Wachsende Gefühle
17.–22. Juli 2018
»Ich weiß gar nicht, was ich mit meinem Publizistik-Studium überhaupt will«, offenbare ich der Psychotherapeutin, als ich meine erste Einzelsitzung bei ihr habe. »Wahrscheinlich werde ich es abbrechen.«
Aber was hat das mit Lisa zu tun? Wegen ihr sitze ich schließlich hier! Was das Verhältnis zu meiner Schwester betrifft, gibt es allerdings wenig zu sagen: Irgendwie verstehen wir uns gut – wenn wir uns denn verstehen. Auch wenn mein Italienisch immer besser wird und wir auf Englisch zurückgreifen, besteht weiter eine Art Sprachbarriere. Lisa bekommt von Gesprächen, die ich mit Eva oder Vater führe, wohl wenig mit. Ich kann mir vorstellen, dass sie sich dabei manchmal ziemlich ausgegrenzt fühlt.
»Warum denn abbrechen?«, erkundigt sich Irmgard. Ich mag die Art, wie sie mit mir spricht: ohne Vorwurf, ohne dieses salbungsvolle Therapeuten-Tremolo in der Stimme.
»Weil ich keine Journalistin werden kann!«
»Und warum?«
Kurz zweifle ich daran, dass diese Frau so arglos ist, wie sie tut. Dann führe ich mir vor Augen, dass sie vom Journalismus wahrscheinlich wirklich keine Ahnung hat, und füge hinzu: »Na ja. Ich bin nicht so … tough und zielstrebig. Ich tue mich schon bei der Recherche schwer, weil ich nicht gern Fremde anspreche und sie um Auskünfte bitte. Ich habe keinen Riecher für tolle Geschichten, und ich hasse es, wenn ich jemandem zu nahe treten muss … um ihn dann vielleicht bloßzustellen.«
»Es gibt viele Arten von Journalismus, oder?«, fragt Irmgard. »Du musst ja nicht gerade eine Watergate-Aufdeckerin werden!«
Ich bin verlegen und amüsiert zugleich. Ihr Vergleich ist vollkommen abwegig. Ich kann weder etwas aufdecken, noch habe ich den Mut, für irgendwelche Ideale meinen Kopf zu riskieren.
»Meine Mutter war da ganz anders«, höre ich mich sagen und wundere mich, warum ich gerade jetzt Esther zur Sprache bringe. »Sie war selbstbewusst und ehrgeizig. Sie hatte überhaupt keine Scheu, auf Leute zuzugehen, sie anzusprechen, auch mal aggressiver zu werden, um ihre Ziele zu erreichen … Sie war total begabt, intelligent und wortgewandt!«
»Du hast deine Mutter offenbar sehr bewundert.«
»Ich habe sie gar nicht gekannt«, gebe ich stockend zu. »Eva hat mir das alles erzählt.«
»Sie ist auch Journalistin, richtig?«
»Ja, aber in einem ganz anderen Bereich. Sie stand meistens vor der Kamera und hat über Lifestyle berichtet … Promis und ihre Häuser.«
»Dann gibt es also viele Möglichkeiten, journalistisch tätig zu sein«, schlussfolgert Irmgard, und ich unterdrücke ein Seufzen. Sie ist wirklich nett, aber sie versteht es anscheinend nicht.
»Eva sieht gut aus und ist eloquent«, starte ich einen neuen Versuch, ihr das Dilemma vor Augen zu führen. »Aber ich … also, ich bin weder eine Eva noch eine Esther, verstehst du?«
»Ja«, sagt Irmgard ruhig, ohne den Blick von mir abzuwenden. »Du bist eine Lea.«
Offenbar ist der Groschen immer noch nicht gefallen.
»Ich bin weder schön noch durchsetzungsstark. So kann ich weder vor der Kamera stehen noch investigative Artikel verfassen.«
»Okay«, sagt Irmgard. »Dass du die Dinge so siehst, überrascht mich schon. Bisher bist du mir so positiv vorgekommen!«
Positiv? Ich? Fast muss ich lachen.
»Aber irgendetwas kannst du gut«, fährt Irmgard dann fort. »Denn wenn ich Lisa spreche, redet sie fast ausschließlich von dir, und alles, was sie sagt, klingt nach Zuneigung und Bewunderung.«
Bitte? Ich runzle die Stirn.
»Aber … wir haben gar nicht viel miteinander gemacht.«
»Das kann ich nicht beurteilen.« Irmgard hebt die Schultern. »Ich kann dir nur versichern, dass sie sehr oft von dir spricht. Sie findet dich lustig. Sie vertraut dir. Sie sagt, dass sie gerne mit dir etwas alleine unternimmt, weil es immer Spaß macht und sie dir alles erzählen und zeigen kann.« Dann sieht sie auf die Uhr. »So leid es mir tut, Lea – wir müssen jetzt Schluss machen. Wenn ich dich in vierzehn Tagen das nächste Mal sehe, erwarte ich von dir eine Liste mit mindestens fünf Punkten, die du selbst an dir gut findest.«
»Aber … was hat das denn mit Lisa zu tun?«, protestiere ich. Schließlich bin ich doch nicht die Patientin; ich habe das schon hinter mir!
»Nichts«, sagt Irmgard und lächelt. »Oder auch alles. – Du kannst es dir aussuchen.«
*
Fünf Punkte, die ich an mir gut finde.
Was auch immer Lisa wirklich an mir bewundert – mir fällt nicht ein, was das sein könnte, und ich bin sicher, das wird in zwei Wochen nicht wesentlich anders aussehen.
Gefangen in der Vorstellung, dass ich Irmgard beim nächsten Treffen nur einen leeren Zettel in die Hand drücken kann, trete ich aus dem düsteren Treppenhaus hinaus auf die Straße – und pralle gegen einen Lenker.
»Tschuldigung!«, stammele ich verlegen.
Es ist Jakob mit seinem Fahrrad. Als er mich erkennt, schüttelt er nur den Kopf. »Also, du und deine Schwester, ihr habt es anscheinend wirklich auf das einzige wertvolle Teil abgesehen, das ich besitze.«
Ich sage erst einmal nichts. Denn eigentlich bin ich nicht gut auf ihn zu sprechen. Zwei SMS habe ich ihm auf seine Handynummer geschickt, dass ich ihm das geliehene Geld zurückgeben will. Er hat mir einfach nicht geantwortet.
»Hallo. Erde an Lea.« Jakob wedelt mit seiner Hand vor meinem Gesicht herum. »Ist alles okay bei dir?«
»Ja. Klar.« Ich bemühe mich um einen lockeren Tonfall, obwohl ich mich gerade gar nicht entspannt fühle. Ich verstehe eh, dass er meine SMS ignoriert hat. Er kennt sicher genug Frauen, die mehr zu bieten haben als ich, und außerdem … ich wollte ihm wirklich das Geld zurückzahlen! Vermutlich hat er es aber falsch aufgefasst.
»Gut, dass wir uns treffen.« Ich krame schon einen Schein aus meiner Tasche und drücke ihn ihm in die Hand. »Da kann ich endlich meine Schulden begleichen.«
Jakob verdreht die Augen. »Warte hier. Bin gleich wieder da.« Er schultert sein Rad und nimmt schon die erste Stufe.
