr in den Ferien passiert war. Lag es an ihrem neuen Style, dass sie sich jetzt bei diesen Möchtegern-Coolen sah? Sie hatte doch nicht ernsthaft vor, zu dieser Party zu gehen – oder doch? Und von wegen: Klassenparty! Ich hatte jedenfalls noch nichts davon gehört, und Tina sicher auch nicht.

»Also, Joana nicht. Das wär … Ich meine, könnt ihr euch die mit ihrer Fettschürze etwa im Bikini vorstellen? – Die meldet sich beim Schwimmunterricht schon immer krank. Zum Glück, bei dem Anblick!«

Ein paar Mädchen lachten. Nicki lachte mit, aber ihr Lachen klang verlegen. Joana, das Mädchen, dessen Name bei diesem dummen Ranking im vergangenen Schuljahr am untersten Ende der Liste gestanden hatte, war das klassische Mobbing-Opfer: dick, blass, pickelig. Redete grundsätzlich nur dann, wenn sie etwas gefragt wurde. Irgendwann hatten wir erfahren, dass ihre Eltern aus Polen eingewandert waren und ihr Vater seither soff. Bisher hatte sie uns einfach nur leidgetan.

»Und Lea?«, hörte ich nun eine Stimme fragen, die eindeutig Tina gehörte. Sie stand also auch hier?!

Mit klopfendem Herzen wartete ich, was nun kommen würde.

Vanessa antwortete nicht sofort. »Ich weiß nicht recht«, sagte sie dann und klang tatsächlich unschlüssig. »Wir sind ja nicht unbedingt beste Freundinnen.«

Was für eine Untertreibung!

»Aber … na ja, sie ist eigentlich okay. Nur, was da mit ihrer Schwester passiert ist …« Vanessa seufzte. »Ich hab halt keinen Bock, dass sie uns mit ihrer Leichenbittermiene die Party vermiest!«

So gemein ihre Bemerkung auch war: Ich konnte sie sogar verstehen. Ich bin noch nie eine Stimmungskanone gewesen, aber derzeit konnte ich mir oft nicht mal ein Lächeln abringen.

»Ich glaube, sie käme sowieso nicht«, sagte Nicki. »Ihr geht es momentan wirklich nicht gut.«

»Lad sie doch ein, sie wird eh absagen. Aber dann stehst du gut da.«

Wäre der Vorschlag von Marina gekommen, hätte es mich nicht gewundert. Doch er kam von Tina, meiner sanftmütigen Freundin.

»Du kannst sie doch nicht einladen! Bist du verrückt?« Das war nun eindeutig Marina, die ihr »r« noch prägnanter rollte als sonst. »Meinst du, ich möchte mit einer gesehen werden, die ihre kleine Schwester im Meer ertränkt hat?«

»Was?« Tina klang irritiert. »So ein Blödsinn, wo hast du denn das her?«

»Das stand in der Blick der Frau, die meine Mama beim Friseur liest. Da war auch ein Foto von Lea – wie sie im Bikini im Meer herumplantscht, während alle Welt nach ihrer Schwester sucht. Im Artikel heißt es, dass die Dahlens ganz genau wissen, wer für den Tod verantwortlich ist, und dieses ganze Theater vor den Kameras nur abziehen, damit keiner hinter die Wahrheit kommt und Lea nicht ins Gefängnis muss.«

Meine Beine fühlten sich an wie aus Gummi. Ich lehnte mich an die Kabinenwand, um nicht in mich zusammenzusacken.

»Also, das kann ich mir echt nicht vorstellen!« Nicki war offenbar genauso geschockt wie ich. »So ein Unsinn! Lea hätte Lisa nie was angetan!«

»Andererseits hat sie ewig über sie geschimpft. Sie hat uns ja immer erzählt, dass ihre Mutter – also, die Stiefmutter – sich gar nicht mehr um sie kümmert, seit sie ein eigenes Kind hat.«

Was redete Tina da?

