Talfahrt

30. Oktober – 30. Dezember 2011

Eva kam mit einem der letzten Ferienflieger aus Kreta zurück. Es war der Sonntag vor Allerheiligen, Papa und ich standen in der Ankunftshalle des Flughafens und warteten. Unzählige tief gebräunte Fluggäste zogen mit Koffern an uns vorbei. Auch wenn wir nicht darüber sprachen, sah ich Papa an, dass er sich fragte, ob Eva wirklich gleich hier auftauchen würde. Falls sie einen Rückzieher gemacht hätte und wider alle Vernunft den Winter auf Kreta geblieben wäre, hätte mich das jedenfalls nicht mehr überrascht.

Als Eva schließlich den Ausgang zum öffentlichen Bereich passierte, hätte ich sie beinahe nicht erkannt. Ihr Haar war kurz – wahrscheinlich sogar selbst abgeschnitten. Ins glänzende Blond hatte sich ein stumpfes Grau geschlichen, und ihr Gesicht wirkte blass und fahl. Sie hielt den Blick gesenkt, während sie einen Koffer hinter sich herzog, der mit Steinen gefüllt sein musste. Jeder Meter, den sie zurücklegte, schien sie große Mühe zu kosten. Die mintgrüne Hose, die ich schon so oft an ihr gesehen hatte, schlackerte an ihren Hüften, und der Sommerpulli sah aus, als wäre er zwei Nummern zu groß.

Wenn Papa erschrocken war, ließ er sich das zumindest nicht anmerken. Die beiden umarmten sich kurz. Dann nahm er ihr den Koffer ab und zog los in Richtung Parkhaus. Eva folgte ihm, konnte aber kaum Schritt halten. Ich trottete hinter ihnen her und versuchte zu verstehen, was los war.

Irgendetwas stimmte mit ihr nicht. Dass sie mich nicht einmal umarmt hatte, konnte mich in diesem Moment nicht einmal so sehr kränken. Eva wirkte wie weggetreten.

Auf der fast einstündigen Fahrt vom Flughafen zu unserer Wohnung sprach sie kaum ein Wort.

»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte Papa, als wir endlich zu Hause waren. »Wird uns Papalexis auf dem Laufenden halten?«

Im Gegensatz zu mir hatte er den Namen des Mannes, der auf den unsympathischen Neokosmidis gefolgt war, noch parat.

Eva ließ sich müde aufs Sofa sinken. »Wieso Papalexis?«, erwiderte sie, und ihre Aussprache hörte sich etwas verwaschen an. »Der ist doch schon längst wieder Geschichte. – Die Ermittlungen leitet jetzt ein Herr Nikiforos.«

»Was? – Seit wann denn?«

Eva hob die Schultern. »Seit ein paar Wochen. Papalexis ging in Pension.«

Na toll. Ich konnte so auch kaum fassen, dass der Ermittler schon wieder gewechselt hatte.

»Und was bedeutet das?«, hakte Papa nach. »Was ist das für ein Typ, dieser Nikiforos? Wirkt er fähig?«

»Keine Ahnung.« Eva schloss die Augen. »Jung. Noch keine dreißig. Der muss sich erst einmal einarbeiten, hat er mir gesagt. Ist aber freundlich und riecht nicht so nach Knoblauch.« Ihre letzten Worte waren nur mühsam zu verstehen, denn sie brachte die Lippen kaum auseinander.

»Na bravo«, sagte Papa. »Warum hat du mir davon noch nichts erzählt?«

Eva konnte ihm nicht antworten. Sie war eingeschlafen.

*

Evas Rückkehr nach Österreich änderte nicht viel. Papa ging zur Arbeit, ich in die Schule. Sie blieb zu Hause – oder, um es ungeschönt zu sagen: Eva verließ die Wohnung so gut wie gar nicht mehr.