»Wohin gehst du?«
»Wechselgeld holen«, kommt es von ihm zurück. »Du kriegst noch was zurück!«
Schon ist er um die Ecke gebogen und außer Sicht. Das anhaltende Klappern seines Fahrrads verrät, das er ziemlich weit oben wohnen muss.
Ich stehe im Treppenhaus und komme mir ziemlich dämlich vor. Warum hab ich nicht einfach gesagt, stimmt so! Jetzt muss ich mir von ihm ein paar Münzen rausgeben lassen. Wie peinlich! Und wieso lässt er mich hier stehen? Wofür hält er mich? Für eine Trickdiebin, die ihm die Wohnung ausraubt? Ich überlege, einfach zu gehen, traue mich aber nicht.
Als er nach einer Zeit, die mir fast endlos vorkommt, wieder auftaucht, trägt er einen Rucksack am Rücken.
»Komm«, sagt er und geht nach draußen.
»Wo ist nun das Wechselgeld?«
»Im Rucksack.« Zügig überquert er die Straße. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Knapp bevor die Türen zugehen, hüpft er in die bereitstehende Straßenbahn und zieht mich mit sich. Drinnen im Gedränge gibt er meine Hand sofort wieder frei.
»Oh, Lea.« Er verzieht das Gesicht. Dann grinst er. »Bist du heute irgendwie schlecht drauf?«
»Nein! – Aber ich wollte dir eigentlich nur …«
»Schön. Und ich will mit dir in den Türkenschanzpark.«
»Was?« Einen Moment lang sehe ich vermutlich so dumm aus, wie ich mir vorkomme. »Das geht aber nicht, ich muss nach Hause!«
»Warum?«
»Weil meine Eltern, also, eigentlich nur meine … Mutter, die wartet!« Ich stocke bei dem Wort Mutter. Aber meine Lust, Jakob unsere Familienverhältnisse aufzutröseln, hält sich in Grenzen.
»Du hast doch ein Handy. Ruf an und sag, dass du später kommst!«
»Das geht nicht.«
»Warum nicht?«
Ja, warum eigentlich nicht? – Weil es bisher immer so war. Nach allen Terminen ging ich gleich brav nach Hause zurück –um Ärger zu vermeiden, aber auch, weil ich sowieso keine anderen Pläne hatte. Trotzdem …
»Es geht nicht«, wiederhole ich. »Sie … hat gekocht.«
Mein Vater geht heute zu einem Geschäftsessen. Eva ist mit Lisa allein. Was, wenn Lisa wieder einen ihrer Ausbrüche kriegt und Eva hysterisch wird?
»Ruf sie an und sag ihr, sie muss nicht warten«, schlägt Jakob unbekümmert vor. »Sie ist ja nicht allein, oder? Da gibt’s ja noch den kleinen blonden Teufel.«
Nett ausgedrückt. Jetzt muss sogar ich grinsen.
Jakob grinst zurück, und da ist wieder dieses komische warme Gefühl in mir. Als wir schließlich in einen Bus umsteigen, fällt es mir plötzlich ganz leicht, zum Handy zu greifen und Eva zu sagen, dass ich mich noch mit jemandem treffe und später komme.
Erstaunlicherweise macht sie kein größeres Theater.
»Schade, wir wollten ja Pizza machen«, sagt sie, und stimmt ja: Das war in der Früh noch unser Plan gewesen, auch Lisa hatte sich darauf gefreut.
»Könnt ihr doch trotzdem. Ohne mich eben.«
»Ja.« Eva zögert. »Mit wem bist du unterwegs?«
»Mit Jacqueline, einer Studienfreundin. Wir haben uns zufällig getroffen und gehen noch was trinken.«
Jakob wirft mir einen erstaunten Blick zu, den ich ignoriere.
»Nimm ein Taxi, wenn es später wird. Ich zahle das, okay?«
»Okay«, versichere ich. »Aber so spät wird es nicht.«
»Woher willst du das jetzt schon wissen?«, fragt Jakob, als ich aufgelegt habe. »Vielleicht gefällt es dir ja.«
»Was?«
»Das, was wir jetzt gleich tun werden.«
Die Ankündigung weckt Ameisen in mir. Zu meiner Beruhigung ist der Park ziemlich belebt. Jogger drehen ihre Runden; Mütter mit Kinderwägen und ein paar Senioren ziehen an uns vorbei. Es ist fast sechs Uhr und ein lauer Sommerabend.
Jakob bringt mich zu einer Wiese, auf der sich schon einige Leute niedergelassen haben, und steuert zielstrebig eine Baumgruppe an. Auch hier haben es sich schon ein paar auf einer riesigen Picknickdecke bequem gemacht – zwei Typen und ihre Begleiterinnen. Ich erkenne sie wieder; es sind Paul und Jonas, mit denen wir am Alten AKH am Tisch saßen und die mit Lisa herumfeixten. Sie begrüßen mich wie alte Bekannte.
Die zwei Mädels sind in meinem Alter, vielleicht auch etwas älter, Judith und Carina heißen sie. Wie immer in Gruppen, fühle ich mich sofort ziemlich unbehaglich. Jakob lässt mir aber keine Zeit, über einen höflichen Rückzug nachzudenken, sondern wirft mir eine Bandrolle zu.
»Halt mal!«
Mit dem Band geht er zu einem Baum und befestigt es; dann nimmt er das Endstück und zieht es über etliche Meter zum nächsten Baum. Das Ergebnis ist eine Slackline, wie ich sie schon des Öfteren gesehen habe.
»Erst essen oder erst Sport?«, fragt er in die Runde.
»Beides«, antwortet Judith mit den braunen kurzen Haaren, die offenbar Pauls Freundin ist. Aus einem Korb holt sie ein paar Plastikboxen, Pappteller und Besteck, während Jakob aus seinem Rucksack eine Dose mit Hummus, Weißbrot und Pfirsiche hervorzaubert. Wir sitzen da, essen, trinken Apfelsaft aus Pappbechern. Nur Paul und Jonas trinken Bier. Anfangs weiß ich nicht recht, was ich reden soll, also höre ich nur zu. Die anderen unterhalten sich über irgendwelchen Unikram – Seminare, die sie im nächsten Semester besuchen müssen, Professoren, Prüfungen. Ich frage mich, wie Jakob, der ja schon mitten im Berufsleben steht, in diese Gruppe passt. Woher kennt er sie?
Ich beschließe, ihn in einer ruhigen Minute zu fragen. Doch er und Paul balancieren jetzt auf der Slackline. Jakob stellt sich ziemlich gut an; ich vermute, er hat Übung.
Judith, Carina und Jonas unterhalten sich derweil über ihre Ferienpläne. Carina und Jonas wollen Last-Minute fliegen, egal wohin, Judith und Paul haben einen Urlaub gebucht – auf Kreta.
»Und was habt ihr vor?«, erkundigt sich Carina bei mir.
Mein Magen zieht sich zusammen.
»Ich weiß noch nicht«, sage ich ausweichend.