Ich schluckte trocken, als mir klar wurde, dass sie damit keine Lügen verbreitete. Ich hatte mich wirklich sehr oft zurückgesetzt gefühlt und mich darüber beschwert.

»Na bitte.« Marina fühlte sich bestätigt. »Meine Eltern glauben auch, dass es das Beste ist, den Dahlens aus dem Wege zu gehen. Wir wollen mit Kriminellen nichts zu tun haben.«

Ihre letzten Worte mischten sich mit dem Gong. In der Kabine neben mir rauschte eine Toilettenspülung. Weiter hinten klappte eine Tür. Auch die Raucherinnen aus den oberen Klassen hatten anscheinend begriffen, dass es zurück in den Unterricht ging. Wasserhähne wurden auf- und zugedreht. Ein paar Sekunden lang ertönte das Brummen des Handtrockners.

»Na gut, dann lade ich sie nicht ein. – Übrigens, habt ihr den Neuen aus der 10 b schon gesehen? Patrick heißt er; seine Eltern sind aus Berlin hierher gezogen.« Vanessa hatte eine Entscheidung getroffen und wechselte auch schon das Thema. Plaudernd verschwand sie mit Marina und meinen Freundinnen nach draußen auf den Gang.

Schlagartig war es so still auf der Toilette, dass ich nur das Tropfen eines Wasserhahns hörte. Mein Kopf dröhnte. Mir war eiskalt. Doch als ich meine Stirn berührte, fühlte sie sich so heiß an, als hätte ich Fieber.

Blick der Frau.

Ich kannte die Zeitschrift nicht. Vermutlich ging ich dafür nicht oft genug zum Friseur.

Ich badete ausgelassen, während alle nach Lisa suchten.

Unsinn, hörte ich Nicki sagen.

Du hast oft über sie geschimpft, erinnerte mich Tinas Stimme in meinem Kopf.

Unsinn, sagte Nicki wieder, aber es klang jetzt schon weniger entschieden.

Schuld kroch in mir hoch und erfüllte mein Herz.

Ich hatte Eva und Papa nichts davon erzählt, aus Angst, dass sie sich aufregen würden, weil ich zum Strand gegangen war. Und jetzt hieß es in dem Artikel, sie hätten alles nur inszeniert, um mich vor einer Anklage zu bewahren? Ich musste diesen Artikel lesen, mir ein eigenes Bild davon machen! Am liebsten hätte ich mich sofort auf die Suche danach gemacht. Aber meine Schultasche mit der MVV-Schülerkarte und meinem Geldbeutel war im Klassenzimmer, und unsere Englischlehrerin sicher auch schon. Außerdem: Würde ich nicht bald kommen, brächte mir das noch mehr Ärger ein, vielleicht sogar einen Verweis.

Ich schlich zurück ins Klassenzimmer und setzte mich auf meinen Platz zwischen Tina und Nicki, ohne sie anzusehen. Der Unterricht hatte gerade begonnen. Den tadelnden Blick unserer Lehrerin nahm ich kaum wahr, genauso wenig wie alles andere in dieser Stunde.

*

Zwei Tage verstrichen, ehe ich Gelegenheit hatte, ins Internet zu gehen. Seit seiner Rückkehr hatte Papa meinen Online-Zugang zu Hause kommentarlos auf null heruntergeschraubt, indem er einfach das Passwort unseres W-LAN-Zugangs änderte.

In der großen Pause ergatterte ich dann endlich einen freien Platz an einem der wenigen Schul-PCs, auf denen sich das Internet mit nervtötender Langsamkeit lud. Meine Hoffnung, den Artikel auf der Website zu finden, zerschlug sich. Es gab die Möglichkeit, alte Ausgaben der Zeitschrift zu bestellen, aber dazu war eine Kreditkarte notwendig – die ich natürlich nicht hatte.