Wenn ich in der Früh zur Schule ging, lag sie noch im Bett. Wenn ich zurückkam, lag sie auf dem Sofa und schlief. Manchmal lief der Fernseher, und ich fragte mich, wie das überhaupt gehen konnte. So müde war doch kein Mensch! Dann entdeckte ich die Pillendosen in ihrem Nachtkästchen. Sie waren auf Griechisch beschriftet, nur ganz klein stand der Wirkstoffname in lateinischen Buchstaben gedruckt. Das Internet half mir auf die Sprünge. Meine Stiefmutter dröhnte sich mit einem ganzen Cocktail an Schlafmitteln und Antidepressiva zu! Irgendein Arzt musste sie ihr verschrieben haben – oder sie hatte sie sich auf anderem Wege besorgt.

Manchmal hörte ich, wie Papa versuchte, mit ihr darüber zu reden. Allmählich verlor er aber die Geduld. Er verlangte, dass sie sich psychologische Hilfe holte, zu einem Facharzt ging wegen Tabletten, die offensichtlich mehr Schaden anrichteten, als zu nutzen. Eva stellte sich entweder stur oder begann zu weinen. In beiden Fällen endete das Gespräch damit, dass mein Vater mit seinem Aktenkoffer abrauschte, während sie wieder aufs Sofa sank und einschlief.

Die strahlende Eva Dahlen? Der Star war erloschen … Meine Stiefmutter so zu sehen, machte mich fertig. Zu Hause verzog ich mich direkt in mein Zimmer. In meinem kleinen Mikrokosmos fühlte ich mich sicher – sicher davor, hilflose Zeugin von Evas Verfall zu sein, sicher vor der Gereiztheit meines Vaters, die mir Angst machte, und sicher vor meinen Mitschülern und vermeintlichen Freundinnen.

Ich hatte Tina und Nicki nie darauf angesprochen, was ich auf der Toilette mitangehört hatte. Aber seit der Party bei Vanessa Meier hatten wir nur noch wenig Gesprächsstoff. Tina und Nicki gehörten jetzt zur »In«-Clique, während ich nicht einmal länger für Leute interessant war, die die Hausaufgaben abschreiben wollten. Denn meistens machte ich sie selbst nicht mehr – oder kritzelte in der ersten Pause irgendetwas ins Heft. Meine Noten bewegten sich inzwischen am anderen Ende dessen, was mich zur Klassenbesten gemacht hatte. Doch noch hatten die Lehrer Geduld. Niemand trat mir auf die Füße, niemand drohte damit, meine Eltern einzubestellen. Stattdessen erntete ich nur mitleidige Blicke, wenn ich mein mit Rotstift versehenes Blatt zurückbekam.

Ich hasste die Schule inzwischen – dieses Mitleid, diesen Argwohn, das Tuscheln und Lästern, die komischen Blicke und das Gefühl, einfach nicht mehr dazu zu gehören. Daher flüchtete ich nach der letzten Stunde schnell aus dem Gebäude. Niemand sollte mich ansprechen können, selbst wenn er oder sie es gewollt hätte.

Da es seit Adas Abgang keine Sicherheitseskorte mehr gab, durfte ich wenigstens den Heimweg alleine antreten. Das Gebot, ohne Umweg direkt nach Hause zu gehen, ignorierte ich, weil es sowieso niemand kümmerte. Papa war eh nie da, und Eva bekam gar nicht mit, wann ich kam und ging. Ich tat in dieser Zeit nichts Bestimmtes. Solange das Wetter noch erträglich war, streunte ich im Englischen Garten herum. An Regentagen ging ich in irgendein Kaufhaus und verschanzte mich in der Umkleide oder auf dem WC. An der U-Bahn-Station kaufte ich mir dann meistens eine Pizzaschnitte oder einen Gemüsewrap, denn zu Hause gähnte ein leerer Kühlschrank. Vater aß in der Kantine oder war auf Dienstreise. Keine Ahnung, von was Eva lebte. So verstrichen die Tage.

An einem Dienstag Anfang November kam ich gegen 15 Uhr nach Hause, auf dem Rest Falafelburger kauend, den ich mir noch kurz vor der Haustüre in den Mund gestopft hatte. Ich war kaum im dunklen Flur, da landete auch schon eine schallende Ohrfeige auf meiner Wange. Im ersten Moment war ich nur verdutzt. Es war die erste meines Lebens. Dann sah ich das wütende Gesicht von Papa und brach in Tränen aus.