»Ach, wie ich Jakob kenne, düst er kurz entschlossen nach Italien und klappert seine Verwandten an der Amalfi-Küste ab!«, lächelt Judith, und mir wird schlagartig klar, dass sie Jakob und mich gemeint hat! Hupps!
Ich will das Missverständnis gerade aufklären, als er mich zu sich winkt.
»Mach du doch mal, Lea!«
Ich betrachte das Band, schüttle den Kopf.
»Ich kann das nicht.«
»Probier’s zumindest mal.«
Er ist so hartnäckig, dass ich mich breitschlagen lasse. Mit Jakobs Hilfe schaffe ich es, beide Füße auf das Band zu stellen, das sich bedenklich senkt. Ich brauche eine Weile, um die Balance zu finden. Aber dann ist alles ganz einfach. Als hätte ich noch nie etwas anderes gemacht, balanciere ich auf der wackeligen Leine entlang bis zum Baum gegenüber.
»Wow, cool!« Jakob ist beeindruckt, die anderen auch.
»Gib’s zu«, fordert Judith, »du machst Ballett oder irgendetwas, das deinen Gleichgewichtssinn trainiert!«
Ich schüttle den Kopf. »Nein, das war bestimmt Zufall. Beim nächsten Mal klappt es sicher nicht so.«
Aber es klappt. Wieder und wieder balanciere ich über die Slackline und merke gar nicht, dass mein Publikum immer größer wird. Einige andere Parkbesucher haben sich um uns versammelt und sehen mir begeistert zu. Irgendwann wird mir die plötzliche Aufmerksamkeit unheimlich. Ich flüchte zurück auf die Picknickdecke und werfe einen Blick auf die Uhr. Zeit zu gehen! Vor mir liegt noch eine ganze Stunde Fahrt.
Jakob begleitet mich in Richtung Parkausgang.
»Und? Wann sehen wir uns wieder?«, erkundigt er sich beiläufig.
»Keine Ahnung. Wenn du aus Italien zurück bist?«
»Wer sagt denn, dass ich nach Italien fahre?«
»Judith.«
»Da weiß sie mehr als ich. Ehrlich gesagt, habe ich bis jetzt noch nicht mal Urlaub eingereicht.«
Ein ganzes Stück gehen wir schweigend nebeneinander her. Ich würde gern etwas sagen, doch mein Kopf ist wie leergefegt.
»Wenn ich doch noch spontan wohin wollte, könntest du ja mitfahren«, sagt Jakob unvermittelt.
Entgeistert schaue ich ihn an.
»Wir kennen uns doch kaum.«
»Es ist aber auch echt schwierig, dich kennenzulernen! Du lässt dich ja nur zu einem Treffen überreden, solange du glaubst, dass du mir Geld schuldest.«
Mein Magen verkrampft sich zum zweiten Mal seit unserem heutigen Zusammentreffen. Ich wusste es! Er findet mich seltsam. Spätestens jetzt hat er kapiert, dass mit mir irgendwas nicht stimmt. Mit gesenktem Blick setze ich meinen Weg fort.
»Aber jetzt stehen die Dinge anders«, fährt er unbeirrt fort. »Jetzt schulde ich dir Geld. Wechselgeld! Und das kann ich dir nicht zurückgeben, weil – o weh – kein Kleingeld mehr in meinem Geldbeutel ist. Du weißt, was das bedeutet, oder?«
Ich will nur noch nach Hause und mich verkriechen. Weil ich keine Ahnung habe, was er meint, antworte ich, ohne ihn anzusehen: »Du kannst es behalten.«
»Blödsinn, ich will dir doch nichts schuldig bleiben!« Er stellt sich vor mich und hindert mich daran, weiterzugehen. »Das heißt: Wir müssen uns unbedingt bald wiedersehen, um diese Schuld endgültig zu tilgen!«
»In vierzehn Tagen bin ich wieder alleine im achten Bezirk.«
»Vierzehn Tage? – So lange will ich nicht warten! Wie wäre es mit Samstag?«
Automatisch suche ich nach einer Ausrede, ohne genau zu wissen, weshalb. Ich finde ihn nett und witzig, es war ein schöner Abend mit ihm und seinen Freunden, aber … ich bin unsicher, woran ich bei ihm bin.
»Okay«, willige ich zögernd ein. »Dann komme ich eben am Samstag in die Stadt.«
»Wunderbar.« Wir sind am Parkausgang angekommen. »Ich melde mich noch wegen Treffpunkt und Uhrzeit. Irgendwelche Vorlieben?«
Vorlieben?
Mein entsetzter Blick muss Bände sprechen, denn Jakob fügt gleich hinzu: »Was wir unternehmen können, meine ich.«
Ich bin so verwirrt, dass ich nur ein »Egal« herausbringe. Wir verabschieden uns, wobei mich Jakob sogar lose umarmt. Sein Bart kratzt an meiner Wange.
Als ich in der S-Bahn nach Mödling sitze, piepst mein Handy.
Es ist echt Schwerstarbeit, sich mit dir zu verabreden, aber yeahhh! Freue mich auf Samstag. Jakob.
Mein Herz flattert in meiner Brust – ob vor Aufregung oder aus Angst, vermag ich in diesem Augenblick nicht zu sagen.
Als ich in unsere Gasse biege, sehe ich Papas Auto davor stehen und wundere mich.
Im Haus riecht es nach Pizza. Papa und Eva sitzen auf der Terrasse und trinken Wein. Dass ich ihn in kurzer Hose und Freizeithemd gesehen habe, liegt ewig zurück. Er sieht aus, als wäre er auf einer Grillparty.
»Wolltest du heute Abend nicht mit Kunden essen?«, frage ich. Papa und Eva, die mein Kommen anscheinend überhaupt nicht bemerkt haben, heben den Kopf.
»Hallo erst einmal, liebes Töchterlein«, erinnert er mich mit übertriebener Höflichkeit, dass ich auf eine Begrüßung verzichtet habe. »Schönen Abend gehabt?«
»Ja, war okay.«
Innerlich schicke ich ein Stoßgebet zum Himmel, dass er nichts Näheres wissen will. Ich hasse es, ihn anzulügen, aber dass ich mit dem Typen unterwegs war, dem er so überheblich fünfzig Euro in die Hand gedrückt hat, will ich ihm auf keinen Fall auf die Nase binden.
»Dein Vater hat sein Geschäftsessen abgesagt, um mit uns Pizza zu essen«, ruft Eva. Sie wirkt zufrieden, fast glücklich.
»Und wo ist Lisa?«
»Im Bett. Das Teigkneten hat sie völlig fertiggemacht.«
Das ist ja mal etwas Neues. Zumindest kennen wir nun eine wirksame Methode, um ihre Energien einzubremsen.
Ich gehe nach oben. Auf dem Weg in mein Zimmer öffne ich Lisas Türe einen kleinen Spalt. Zu meiner Überraschung brennt ihre Nachttischlampe. Sie liegt verkehrt herum im Bett, das Kinn auf die Hände gestützt, und schaut aus dem Fenster in den hell erleuchteten Garten der Müllners. Dort herrscht mal wieder Highlife. Auf laute Musik haben sie diesmal verzichtet, doch im Pool planschen Leute, und die Terrasse wird von Lampionketten gesäumt. Auf dem Sprungturm steht eine der Enkelinnen.