Von der quälenden Neugier gepackt, ob noch andere Medien ein Foto von mir am Strand zeigten, gab ich Lisa Dahlen und Lea in Google ein. Die Suchmaschine spuckte seitenweise Ergebnisse aus. Sie führten großteils zu Foren, auf denen lebhaft diskutiert wurde, was nach Ansicht der User in Malia wirklich mit meiner Schwester passiert war. Was diese Leute schrieben, trieb mir den Schweiß auf die Stirn.

Sie unterstellten Eva, ihr eigenes Kind getötet zu haben. Sie spekulierten darüber, dass Papa Lisa erst sexuell missbraucht und dann umgebracht hatte. Andere vermuteten, dass Lisa derzeit in der internationalen Pädo-Szene feilgeboten wurde – sie wüssten es sicher, hätten sie in einem thailändischen Bordell gesichtet, und so weiter.

Und dann war da Snow74, die beharrlich die Theorie von Neokosmidis vertrat: Ich hätte Lisa versehentlich getötet, und meine Eltern hatten ihre Leiche fortgeschafft.

Dass die Frau behauptete, mich zu kennen und ein Naheverhältnis zur Familie zu haben, bereitete mir Gänsehaut.

Lea Dahlen leihdet unter fielen Mindeweetigkeitskombleksen und war immer mehr Eifersüchtig auf diese kleine süße Schwester sie hat immer geglaubt das die Abrikosen auf den Teller von der Schwester sind süßer als die eigenen. Glaubt es mir Lea hat dieses Kind gehast!

Ich kannte aber niemanden, der so viele Rechtschreibfehler machte. Oder hatte sich hier jemand absichtlich verstellt, um seine Identität zu verbergen?

Snow74 schaffte es, das halbe Forum für ihre Theorie, die eigentlich Neos alter Hut war, zu begeistern. Leute, die mich definitiv nicht kannten, verbreiteten jetzt abenteuerliche Theorien, wie und warum ich Lisa getötet hatte, und wünschten mir sogar selbst den Tod. Es war grauenhaft. Und doch konnte ich nicht aufhören, einen Beitrag nach dem anderen zu lesen, bis der Pausengong dem ein Ende setzte.

Im Anschluss hatten wir Lateinklausur. Zum ersten Mal in meinem Leben gab ich ein leeres Blatt ab.

*

»Na, das war ja eine echte Meisterleistung«, sagte Papa mit bitterem Unterton, als er seine Unterschrift unter die schwungvolle rote Sechs setzte, die abgesehen von meinem Namen als einziges auf dem linierten Blatt prangte. »In Latein! Mach jetzt bloß schulisch keine Probleme! Das fehlt uns gerade noch!«

Ich stand vor seinem Schreibtisch, an dem er wie so oft am Wochenende thronte, und fühlte mich wie die allerletzte Versagerin. Ich konnte nichts, war zu rein gar nichts zu gebrauchen. Erst verlor ich meine Schwester am Strand, jetzt konnte ich nicht mal mehr ein paar lateinische Sätze übersetzen!

Papa seufzte.

»Was ist denn los mit dir, Lea?« Seine Stimme klang nun deutlich milder als zuvor. »Ich weiß, es ist schwer für dich. Aber es ist für uns alle eine schreckliche Zeit. Schau, ich muss auch zur Arbeit gehen und meine Aufgaben erfüllen. Und du kannst jetzt nicht alles schleifen lassen.«

Jetzt liefen mir die Tränen über die Wangen. »Ich will, dass Eva wiederkommt!«, brach es aus mir heraus, als würde allein ihre Rückkehr alles ändern.

»Das wollen wir beide.« Papa seufzte. »Sie kommt ja bald.«

Ich las in seinen Augen, dass er selbst nicht recht daran glaubte.