»Wo warst du so lange, verdammt?! Die Schule ist längst aus! Du hast die Anweisung, sofort heimzukommen!«

Vor lauter Tränen konnte ich nicht einmal etwas erwidern. Die Stelle, auf der seine flache Hand gelandet war, brannte höllisch.

Warum war er eigentlich um diese Zeit zu Hause?

Dann sah ich den kleinen roten Trolley, der zwischen Schuhregal und Garderobe stand. Evas Trolley. Und tatsächlich bog sie auch schon um die Ecke – sorgfältig zurechtgemacht und mit einem frischen Profi-Haarschnitt. Ihre Jogginghose hatte sie nach Wochen gegen ein elegantes Kostüm getauscht. Abgesehen davon, dass der Rock an ihr schlackerte, sah sie aus wie früher, wenn sie zu einem Drehtermin geflogen war.

Eva beachtete mich kaum, als sie sich nun bückte, um in ihre Lederstiefel zu schlüpfen.

»Was du tust, ist purer Wahnsinn!«

Ein paar Sekunden verstrichen, ehe ich begriff, dass Papas Aufmerksamkeit längst nicht mehr mir galt.

»Dass deine Sendung inzwischen eine andere moderiert, hat Gründe! Du bist derzeit doch gar nicht in der Lage, um …«

»Ach ja? – Ich kann nicht arbeiten gehen, du aber schon?« Eva funkelte ihn über meinen Kopf hinweg wütend an. »Die haben mich einfach abgesägt und dieser Romana meine Sendung gegeben! Ohne Rücksprache! Als hätte ich nicht nur mein Kind verloren, sondern auch meinen Verstand! – Aber das lasse ich mir nicht bieten! Joe bringt mich wieder zurück vor die Kamera. Und deshalb fliege ich zu dieser Jubiläumsfeier nach Berlin!«

Joe hieß in Wahrheit Josef Obermeier und war seit Evas Start beim Fernsehen ihr Agent. Er hatte ihr nicht nur zu dieser Promi-Einrichtungsshow verholfen, sondern auch andere Moderationen für sie organisiert – bei Galas, großen Firmenevents oder Preisverleihungen – und bis zu Lisas Verschwinden die Hand darauf gehabt, wer Eva Dahlen wann und wo interviewen durfte. Das letzte Mal hatte ich von ihm auf Kreta gehört, als er ihr am Telefon eröffnete, dass unter den momentanen Umständen an eine Fortsetzung ihrer Sendung wohl nicht zu denken sei.

»Wenn ich arbeiten gehe, obwohl Lisa weg ist, dann ist das etwas vollkommen anderes!«, hielt ihr Papa entgegen. »Ich stehe nicht in der Öffentlichkeit! Außerdem, sieh dich doch an! Du bist völlig fertig und tablettensüchtig! – Was glaubst du wird in Berlin passieren? Glaubst du im Ernst, dass irgendjemand dich im Moment sehen will?«

Eva zog sich ihren Mantel an. »Ach ja? Bei dir ist es etwas anderes?« Den Rest von Papas Worten hatte sie offenbar ausgeblendet. »Und warum? Weil du ein Mann bist?! Weil dir Lisas Verschwinden nicht so nahe geht?!«

Sie spuckte Gift und Galle. Ich hatte sie noch nie so erlebt. Vor Schreck versiegten sogar meine Tränen.

»Ist es dir egal, ob sie vielleicht gerade gequält wird? Ob sie um ihr Leben kämpft? Mir ist es jedenfalls nicht egal! Und wenn ich nichts tue – keine Aufgabe habe, dann drehe ich durch!«

Papa sah betreten zu Boden, während Eva nun den Griff ihres Trolleys packte.