Warum wir keinen Swimmingpool haben, will sie wissen.
Weil wir jetzt erst wieder zu leben beginnen?
Keine Ahnung, antworte ich stattdessen. »Devi chiederlo alla mamma e al papà.« Sie soll unsere Eltern fragen. Vielleicht bauen die ihr ja einen kleinen Pool im Garten?
Lisa seufzt. »Non voglio una piscina. Voglio ritornare al mare.« Ein Pool reicht ihr nicht, sie will zurück ans Meer.
Zu meiner Bestürzung beginnt sie bitterlich zu weinen. Ich schließe die Tür, damit Eva nichts davon mitbekommt, und ziehe sie in meine Arme. Mir tut sie so unglaublich leid. Von uns allen ist sie die Person, die am meisten verloren hat: zweimal ihr Zuhause, einmal mit vier, dann mit elf. Menschen, die sie als ihre Eltern kannte. Ein abenteuerliches Leben auf See.
Ich weiß nicht, wie ich sie da trösten kann, und lasse sie einfach nur weinen. Irgendwann wird ihr Schluchzen weniger. Wie ein kleiner schlaffer Vogel liegt sie auf mir und sieht mich mit großen traurigen Augen an.
Ob der Abend etwa nicht schön war, frage ich vorsichtig.
»Si. Non hanno litigato. La pizza era buonissima!«
Immerhin haben sie nicht gestritten, und die Pizza hat wohl super geschmeckt. Aber was ist dann los?
Sie richtet sich auf.
Ihr fehlen das Meer, das Schiff, ihre anderen Eltern. Und es hat ihr nicht gefallen, dass ich abends nicht daheim war.
Zumindest lässt Lisa einen nicht im Unklaren, was in ihr vorgeht. »Dove sei stata?«, schießt sie so vorwurfsvoll nach, dass ich fast lachen muss. Ein bisschen klingt sie schon wie Eva, die ewig Besorgte.
Ich habe mich mit Freunden getroffen, erzähle ich ihr.
Von einer Sekunde auf die andere ist die Traurigkeit verschwunden. Mit lauerndem Gesichtsausdruck fragt sie: »Anche il tuo ragazzo?«
Ich verdrehe die Augen. Schon wieder diese nervige Frage nach meinem Freund! »Non ho un ragazzo!«, wiederhole ich.
»Ma … forse presto!«
Vielleicht bald? Na warte. Ich bohre ihr meine Finger in die Rippen und genieße mit einem Anflug von Sadismus, wie sie sich kichernd auf der Matratze windet und nach Luft schnappt.
»Per favore … per favore … smettila … smettila!«
»Non capisco«, gebe ich ungerührt vor und kitzle weiter. Lisa ringt nach Atem. Selbst in der Dunkelheit sehe ich, dass ihre Wangen glühen.
»Per favore, per favore …«, stößt sie weiter hervor, und plötzlich, ganz klar, kommt es über ihre Lippen: »Hör auf!«
Ruckartig lasse ich von ihr ab. Wir schauen uns beide an. Sie ist über ihr plötzliches Deutsch genauso schockiert wie ich. Meine Vernunft sagt mir, dass es besser ist, jetzt kein großes Theater darum zu machen. Wer weiß, ob sie sonst so schnell wieder etwas sagt, wovon niemand ahnte, dass sie es überhaupt auch nur versteht?
»Na bitte, geht doch«, sage ich daher nur und stehe auf. »Ich gehe jetzt auch ins Bett. Gute Nacht. Träum süß und sei brav.«
Sie hat mich ganz genau verstanden. Das zeigt ihre Antwort, auch wenn sie sie mir auf Italienisch gibt: Sie könne nicht schlafen und gleichzeitig was Schlimmes anstellen.
»Da bin ich mir nicht so sicher«, erwidere ich schmunzelnd.
Sie breitet in einer theatralischen Geste die Arme aus und lächelt unschuldig. Ich gehe und schließe die Tür. Drinnen höre ich sie kichern.
Als ich im Bett liege, denke ich über meine neu gewonnenen Erkenntnisse nach, und mir wird klar, dass ich schon drei Dinge für Irmgards Liste habe, von denen ich jetzt weiß, dass ich sie kann und an mir gut finde:
Ich kann auf einer Slackline balancieren.
Ich kann Lisa dazu bringen, Deutsch zu sprechen.
Ich kann Lisa aufheitern, wenn sie traurig ist.
Kein schlechter Anfang, eigentlich.
*
Ich sitze im Liegestuhl und lese Kleine Feuer überall von Celeste Ng, ein Buch, das seit Wochen in den Bestsellerlisten ganz weit oben rangiert. Es ist – von der Autorin sicher unbeabsichtigt – eine sehr tröstliche Lektüre, immerhin geht es um Familienverhältnisse, die noch chaotischer und desolater sind als unsere.
Die Sonne scheint auf meine Beine. Da ich im Moment alleine bin, habe ich die lange Hose ausnahmsweise ausgezogen. Meine Haut ist blass, fast weiß. Trotzdem sind die wulstigen Narben auf meinen Oberschenkeln noch heller als der Rest. Ich finde, es sieht unheimlich abstoßend aus.
Bin einkaufen, hat mich Eva auf einem am Küchentisch hinterlegten Zettel wissen lassen, den ich beim Aufstehen fand.
Ich denke an Jakob. In der Früh hat er mir ein Foto geschickt, es zeigt ihn irgendwo am Donaukanal.
Auf dem Weg zur Arbeit, hat er darunter geschrieben. Vergiss unser Date am Samstag nicht!
Hinter dem Ausrufezeichen hat er ein Zwinkersmiley gesetzt, weil wir natürlich gar kein Date haben, sondern bloß ein Treffen.
Ich komme nicht weiter dazu, mir den Kopf zu zerbrechen, was Jakob überhaupt am Samstag mit mir unternehmen will, als ich den Schlüssel in der Tür höre. Eva kommt zurück, ich höre sie in der Küche Tüten abstellen und auspacken. Schnell lege ich mir schnell ein Handtuch über die Beine.
»Ah, du sitzt schon in der Sonne!«, stellt Eva fest, als sie die Terrasse betritt. Ihre Augen mit der Hand gegen das grelle Licht abschirmend, lässt sie ihren Blick durch unseren kleinen Garten schweifen. »Schläft Lisa etwa immer noch?«
Ihre Frage beschleunigt sofort meinen Herzschlag und beschert mir ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Lisas Zimmer war leer, als ich auf dem Weg ins Badezimmer einen Blick hinein warf. Ich hatte angenommen, dass sie mit zum Einkaufen gefahren ist. Bis jetzt.
Eva weiß meinen Gesichtsausdruck zu deuten. Sofort weicht alle Farbe aus ihren Wangen.
»Sag bitte nicht, dass du noch nicht nach ihr gesehen hast!«
»Doch.« Ich klappe das Buch zu und schlüpfe in meine Hose. »Sie war definitiv nicht mehr im Haus, als ich aufgestanden bin!«
Eva schnappt nach Luft und greift reflexartig zum Telefon.