»Ich bin so allein«, schluchzte ich. »Ich … bin … immer … so allein.«

Papa stand auf und drückte mich kurz an sich. Ich roch sein Rasierwasser und fühlte mich zumindest für den Augenblick geborgen. Doch viel zu schnell ließ er mich wieder los und klopfte mir auf die Schulter, als wäre ich sein Freund Harry, mit dem er ab und zu Tennis spielte.

»Ada ist doch nachmittags bei dir.«

Ich erwiderte nichts. Was hätte ich auch sagen können? – Dass Ada nett war und gut kochte, aber dass sie den ganzen Tag über putzte, um sich die Langeweile zu vertreiben, weil sie Babysitter für eine Vierzehnjährige spielen sollte, die ewig in ihrem Zimmer hockte und sich in Bücher flüchtete.

»Und jetzt am Wochenende bin ich für dich da«, fuhr Papa fort. Vermutlich glaubte er wirklich, dass mich allein seine Anwesenheit tröstete. Und dann sagte er, als würde ihm die Idee ganz spontan in den Sinn kommen: »Was hältst du davon, wenn wir morgen zusammen ins IMAX gehen? – Und danach gehen wir essen. In der Nähe soll es ein neues vegetarisches Restaurant geben. Das ist doch was für dich.«

Im IMAX inmitten hundert anderer zu sitzen, schien mir völlig daneben. Ich fühlte mich schon jetzt schuldig, weil ich womöglich Spaß hätte, obwohl Lisa … Doch Papa meinte es gut. Er überwand sich sogar, vegetarisch zu essen, obwohl er sich die ganze Zeit über meinen »Ernährungstick« lustig gemacht hatte. Also nickte ich. Da er gerade so ein offenes Ohr für alles zu haben schien, was mich bewegte, erzählte ich ihm nun doch von dem Artikel mit mir am Strand und von den Schrecklichkeiten, die über uns im Internet verbreitet wurden.

Er nickte nur bedächtig. »Ich weiß. Die Anwaltskanzlei in München, Berkmann & Berkmann, hat bereits rechtliche Schritte gegen Blick der Frau und andere Medien eingeleitet, die das Foto von dir veröffentlicht haben. Gegen die Foristen kann man allerdings wenig unternehmen. Die verstecken sich hinter irgendwelchen Pseudonymen. – Nimm dir das nicht so zu Herzen, Lea. Und geh besser nicht mehr ins Internet. Genau davor wollten wir dich nämlich bewahren!«

Dass ich auch in der Schule damit konfrontiert werden würde – und genau wegen seiner Abschottungspolitik völlig unvorbereitet –, kam ihm offenbar gar nicht in den Sinn.

Am Sonntag früh bekam Papa einen Anruf seines Chefs. Irgendwo war etwas mit einer Chemikalie schiefgegangen. In Bratislava sei ein spontanes Krisenmeeting einberufen.

Papa packte die Koffer und fuhr zum Flughafen, Ada kam.

Das IMAX und das vegetarische Restaurant waren vom Tisch.

*

Brot.

Eier.

Suppenwürfl.

Abrikosenmamelade.

Ich starrte auf den Einkaufszettel, den Ada auf dem Küchentisch abgelegt hatte, während sie in der Besenkammer nach einer Einkaufstasche suchte. Ihre krakeligen Buchstaben verschwammen vor meinen Augen.

Snow74.

Naheverhältnis zur Familie.

War Ada, die schon so lange für uns arbeitete, wirklich in der Lage, üble Behauptungen zu verbreiten? – Sie hatte Lisa doch geliebt, weinte auch um sie! Könnte sie da behaupten, ich hätte Lisa gehasst?

Andererseits: Ada war vor Jahren von Polen nach Deutschland gekommen. Ihr gesprochenes Deutsch war leidlich gut, aber Grammatik und Rechtschreibung hinkten deutlich hinterher.

Und da sie so oft bei uns war, wusste sie natürlich auch, dass ich manchmal eifersüchtig auf Lisa gewesen war.