»Wie auch immer. Mein Taxi zum Flughafen wartet«, sagte sie. »Vielleicht denkst du einfach mal drüber nach, wie es mir geht. Früher war ich Mutter, Ehefrau und Journalistin. Jetzt bin ich ein Nichts!«

Die Türe fiel hinter ihr ins Schloss. Das Klappern ihrer Absätze auf den Marmorfließen entfernte sich. Kurz darauf hörten wir das Rumpeln und Quietschen des sich öffnenden Aufzugs. Dann war es still.

Papa sah aus, als hätte er die Ohrfeige bekommen, nicht ich.

Deshalb war er also früher nach Hause gekommen: um Eva von dieser Reise abzuhalten.

*

Ein Klopfen an meiner Zimmertür riss mich nachts aus dem Schlaf. Schon ging das Licht an. Papa stand neben meinem Bett, mit ernstem Blick und tiefen Falten im Gesicht.

»Zieh dich an und pack deine Sachen«, sagte er kurz angebunden. »Wir müssen los.«

Verwirrt und schlaftrunken blinzelte ich ihn an. Ein Blick auf den Radiowecker sagte mir, dass es kurz nach 22 Uhr war.

»Ich muss sofort nach Berlin. Eva ist auf dieser Filmparty umgekippt; sie liegt im Krankenhaus! Du kommst einstweilen zu Harry und Nicole.«

»Aber …«, setzte ich an, doch ich kam nicht weit.

»Los, los! Pack dein Schulzeug und Klamotten für zwei, drei Tage. Keine Zeit für Diskussionen!«

Wie im Trance stopfte ich Jeans, Pullis, Socken und Unterwäsche in einen kleinen Koffer. Die Vorstellung, bei Bekannten meiner Eltern einquartiert zu werden, die ich nur flüchtig kannte, behagte mir nicht.

»Kann ich nicht lieber zu Oma Betty?«, versuchte ich mein Schicksal abzuwenden, während mich Papa eine Viertelstunde später durch die nächtliche Stadt zur Tiefgarage trieb, in der sein Mietplatz war.

»Wie stellst du dir das vor mit der Schule? Du glaubst ja nicht ernsthaft, dass wir dich eineinhalb Stunden alleine mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch den Münchner Großraum gondeln lassen!«

»Harry und Nicole wohnen doch in Laim«, erinnerte ich mich. »Das ist auch nicht neben meiner Schule.«

»Mach dich nicht lächerlich, Lea! Du weißt genau, dass Starnberg und Oma Betty keine Option sind. Außerdem liegt Harrys Kanzlei ums Eck von deinem Gymnasium; er kann dich in der Früh mit dem Auto mitnehmen und absetzen. Mittags wird dich Nicole abholen. Du wirst dich nicht mehr in der Stadt herumtreiben und weiß der Himmel was machen! Du hast unser Vertrauen mit Füßen getreten!«

Ich verstand überhaupt nicht, wovon er eigentlich redete. Wann hatte ich sein Vertrauen mit Füßen getreten? Und was war so schlimm daran, nach der Schule im Englischen Garten spazieren zu gehen?

»Es ist nur zu deinem Besten«, fuhr er fort und klang etwas milder.

*

Harry und Papa kannten sich noch aus Unizeiten. Sie hatten sich ein Zimmer im Studentenheim geteilt und dann für einige Jahre in einer WG gewohnt. Harry war inzwischen ein erfolgreicher Jurist, der die Kanzlei seines Vaters weiterführte, Unmengen Kohle scheffelte und mit den Großen kuschelte. Was letzteres bedeutete, vermochte ich nicht genau zu sagen, aber ich hatte Eva und Papa genau das über ihn sagen hören.

Harry fuhr protzige Autos, spielte Golf und brüstete sich mit seinen zahlreichen Fernreisen, auf denen er in geschützten Korallenriffen tauchte, weil er dem Bootskapitän ein paar Scheine extra zusteckte, oder sich Jagdlizenzen für seltene Tiere in Simbabwe erkaufte. Seine Villa war voll von Erinnerungsstücken dieser Reisen.