»Ich rufe die Polizei an.«
»Eva, nein! Die halten uns schon für völlig irre!«, protestiere ich. »Lass uns doch erst mal nach ihr suchen!«
»Ja, wo denn?!« Sie lässt das Handy sinken, klingt aber aufs Höchste alarmiert. »Sie kann überall sein! Vielleicht sitzt sie sogar schon im Zug nach Italien!«
Voglio ritornare al mare.
So ganz unberechtigt ist Evas Vermutung nicht. Trotzdem will ich das nicht gleich annehmen. Immerhin hat sich Lisa gestern Abend doch recht wohlgefühlt. Ich lasse mir unser Gespräch durch den Kopf gehen. Auf einmal weiß ich es.
»Gib mir fünf Minuten«, sage ich. »Ich regle das.«
Ich fühle mich wie eine Kreuzung aus Suchhund und Rachegöttin, als ich hinübermarschiere zu unseren Nachbarn und an der Tür klingle, vor der ich in all den Jahren noch nie gestanden bin. Aus dem Garten höre ich Gelächter und Geschrei. Auch der Ghettoblaster ist bereits wieder in Betrieb.
Elke Müllner öffnet im geblümten Sommerkleid. Wie immer wirkt ihr Pagenschnitt, als käme der Kopf frisch aus der Betonschalung.
»Ist meine Schwester hier?«, frage ich, obwohl ich die Antwort schon kenne.
»Ja.« Die Müllner sieht mich irritiert an. »Gibt es ein Problem?«
Ich sehe in ihrem Gesicht noch ganz andere Fragen, die sich allesamt auf Lisa und unsere Familiensituation beziehen, doch sie ist zu höflich, um sie zu stellen.
»Nein. Ich müsste sie nur kurz sprechen.«
»Tja, dann kommen Sie doch am besten herein.« Elke Müllner öffnet die Türe. »Die Mädchen sind gerade im Pool.«
Klar, wo auch sonst.
Lisa und eine der Enkelinnen bespritzen sich soeben mit Wasser, während die andere auf einem aufblasbaren Einhorn herumturnt. Ich sehe sie zum ersten Mal aus der Nähe. Beide sind älter als Lisa, aber doch erst ganz frisch in der Pubertät. Insgesamt wirkt das Dreiergespann, als würde es sich schon ewig kennen.
»Ciao, Lea!« Lisa hat mich entdeckt und winkt mir freudestrahlend zu. Es fällt mir schwer, streng zu bleiben. Doch dann denke ich an Eva, die sich sorgt, und meine Wut ist zurück.
»Komm bitte kurz raus!«
Lisa sieht mich verwundert an, klettert dann aber aus dem Pool. Im Bikini und mit triefendem Haar steht sie vor mir.
»So geht das nicht, meine Liebe! Du kannst nicht einfach kommen und gehen, wie es dir passt! In jeder Familie gibt es Regeln. Und eine von unseren Regeln lautet, man sagt Bescheid, ehe man geht! Kapiert?«
Lisa blinzelt unsicher.
»Und in deinem Alter fragt man vorher, ob man irgendwo hingehen darf, klar?«
»Non capisco una sola parola!«
Sie hat kein Wort verstanden. Behauptet sie.
Trotz steht in ihren Augen. Sie will sich umdrehen und zurück ins Wasser, doch ich packe sie an der Hand und halte sie zurück. Lisa windet sich in meinem Griff.
»Du verstehst mich ganz genau! Um ein Uhr gibt es Mittagessen. Spätestens dann stehst du bei uns vor der Tür. Wenn nicht, ziehe ich dich an den Haaren aus dem Pool und schleife dich den Asphalt entlang nach Hause, und da kannst du heulen und protestieren, so viel wie du willst!«
Ich lasse ihre Hand los. Lisa straft mich mit einem letzten saueren Blick, dann springt sie vom Beckenrand, und die wilde Wasserschlacht mit den Enkelinnen geht weiter.
»Es tut mir leid, ich dachte, Sie wüssten Bescheid«, entschuldigt sich Elke Müllner, als sie mich zum Ausgang begleitet. »Sonst hätte ich ihr gesagt, dass sie nicht hierbleiben kann. Aber sie hat so lieb gefragt – und da dachte ich, es wäre für sie eine schöne Gelegenheit, Anschluss zu finden.«
Prinzipiell ein sehr netter Zug.
»Wir haben uns einfach nur Sorgen gemacht.« Ich seufze. »Sich abzumelden war noch nie ihre Stärke.«
Die Müllner gibt ein glucksendes Lachen von sich, hält sich dann aber sogleich erschrocken die Hand vor den Mund.
»Entschuldigen Sie. Ich wollte nicht … also, ich wollte nicht respektlos sein. Sie und Ihre Eltern müssen Schreckliches durchgemacht haben!«
»Kein Problem. Danke, dass Lisa bei Ihnen planschen darf.« Ich schenke ihr ein Lächeln. Auf der kleinen Treppe hinab zur Straße drehe ich mich noch einmal zu ihr um.
»Rein interessehalber: In welcher Sprache hat sie Sie denn angesprochen?«
»Auf Englisch.«
Ich grinse. Sich um meine Schwester Sorgen zu machen, ist reine Energieverschwendung. Lisa weiß sich durchzuschlagen. Wahrscheinlich könnte ich von ihr sogar noch was lernen.
*
Mein Vater macht fünf Riesenschritte nach vorne, vier zur Seite. Dann kniet er sich auf den Rasen und misst alles mit dem Metermaß nach.
»Das müsste sich ausgehen!«, ruft er Eva zu, die auf der Terrasse gerade den Teakholztisch deckt. Papa stand am Nachmittag überraschend mit zwei großen Kartons vor der Tür. Den ganzen Nachmittag haben er und ich damit verbracht, die Gartenmöbel zusammenzubauen. Zu meinem Erstaunen hat mir die Arbeit mit Schraubenschlüssel und Akkubohrer echt Spaß gemacht. Es war außerdem nett, gemeinsam etwas zu werkeln.
Auch wenn ich nicht ganz weiß, warum mein Vater jetzt durchs Gras robbt und was genau sich ausgehen sollte, erinnert mich das alles an früher: als er mit uns in Oma Bettys Garten ein Baumhaus baute, und Eva mit Kuchen für Stärkung sorgte.
Diesmal ist es jedoch kein Kuchen, sondern die Lasagne, die im Moment noch im Backrohr vor sich hinbrutzelt.
»Was misst du da aus?«, erkundige ich mich, als er nun mit zufriedenem Gesichtsausdruck zurück an den Tisch kommt.
»Ich habe heute im Baumarkt so einen Fertigpool entdeckt. Ein rundes Ding, einfach aufzubauen, fünf Meter Durchmesser, eins zwanzig tief.«
»Also ich bin dafür, bis nächstes Jahr zu warten und dann einen richtigen Pool bauen zu lassen«, wirft Eva ein. »So ein Provisorium ist doch nichts. Man könnte eine richtige Schwimmlandschaft entwerfen lassen, wie bei den Müllners!«
Als hätte sie das Stichwort gegeben, wird nebenan der Ghettoblaster angeworfen. In voller Lautstärke dröhnt Gangsterrap zu uns herüber, ehe eine mahnende Stimme die Hasspredigt durchbricht und drosselt.