Je länger ich darüber nachdachte, desto sicherer war ich mir: Ada hatte Lisa geliebt, dieses süße kleine Mädchen mit dem Schmollmund und den blonden Locken. Ihre Trauer um sie war echt. Sie hatte nur Lisa geliebt. Ich war ihr egal gewesen. Und jetzt war ich für sie schuld, dass Lisa weg war!

Als Ada zum Einkaufen außer Haus ging, rief ich Papa an und erzählte seiner Mobilbox, was ich herausgefunden hatte.

*

»Nein, nein. Aber nein!«

Ich drückte ein Ohr an die Türe des Wohnzimmers, wo mein Vater gerade ein ernstes Gespräch mit Ada führte. Was er genau sagte, konnte ich nicht verstehen, denn er sprach ruhig und gefasst. Ada dagegen wurde immer lauter und emotionaler.

»Wie können Sie das denken von mir!«, hörte ich sie nun rufen. »Ich weiß, Rechtschreibung nicht gut, aber ich bin noch immer besser mit Rechtschreibung als mit Computer!«

Wieder murmelte Papa etwas als Erwiderung.

Mein Herz klopfte.

Sosehr ich mir einerseits gewünscht hatte, dass er sie zur Rede stellte und ihrer Hetze gegen mich im Internet Einhalt gebot, so falsch fühlte sich das alles plötzlich an. Vor gerade mal zwanzig Minuten war er aus Bratislava zurückgekommen. Ein paar Stunden vorher hatte ich noch mit Ada im Wohnzimmer gesessen, Marmorkuchen gegessen und mir von ihr einen heißen Kakao servieren lassen.

»Schokolade macht gute Laune«, hatte sie gesagt, weil ich wieder einmal mit deprimiertem Gesicht aus der Schule gekommen war. Es lief nicht gut mit meiner Klasse, und es lief gar nicht gut zwischen Papa und Ada. Das spürte ich auch durch die hölzerne Flügeltür.

»Lisa und Lea sind wie Enkel für mich!« Adas Stimme überschlug sich nun fast. »Niemals ich würde …«

Der Rest ihrer Worte vermischte sich mit Schluchzen. Ein Stuhl wurde verrutscht. Ich fühlte mich elend.

Lisa und Lea, hatte sie gesagt. Nicht nur Lisa.

Nun sprach wieder Papa. Was Ada erwiderte, konnte ich diesmal auch nicht verstehen, denn sie sprach nun deutlich leiser. Ich presste mein Ohr noch dichter an das Holz und bekam trotzdem erst in letzter Sekunde mit, dass die Klinke gedrückt wurde. Hastig sprang ich zur Seite.

Ada ging mit knallroten Wangen an mir vorbei, als wäre ich Luft. Ihre Augen glitzerten feucht. An der Garderobe schlüpfte sie eilig in ihren Mantel und klemmte ihre Tasche unter den Arm. Die Türe fiel geräuschvoll ins Schloss.

Ein paar Sekunden lang war es totenstill in der Wohnung.

»Bravo, Lea. Das haben wir wirklich gut gemacht.« Papa stand auf der Schwelle zum Gang und schwelgte einmal mehr in dem bitteren Sarkasmus, der in letzter Zeit sein ständiger Begleiter war. »Die Frau kann nicht mal einen Computer einschalten, geschweige denn einen Forumbeitrag erstellen!«

Er griff sich an die Stirn.

»Ich war wirklich ein Vollidiot, dass ich deiner albernen Geschichte auch nur eine Sekunde lang geglaubt habe! Ada ist seit Jahren die Seele unseres Haushalts, hat euch aufwachsen sehen und nie einen eurer Geburtstage vergessen! Und statt ihr eine Gehaltserhöhung zu geben, lasse ich mich dazu hinreißen, sie wegen irgendeines dämlichen Gefasels zur Rede zu stellen, das im Prinzip jeder ins Internet gestellt haben kann!«

»Aber da stand doch –«, begann ich, brach aber mitten im Satz ab. Papa hatte recht: das Zeug konnte irgendwer geschrieben haben. Und Ada hatte es wirklich nicht mit Computern. Plötzlich erinnerte ich mich, wie sie mich vor dem Urlaub gebeten hatte, einen Beschwerdebrief an ihre Vermieter zu schreiben. Ich hatte damals gedacht, sie wollte mit gutem Deutsch aufwarten und brauchte deshalb meine Hilfe. Jetzt war mir klar, dass es vor allem ums Tippen ging.