Nicole, seine asiatische Lebenspartnerin mit dem französischen Namen, passte da ziemlich gut ins Bild. Langbeinig und hochgewachsen, exotisch und attraktiv, wirkte sie wie eine weitere Trophäe in Harrys Sammlung. Sie war nahezu halb so alt wie Harry, der auf die fünfzig zuging. Ansonsten wusste ich nichts über sie zu sagen, was hauptsächlich daran lag, dass sie selbst wenig von sich gab. Bisher saß sie immer nur dabei, lächelte, nickte hin und wieder bestätigend, wenn Harry es erwartete.

In den zweieinhalb Tagen, die ich bei ihnen verbrachte, kümmerten sich beide auf ihre Weise ziemlich nett um mich. Vermutlich hatten sie Mitleid. Harry glaubte allen Ernstes, es würde mich oder zumindest meine Klassenkameraden beeindrucken, wenn er in seinem Porsche bei der Schule vorfuhr! Auf der morgendlichen Fahrt quasselte er mich mit irgendwelchen Erlebnissen aus seiner Jugend voll, die sich alle um Partys, Alkoholexzesse und Mutproben drehten, und warnte mich davor, mir an ihm ein Beispiel zu nehmen, fand sich im Glanz seiner vergangenen Tage aber wohl megacool. Nebenbei rauchte er eine Zigarette nach der anderen, was die Autofahrten umso unerträglicher machte.

Die Nachmittage mit Nicole entführten mich in eine andere Welt. Ihre einzige Freizeitbeschäftigung bestand darin, die Boutiquen auf der Maximilianstraße abzuklappern, in hippen Bars mit ähnlich gestrickten Freundinnen Cocktails zu schlürfen und Termine bei ihrer Kosmetikerin zu haben. Ein bisschen erinnerte mich ihr Leben an das von Oma Betty. Allerdings hatte Oma Betty immerhin den Schmuckhandel mitaufgebaut und nach dem Tod ihres Mannes noch einige Jahre erfolgreich allein weitergeführt, bis sie ihn gewinnbringend an einen früheren Geschäftspartner verkaufte. Nicole brachte nur täglich die Kreditkarte von Harry zum Glühen.

Gleich am ersten Nachmittag schleppte sie mich von einem Designershop zum nächsten. Dass ich das Anprobieren völlig ihr überließ, verstand sie gar nicht. Immer wieder versuchte sie mir irgendein Klamöttchen schmackhaft zu machen.

»Du brauchst eine Typberatung, Schätzchen, ein Umstyling!«, bekam ich mindestens einmal pro Stunde von ihr zu hören. Hallo?! Ich war vierzehn, mein Taschengeld reichte kaum für ein Glas Orangensaft in einer der Bars, in denen sie ihre Shopping-Pausen verbrachte. Die Preise in den Designerläden schüchterten mich genauso ein wie die arroganten Verkäuferinnen, dennoch lenkten mich die Ausflüge mit Nicole ein wenig von Eva und meiner kleinen Schwester ab – zumindest für ein paar Stunden.

Abends bestellte sie einmal Sushi, am anderen Tag Tofu-Burger. Sie gab sich immer gut gelaunt und freundlich. Langsam begann ich mich zu entspannen und war fast enttäuscht, als nach der Schule Papas Auto vor den Toren stand, um mich aufzusammeln, und nicht Nicoles schickes Mini-Cabrio.

»Deine Sachen sind schon im Kofferraum, ich war vorher schon in Laim und habe sie abgeholt«, informierte er mich anstelle einer Begrüßung.

»Wo fahren wir denn hin?«

»Nach Hause, wohin sonst?«

»Und Eva?«

»Ist jetzt hier im Krankenhaus. Sie wird einige Zeit drin bleiben.«

Ich erfuhr, dass sie einen Kreislaufzusammenbruch erlitten hatte. Mitten in einer Party, auf der sie eigentlich darum kämpfen hatte wollen, ihren Job wiederzubekommen oder zumindest einen neuen zu ergattern, war sie einfach umgekippt. Im Krankenhaus hatte man zu niedrigen Blutdruck, eine Überdosis an Antidepressiva und Untergewicht festgestellt.