Diese Wahnsinnigen, geht mir durch den Kopf, und ich meine nicht die Enkelinnen, sondern meine Eltern.
»Wieso wollt ihr denn plötzlich einen Pool bauen?«
Die beiden sehen mich an, als sei ich nicht ganz dicht.
»Na, weil sie so gerne schwimmt!«, sagt mein Vater, und Eva bekräftigt: »Sonst wäre sie ja jetzt nicht jeden Nachmittag bei den Müllners!«
Ich unterdrücke ein Seufzen. »Deshalb ist sie nicht bei den Müllners.«
»Nicht?«
»Nein. Die schwimmen nicht. Die stehen nur im Wasser, spritzen sich an, kichern herum oder massakrieren sich gegenseitig. Also, spart euch das mit dem Pool. Sie ist bei den Müllners ganz zufrieden.«
»Aber … wir sehen sie dann ja kaum mehr!«
Eva wirkt geknickt. Tatsächlich hat Lisa schon den zweiten Nachmittag in Folge im Garten unserer Nachbarn verbracht. Jedes Mal war sie bei ihrer Rückkehr aufgekratzt und fröhlich.
»Dieses Kind ist noch nicht einmal in der Pubertät und schon ständig unterwegs«, haut Papa in dieselbe Kerbe. »Mit dir war das doch auch nicht so!«
Das wiederum ist ein anderes Thema, aber sicher eines, das eher in die Sitzungen mit Irmgard gehört.
»Sie ist eben anders«, sage ich knapp. »Sehr selbstständig.«
»Hmm, ja.« Ich sehe Papas Gesicht an, dass er diese Erkenntnis erst verdauen muss. »Übrigens, wir fliegen am Freitagabend nach Genua.«
»Was?«Ich falle fast vom Stuhl vor Schreck.
Genua, das passt so gar nicht in meinen Plan. Was auch immer Jakob am Samstag für Pläne hat – ich will ihn treffen.
»Du nicht.« Es scheint, als könne mein Vater plötzlich Gedanken lesen. »Es gibt einen potenziellen Käufer für die Sea Star, und ich muss das Geschäft gemeinsam mit einem italienischen Notar abwickeln. Eva wird mich begleiten.«
»Ich will die Sachen von Lisa aus dem Schiff holen.« Evas Einwurf klingt wie eine Rechtfertigung dafür, dass sie mit Papa nach Genua fliegen will – eine Entwicklung, die mich positiv überrascht. »Da ist wohl noch einiges in der Kabine.«
Ich denke an das Fotoalbum, sage aber nichts. Ich kann Eva nicht dauerhaft von solchen Dingen abschirmen.
»Wir würden Lisa gerne hier lassen – wenn das für dich okay ist.« Mein Vater spricht voller Überzeugung, während sich Eva neben ihm nahezu windet. Spätestens jetzt begreife ich, dass die beiden das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden und tatsächlich ein Wochenende zu zweit verbringen wollen. Nur mit Mühe kann ich mein Grinsen verbergen. Aber noch schöner ist, dass sie mir nach langen Jahren endlich wieder vertrauen, Irmgard sei Dank. Darüber könnte ich vor Freude heulen.
»Ist das okay für dich?«, fragt Eva jetzt nochmal vorsichtig, und ich nicke, auch wenn mein Babysitter-Dienst Auswirkungen auf meine Samstagsgestaltung haben dürfte. Ich werde eine Lösung finden, nehme ich mir vor, während Lisa nun frisch geduscht, sonnengebräunt und in Shorts und T-Shirt auf die Terrasse spaziert, ein Handtuch wild um das nasse Haar gewickelt.
Ein fröhlicher Schwall Italienisch ergießt sich über uns, und wir erfahren so ziemlich alles, was wir über unsere Nachbarn gar nicht wissen wollten: von Herrn Müllners defektem Hörgerät bis zu der Gallen-OP seiner Frau, von der Arbeitslosigkeit der Schwiegertochter bis zur versemmelten Beförderung des Sohnes, von deren Ehekrise und dem Grund, weshalb Sina und Hanna so oft bei den Großeltern sind. Da Lisa nicht gerade leise spricht, hoffen wir darauf, dass die Müllners auf ihrer Terrasse nebenan kein Italienisch verstehen.
Während Lisa mit Begeisterung die schmutzigen Details vor uns ausbreitet, frage ich mich unwillkürlich, was sie den Enkelinnen im Gegenzug über uns erzählt hat.
Außerdem keimt in mir ein toller Plan, was den Samstag und mein Treffen mit Jakob betrifft: Wenn Lisa jetzt jeden Tag bei den Müllners herumhängt, warum sollte das ausgerechnet am Wochenende anders laufen?
*
Den Freitagabend verbringen Lisa und ich schwesterlich auf dem Sofa und schauen Disneyfilme auf dem Laptop. Wie viel Lisa wirklich versteht, traue ich mich nicht zu sagen, aber sie futtert begeistert Chips und Popcorn und beklagt sich nicht. Als meine Eltern gegen elf Uhr aus Genua anrufen, ist sie noch immer wach. Um kurz nach ein Uhr früh habe ich sie dann endlich so weit, dass sie sich schlafen legt. Ich sperre die Haustür ab und nehme die Schlüssel mit nach oben in mein Zimmer, um zu verhindern, dass sie sich womöglich wieder wegstiehlt.
Auf meinem Handy sind zwei Nachrichten von Jakob.
In der ersten fragt er gegen zwanzig Uhr, ob ich mit ihm morgen an die Donau will – Bootfahren, Schwimmen, was auch immer.
In der von dreiundzwanzig Uhr fragt er, ob es denn wirklich bei morgen bliebe.
Spontan fiel mir diese Nellie ein, die Kellnerin, mit der er so vertraut gewirkt hatte.
Ich will nicht an die Donau. Zumindest nicht zum Schwimmen. Das geht gar nicht, mit meinen vernarbten Oberschenkeln! Andererseits fällt mir auch kein Gegenvorschlag ein. Ich muss ja nicht im Bikini vor ihm herumhüpfen und ins Wasser gehen. Also tippe ich:
Okay, wann soll ich bei dir sein?
Die Antwort kommt sofort: Sagen wir, um elf. Ich freu mich.
Ich freue mich auch. Einerseits. Andererseits: Was will so ein sportlicher, cooler Typ ausgerechnet von mir?
*
Am nächsten Morgen geht alles schief.
Um neun Uhr liegt Lisa immer noch im Bett und lässt sich nur widerwillig von mir zum Frühstück treiben. In spätestens einer Stunde muss sie bei den Müllners sein, weil ich dann nämlich nach Wien aufbrechen muss, um pünktlich bei Jakob anzukommen. Doch das soll sie nicht wissen. Dass sie Eva und Vater davon erzählt, kann ich absolut nicht brauchen!