»Es tut mir leid, Papa! Ich … werde mich morgen bei ihr entschuldigen.«

»Das mit der Entschuldigung kannst du vergessen. Ada ist so gekränkt, dass sie gekündigt hat.«

»Was?!«

Ich starrte ihn ungläubig an.

»Du hast richtig gehört: Sie will nicht mehr für uns arbeiten. Morgen, während du in der Schule bist, holt sie ihre restlichen Sachen – und das war’s!« Er seufzte. »Zusätzlich zu diesem ganzen verdammten Mist, den ich um die Ohren habe, darf ich jetzt noch wegen dir eine neue Haushälterin suchen! Verdammt, verdammt, verdammt!« Er schlug mit der Faust so hart gegen das Holz, dass der gesamte Türflügel bebte. »Du und deine gottverdammte Eifersucht!«, schmetterte er mir dann entgegen. »Genau deshalb sind wir überhaupt in dieser elenden Lage: weil du ständig eifersüchtig auf alles bist, was Aufmerksamkeit von dir abzieht!«

Seine Worte trafen mich wie ein Dolch ins Herz. Einen Moment lang hatte ich das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Dann heulte ich los. Ich rannte in mein Zimmer, knallte die Tür hinter mir zu und warf mich aufs Bett.

Meine Hoffnung, dass Papa irgendwann nach mir sehen würde, erfüllte sich nicht. Von Eva war ich gewohnt, dass sie nach einem Streit kam, um noch einmal in Ruhe mit mir darüber zu sprechen – und eben auch böse Worte, die ihr über die Lippen gekommen waren, wiedergutmachte. Oft nahm sie mich in den Arm und tröstete mich, bis ich mich beruhigt hatte. Doch Papa war nicht Eva. Und Eva war noch immer auf Kreta.

Ich fühlte mich so einsam und allein, so verzweifelt und durcheinander, dass ich das Gefühl hatte, bersten zu müssen. In meinem Kopf klopfte es, als schlüge jemand mit einem Eisenhammer gegen die Schädeldecke. Es zerriss mich fast vor Schmerz. Ich schwitzte, dass mein Shirt nass an mir klebte.

Irgendwann rappelte ich mich auf. Bis auf den schmalen Lichtstreifen unter der Wohnzimmertür war der Gang dunkel. Ich hörte, dass der Fernseher lief.

Mit einem Mal war mir plötzlich so kalt, dass meine Zähne aufeinanderschlugen. Ich schlich ins Bad, schloss die Tür, sperrte ab. Hoffte, dass dieses Hämmern aufhörte, dass dieser Druck endlich wegging.

Doch es hörte nicht auf.

Es hörte einfach nicht auf!

Ich wollte duschen. Heiß, lange. Ich stieg aus meinen durchgeschwitzten Klamotten. Doch noch ehe ich einen Fuß in die Duschwanne gesetzt hatte, fiel mein Blick auf das Schneidemesser, mit dem Ada immer Waschmittelkartons geöffnet hatte.

Ich wusste später nicht mehr, warum ich tat, was ich tat. Nur, dass ich mich nicht umbringen wollte. Aber als ich den Cutter auf der Haut meines rechten Unterarms ansetzte und das feine rote Rinnsal betrachtete, das bis zu meinen Fingerspitzen hinabfloss, wurde das Klopfen in meinem Kopf schwächer. Und mit jedem Schnitt, der folgte, nahm der innere Schmerz ab.