Papa hatte sie zurück nach München bringen können – unter der Auflage, dass sie sich in stationäre Betreuung begab. Sie würde in einer Privatklinik am Chiemsee bleiben, bis sich ihr Zustand stabilisiert hatte, was immer das heißen mochte.

»Und ich?«, wagte ich zaghaft zu fragen, nachdem ich mir eine Weile ausgemalt hatte, wie es sein würde, Tag für Tag nach der Schule allein zu sein. Oder auch, wie Papa meine lückenlose Festsetzung in der Wohnung zu überwachen gedachte, wenn er selbst seiner Arbeit nachging.

»Vorläufig haben wir ein Au-pair. Wera, eine junge Russin. Sie wird am Sonntag einziehen.«

»Einziehen? Aber wo wird sie denn wohnen?« Unsere Wohnung war für Münchner Verhältnisse geräumig, aber ein Gästezimmer hatten wir nicht.

Mein Vater atmete tief durch.

»Wir werden Lisas Zimmer für sie herrichten. Wir fahren jetzt zum Möbeldiscounter und kaufen das Notwendigste.«

Als er mein schockiertes Gesicht sah, fügte er hinzu: »Es tut mir auch weh, aber ich sehe im Moment keine andere Möglichkeit. Ob und wann Lisa zurückkommt, steht in den Sternen.«

*

Am Sonntagmittag reihten sich Spielsachen und Kinderkleidung verpackt in Kartons im Flur aneinander, während Papa in Leas frisch gestrichenem Zimmer einen Schrank und ein Regal zusammenbaute. Vier Stunden später stand Wera vor der Tür – eine üppige Zwanzigjährige mit Blondhaar und roten Lippen, deren eigentliche Au-pair-Stelle so kurzfristig abgesagt worden war, dass ihr gar nichts anderes übrig blieb, als zuzugreifen.

Schon als Wera den Stift zückte und haarklein mitschrieb, was Papa sich unter Kinderbetreuung und Haushaltsführung vorstellte, ahnte ich, dass wir nicht die besten Freundinnen würden.

Wera stand pünktlich nach Schulschluss parat, um mich nach Hause zu begleiten. Auf dem Weg zur Wohnung hing sie ausschließlich am Handy und telefonierte auf Russisch, wobei sie immer wieder albern kicherte und ins Telefon gurrte. Zu Hause angekommen, servierte sie mir irgendeinen Kartoffeleintopf mit Fleisch. Dass ich Vegetarierin bin, interessierte sie nicht.

»Iss das!«, herrschte sie mich an. Ich begann, das tote Tier aus dem Allerlei zu picken und um den Tellerrand herum abzulegen. Das brachte sie so auf, dass sie mir den Teller wegzog und das ganze Essen in den Müll kippte. Sekundenlang stand ich fassungslos da, dann schlug die Verzweiflung wie eine Welle über mir zusammen. Weinend rannte ich ins Bad und schloss mich ein.

Die Knie an den Oberkörper gepresst und mit beiden Armen umschlungen, weinte ich um mein Leben. Ich vermisste Lisa! Ich vermisste Eva! Ich fühlte mich so allein und verlassen!

Und dann zog ich wieder meine Hose aus und griff nach dem Cutter. Die Schnitte vom letzten Mal waren verheilt, aber noch deutlich sichtbar. Ich setzte das scharfe Messer auf eine unversehrte Stelle. Sobald das Blut floss, fühlte ich mich besser.

*

Wera ließ sich nicht beirren. Sie kochte weiter Tag für Tag ihre widerliche Eintopfpampe mit Gemüse und Fleisch. Vor lauter Hunger würgte ich das Zeug tapfer hinunter und versuchte, nicht an die Tiere zu denken, die dafür hatten sterben müssen. Hinterher saß ich stundenlang auf dem Badezimmerboden, überzog meine Arme und Oberschenkel mit Schnitten, verzweifelte an meiner Einsamkeit und heulte.

Wenn ich mich irgendwann dann soweit in Griff bekam, um zumindest vom Bad in mein eigenes Zimmer zu wechseln, hing Wera schon wieder am Telefon und palaverte auf Russisch – diesmal übers Festnetz. Danach schaffte sie es gerade noch, die Wohnung zu putzen, ehe Papa über die Türschwelle trat.