Um halb zehn kaut Lisa noch immer an ihrem Marmeladenbrot herum. Ihr Kakao ist inzwischen kalt. Draußen hat es bereits angenehme fünfundzwanzig Grad, aber meine Schwester macht keine Anstalten, sich hinüber ins Poolparadies zu begeben. Ich sitze wie auf Nadeln.
Um neun Uhr vierzig wage ich den Vorstoß in Richtung Rausschmiss: »Was ist mit Sina und Hanna? – Die warten bestimmt schon auf dich! Du willst doch sicher wieder planschen.«
»Ma no!« Lisa sieht mich erstaunt an, während die Marmelade vom angebissenen Brot über ihre Finger tropft. Und dann erfahre ich: Ausgerechnet an diesem Wochenende sind Sina und Hanna mit ihren Eltern nach München gefahren, um Verwandte zu besuchen.
Das darf doch nicht wahr sein! Ich könnte mir die Haare raufen, aber das würde meine Fönfrisur zerstören, in die ich in der Früh viel Arbeit investiert habe.
Wortlos stehe ich auf und schließe mich auf der Toilette ein, um einen klaren Gedanken zu fassen. Doch sosehr ich meine Stirn auch gegen die kalten Fliesen drücke: Ich sehe mich Jakob absagen und den Tag mit Lisa verbringen. Sie alleine zu lassen kommt nicht infrage, und zu etwas, was Jakob wenn auch nur scherzhaft als Date bezeichnet, mit meiner kleinen Schwester zu erscheinen, würde mein Image als Freak zementieren.
Ich schlucke meine Enttäuschung herunter. Zurück am Frühstückstisch, tippe ich: Sorry, es klappt nicht. Ich muss auf Lisa aufpassen.
Er soll sich besser an diese Nellie halten – unkompliziert, unabhängig, ohne komplizierte Familienlage.
Gleichzeitig fühle ich mich schuldig und schlecht, während ich Lisa dabei zuschaue, wie sie in ihrem Kakao nippt. Fast sieben Jahre lang habe ich mir gewünscht, dass sie zurückkommt. Und jetzt weiß ich es schon nicht mehr zu schätzen!
Das Handy klingelt. Mir bleibt fast das Herz stehen, als ich Jakobs Namen auf dem Display sehe. Ich starre auf die Buchstaben, bis Lisa fragt, wann ich endlich abhebe.
»Was ist denn los?«, erkundigt sich Jakob. Er klingt eher besorgt als vorwurfsvoll.
Ich erkläre es ihm knapp.
»Du kannst sie ja mitbringen«, schlägt er sofort vor. »Langweilig wird ihr sicher nicht.«
Prinzipiell bezweifle ich nicht, dass Lisa auch in der Donau schwimmt wie eine Eins, aber soll ich sie wirklich mitschleppen? Ich schaue zu ihr. Sie tunkt ein Stück Marmeladebrot in den Kakao und sieht aus, als würde sie gleich im Sitzen einschlafen.
Warum habe ich sie auch nur so lange aufbleiben lassen!
»Ich glaube, ich kann im Moment nicht eine Stunde lang mit ihr Öffis fahren«, sage ich wahrheitsgemäß. »Sie ist irgendwie noch im Halbschlaf.«
Jakob zögert kurz. Wahrscheinlich überlegt er gerade, wie er mir höflich klarmacht, dass er von weiteren Treffen absieht.
»Weißt du was? Ich komme einfach bei euch vorbei! Dann hast du keinen Stress, und wir können uns noch immer überlegen, was wir machen.«
Auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob das eine gute Idee ist, nenne ich ihm die Adresse. Kaum dass ich aufgelegt habe, erfasst mich blanke Panik. In meinem Kopf blinkt eine Leuchtschrift: Dieser Mann hat Interesse! An mir! In brauner Hose und olivgrünem T-Shirt?! Bis eben fand ich das Outfit noch völlig okay, aber jetzt …
Lisas verwunderten Blick ignorierend, sause ich nach oben und reiße die Schranktüren auf. Lange Hosen, Dreiviertel-Hosen, knielange Hosen, Hosenhosen. T-Shirts in grau, khaki, schwarz und braun. Warum habe ich nichts Farbiges, nichts Frisches? Ich gebe mir selbst die Antwort: Weil ich ein dürres Wesen ohne Busen und ohne Hintern, dafür mit hässlichen Narben bin.
Daran lässt sich nichts ändern. Wohl aber an tarn- und schlammfarbenen Klamotten.
In meiner Not fällt mir nur Evas Kleiderschrank ein. Meine Stiefmutter und mich trennen fast zwei Kleidergrößen, aber ich habe eine Idee, wie ich mir behelfen könnte. Ich muss mich in die Tiefe wühlen, ehe ich ihn finde: ein weißer Rock, bedruckt mit großen roten Rosen. Er stammt aus der Zeit, als Eva nur noch knapp fünfzig Kilo wog. Es war der Rock, den sie bei ihrem Flug zu der Berliner Gala getragen hatte, die für sie mit dem Zusammenbruch endete.
Der Rock geht mir bis über das Knie. Zwischen Bund und Taille passen gut zwei Hände. Wenn ich ihn nicht halte, rutscht er mir herunter.
Ich krame meinen schwarzen Plastikgürtel hervor, der an der Schnalle kaputt ist, aber noch hält – halten muss! Von Eva borge ich mir eine langärmelige schwarze Bluse aus. Immer noch besser als meine T-Shirts.
Als ich vor dem Badezimmerspiegel stehe, breche ich fast in Tränen aus: Meine Locken stehen nach allen Seiten ab wie eh und je! Ich hasse meine Haare, habe sie schon immer gehasst! Nachdem ich dies und das probiert habe, gebe ich auf. Da ist nichts zu retten. Bleibt nur noch die Chance, die Aufmerksamkeit auf mein Gesicht zu lenken, weg von der störrischen Umrahmung. Ich hantiere mit Evas Kajalstift.
Meine Augenbrauen kommen mir plötzlich buschig und ungepflegt vor. Ich erinnere mich, dass Eva irgendwo eine Pinzette haben muss. Während ich danach suche, höre ich unten die Türglocke und dann, als Lisa anscheinend die Tür öffnet, Jakobs Stimme im Hausflur.
Wie kann er jetzt schon hier sein, er hat doch erst vor einer halben Stunde angerufen!
Ich kann die Pinzette nicht finden. Stattdessen fängt mein Auge zu tränen an. Offenbar ist was unter meiner Kontaktlinse. Als ich sie in der Hand halte, um sie abzuspülen, entdecke ich die Flasche mit der Kochsalzlösung auf dem Badewannenrand. Keine Ahnung, wer sie da drüben hingestellt hat!
Es kommt, wie es kommen muss: Als ich die zwei Schritte Richtung Wanne mache und mich nach der Flasche strecke, fällt mir die Kontaktlinse runter. Oh nein! Einäugig taste ich den Fliesenboden ab.
»Lea, was machst du da oben?«
»Bin gleich da!«
Ich taste weiter. Verdammt, wo ist dieses dumme Ding nur hin? Prompt stoße ich gegen den Mülleimer, der laut scheppert.