Über zwei Wochen lang war er sehr zufrieden mit Wera. Das Parkett glänzte, der Blick durch die Fenster war glasklar und im Bad roch es angenehm nach frischem Zitrusreiniger.

Dann flatterte die Telefonrechnung ins Haus: Wera hatte über 800 Euro nach Russland vertelefoniert – auf seine Kosten!

Er warf sie noch am selben Abend raus.

*

Am ersten Adventssamstag besuchte ich gemeinsam mit Papa Eva am Chiemsee. Es war das erste Mal seit ihrer Abreise nach Berlin, dass ich sie zu Gesicht bekam. In den knapp vier Wochen, die inzwischen vergangen waren, hatte es nicht mal ein Telefonat zwischen uns gegeben. Warum, wusste ich selbst nicht. Ich hatte Papa ab und zu mit ihr telefonieren gehört, aber von ihrer Seite kam wohl nicht viel zurück. Umgekehrt hätte ich auch nicht gewusst, was ich hätte erzählen sollen.

Dass die Schule weiterhin furchtbar war, ich in Mathe eine Fünf geschrieben hatte und beim letzten Deutschaufsatz eine Vier minus bekam?

Dass Papa mich sowohl vom Büro als auch von unterwegs kontrollierte? – Ich musste ihn auf dem Handy anrufen, wenn ich mittags die Schule verließ, und dann nochmal übers Festnetz, sobald ich zu Hause war.

Dass Nicki jetzt mit Daniel aus der Elften zusammen war und Vanessa Meier und ihre Freundinnen am Klo über ihr Erstes Mal schwärmten?

Dass keiner mehr neben mir sitzen wollte, seit Marina verbreitet hatte, ich würde stinken?

Nebelschwaden hingen über dem See, als wir über die Uferstraße zur Klinik fuhren. Es war feucht und kalt. Meine Jacke war viel zu dünn für das miese Schmuddelwetter, aber unsere Wintersachen waren noch im Keller.

Eva wartete in der Eingangshalle der Klinik, die eher wie ein Hotel wirkte als wie ein Krankenhaus. Mir fiel sofort auf, dass sie etwas zugenommen hatte und nicht mehr so blass war. Als sie mich zur Begrüßung umarmte, brach ich in Tränen aus.

Trotz des Wetters wollte Eva mit uns spazieren gehen. Da Papa leider kein Veto einlegte, stakste ich schlotternd in dünner Jacke und Turnschuhen hinter ihnen her.

Eva redete die ganze Zeit: Dass sie von Lisa geträumt hätte. Dass sie nun sicher wisse, dass sie noch am Leben sei und es ihr gut gehe. Dass sie niemals aufhören werde, an ihre Rückkehr zu glauben, und dass sie ab sofort ihre ganze Energie darauf verwenden werde, weiter nach ihr zu suchen. Dass auf die griechischen Ermittler kein Verlass war, weshalb sie nun einen Privatdetektiv engagieren wolle, und wenn ihre gesamten Ersparnisse dafür draufgingen.

Papa sagte ziemlich wenig. Sein Widerspruch blieb aus. Vermutlich wollte er keinen neuen Zusammenbruch riskieren.

Später gingen wir noch über den Weihnachtsmarkt, ehe wir in einem Café in Prien einkehrten. Eva und Papa tranken Glühwein, während ich mich an einer heißen Tasse Tee wärmte. Meine Finger waren klamm, mein Körper ein einziger Eiszapfen. Eva sprach noch immer von ihren Lisa-Träumen und der Idee mit dem Detektiv.

»Und wann wirst du wieder zurückkommen?«, fragte Papa, als sie kurz eine Pause einlegte.

Sie starrte ein paar Sekunden in ihre halbleere Tasse, ehe sie antwortete: »Nach den Feiertagen. Ich kann Weihnachten nicht bei uns zu Hause sein. Der Gedanke, dass wir drei Heiligabend ohne unsere kleine Maus verbringen …!«

Papa kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. »Wir könnten auch wegfahren. Etwas ganz anderes machen. Zum Beispiel nach Thailand fliegen und Weihnachten ausfallen lassen.«

Eva sah ihn an, als hätte er von ihr verlangt, in den eiskalten Chiemsee zu springen. »Wie kannst du das alles nur so von dir wegschieben?«, sagte sie fassungslos. »Außerdem, was ist denn mit Lea? – Sie braucht ihr Weihnachtsfest!«

Papa und ich sahen uns kurz an. Keiner von uns beiden wagte auszusprechen, was klar auf der Hand lag: Wenn Eva hierblieb, würde es sowieso kein Weihnachten für uns geben.

*

Eva kehrte am Freitag vor Silvester in unsere Schwabinger Wohnung zurück. Sie war mit dem Zug gekommen, weil Papa länger im Büro festgehalten wurde und sie nicht wie geplant am Chiemsee abholen konnte. Zunächst schien alles gut zu laufen. Eva ließ sich von mir Apfeltee und Kuchen servieren, den ich extra für sie gebacken hatte. Sie hatte mir sogar ein Weihnachtsgeschenk besorgt – den Schafwollpulli im Norwegermuster, den ich bei unserem Gang über den Christkindlmarkt sehnsuchtsvoll angestarrt hatte, hauptsächlich deshalb, weil mich so sehr fror. Die Wolle kratzte auf der Haut, aber ich freute mich trotzdem, weil das Geschenk bewies, dass ich für Eva wohl doch wieder sichtbar war. Sie hatte mich weiterhin lieb, sonst wäre ihr das mit dem Pulli gar nicht aufgefallen – oder?

Ich bedankte mich mit einem Bussi auf die Wange und kuschelte mich dann auf der Couch an ihre Seite. Einen Moment lang fühlte ich mich so sicher und geborgen wie als kleines Kind, wenn sie mir Geschichten erzählt und Keksbrei gefüttert hatte. Wie hatte sie mir in den letzten Wochen gefehlt!

Irgendwann erhob sie sich. Ein paar Minuten verstrichen, dann hörte ich ihren Aufschrei. Alarmiert sprang ich auf.

Eva stand auf der Schwelle zu Lisas Zimmer. Sie war blass geworden. Fassungslos betrachtete sie den gelben Anstrich, der den zarten Rosaton von einst und die Prinzessin-Lillifee-Bordüre ersetzte, sowie die neuen Möbel.

»Was um Himmels willen …«

Papa hatte ihr das Intermezzo mit Wera, dem Au-pair-Girl, offenbar verschwiegen. Geduldig erklärte ich, was sich ereignet hatte. Ihr Gesicht war so fahl wie vor ihrem Klinikaufenthalt.

»Wo sind Lisas Sachen jetzt?«

»Im Keller.«

»Gut, dann werden wir sie jetzt raufholen!«

Als Papa drei Stunden später aus dem Büro nach Hause kam, hatte Eva mit meiner Unterstützung den neuen Schrank ab- und Lisas kleinen rosa Kasten wieder aufgebaut. In seinem Inneren hingen die alten Kleidchen und Hosen, im Regal reihten sich Teddybären, Puppen, Plastikpferdchen und andere Spielsachen.

Das neue Einzelbett durfte bleiben. Eva überzog es aber mit Lisas Lieblingsbettwäsche – der mit den rosa Katzen.

»Wie kannst du unsere Tochter nur so schnell aufgeben?! Wie kannst du so tun, als wäre sie tot?!«, schleuderte sie Papa entgegen. »Lisa kommt zurück!« Ehe er ein Wort sagen konnte, sperrte sie sich in Lisas Zimmer ein und kam den ganzen Abend nicht mehr heraus.

Meine Hoffnung, dass nach dem Klinikaufenthalt wieder ein Hauch von Normalität in unser Leben zurückkehren würde, fiel in sich zusammen.

Dass ich aus dem Keller direkt meine Wintersachen mit hochgeholt hatte, war zumindest ein kleiner Trost.