»Kann ich dir helfen?«, höre ich Jakob rufen, der sich wahrscheinlich für meinen Retter in der Not hält und ins Bad platzt. Eilig stehe ich auf, um nicht auf Knien vor ihm herumzurutschen.
»Alles klar?«, fragt er besorgt, und während ich gerade lügen will, kommt es noch schlimmer: Die kaputte Gürtelschnalle löst sich. Evas Rock rutscht über meine Hüften nach unten. Und so stehe ich vor ihm in Unterhose.
Ich höre mich aufschreien. Dann dränge ich mich an Jakob vorbei, flüchte in mein Zimmer. Auch meine andere Kontaktlinse fängt an zu kratzen.
»Lea, was ist denn?« Seine Stimme dringt gedämpft durch das Holz. »Kann ich dir helfen?«
»Nein.« Ich schluchze lautlos in Evas Oberteil, das ich mir bis zur Nase hochgezogen habe. Dann überlege ich es mir anders. »Doch. Kannst du. – Fahr einfach wieder, okay?«
Ein paar Sekunden lang herrscht Schweigen hinter der Tür.
»Willst du das wirklich?«, fragt er.
Ich nicke heftig, bis mir klar wird, dass er mich ja nicht sehen kann.
»Ja«, quetsche ich mühsam hervor.
»Okay.«
Ich höre, dass er zögert, ehe er sich schließlich entfernt. Erst als seine Schritte auf der Treppe verhallt sind, richte ich mich wieder auf.
Das war’s dann also: Leas Versuch, einem Mann näher zu kommen. Hat ja prima geklappt!
Ich ziehe mir Evas Bluse über den Kopf. Dann schlüpfe ich wieder in die braune Hose und das schlammgrüne T-Shirt. Meine Augen brennen. Der Kajal ruft eindeutig eine allergische Reaktion bei mir hervor.
Am liebsten würde ich mich für den Rest des Tages verkriechen, aber ich will nicht, dass Lisa allein herumlungert. Ich friemele die zweite Linse aus dem Auge, setze meine Hornbrille auf und gehe runter.
»Ist er weg?«
Vom Vorzimmer aus sehe ich sie am Esstisch sitzen, ein Kartenspiel vor sich.
»Nein.« Jakob tritt aus der Küche, kommt auf mich zu und nimmt mich an den Schultern. »Was ist denn passiert, Lea?«
»Meine Kontaktlinse ist weg«, presse ich hervor. »Und den Rest … hast du ja gesehen.«
»Also, ich hab schon mehrere halbnackte Frauen gesehen, wenn es das ist, was dich so aus der Bahn wirft.« Jakob grinst flüchtig. »Und jetzt suchen wir die Linse. Ich bin gut darin, vertrau mir! Mir passiert das auch ständig.«
»Du hast Kontaktlinsen?«
»Klar. Wenn ich keine hätte, würde ich mit einer Brille herum laufen mit mindestens so dicken Gläsern wie deine.«
Gemeinsam gehen wir nach oben. Er sucht jede einzelne Badezimmerfliese ab, und es dauert keine Minute, da streckt er mir triumphierend die Linse entgegen.
»Na, was sagst du?«
»Danke.« Ich versenke sie neben ihrer Doppelgängerin im Behälter mit der Kochsalzlösung. Warum muss der Typ auch noch so verdammt hilfsbereit sein? Warum ist er noch hier?
»Bin ich so etwas wie dein Caritas-Projekt?«
Die Frage drängt sich mir unwillkürlich auf, und schlimmer kann es nicht mehr werden.
»Caritas-Projekt? Wie soll ich das verstehen?«
Ich verschränke die Arme vor der Brust.
»Ich meine: Bist du deshalb so nett zu mir und siehst über alle meine Fehler hinweg, weil du Mitleid mit mir hast?«
»Nein. Deshalb.«
Damit zieht er mich zu sich heran und küsst mich auf den Mund. Es ist ein langer, intensiver Kuss, der mir weiche Knie macht.
Lisas genervte Stimme lässt uns auseinanderfahren.
Meine kleine Schwester steht im Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt, und hat, wenn ich mich nicht täusche, gerade so etwas wie die italienische Version von »Habt ihr’s endlich geschafft« von sich gegeben. »Voglio finalmente andare a questo lago!«, kräht sie weiter. Sie will endlich zu diesem See.
»An welchen See?«
»Neusiedler See.« Jakobs Arm liegt immer noch auf meiner Schulter. »Mein Alternativprogramm zur Alten Donau.«
*
In einem dunkelblauen VW Golf fahren wir kurz darauf los.
»Ist das dein Auto?«
»Nein, ich habe es mir von meiner Tante geliehen.«
Im CD-Fach liegt Musik von Manu Chao, die Lust auf den Sommer macht.
»Und die CD ist auch von ihr?«
Jakob lacht. »Nein, die ist von mir. Sonst läge da jetzt irgendeine Barockoper.«
»Hast du eigentlich Geschwister?«
»Ja, zwei Schwestern.« Er sieht mich kurz an, schmunzelt. »Ich habe dir ja gesagt, ich habe schon Erfahrung mit halbnackten Frauen am Rande des Wahnsinns.«
»Haha.«
Ich muss dennoch lächeln. Wenn ich daran denke, dass ich noch vor einer Dreiviertelstunde heulend in meinem Zimmer kauerte, verstehe ich mich selbst nicht mehr. Dass ganze Theater mit dem Kajal und Evas Rock hätte ich mir sowieso sparen können. Jakob ist es anscheinend egal, was ich trage. Er selbst sitzt in einer kurzen Jeans und einem verwaschenen T-Shirt neben mir.
»Und du warst schon öfter am Neusiedler See?«
Als er mich jetzt ansieht, liegt leichte Irritation in seinem Blick. Ich beiße mir auf die Zunge, obwohl es dafür jetzt wohl zu spät ist. Klar war er schon öfter dort, sonst würde er wohl nicht so zielstrebig einen Ort namens Weiden ansteuern, von dem ich noch nie gehört habe. Dabei liegt der See nicht einmal eine Stunde Fahrtzeit von Mödling entfernt.
»Du nicht?«, antwortet er mit einer Gegenfrage.
»Es … hat sich bisher nicht ergeben.«
Auch wenn ich jetzt aus dem Fenster schaue, kann ich doch fühlen, dass er das merkwürdig findet.
»Devo andare in bagno!«, tönt es von der Rückbank.
Ich drehe mich zu Lisa um. »Dringend?«
»Si! È veramente urgente!« Sie sieht tatsächlich schon ziemlich verzweifelt aus.
Wir haben die Autobahn bereits verlassen und fahren über Land. Jakob setzt den Blinker und steuert in einen kleinen Feldweg. Links ist ein Maisfeld, rechts ein Feld mit Getreide.
»Ma … qui non c’è un bagno!« Lisa macht keine Anstalten, das Auto zu verlassen.
»Essattamente, principessa!« Jakob scheint sich prächtig über sie zu amüsieren. Ein breites Grinsen liegt auf seinem Gesicht. »Dovrai fare pipì nel campo di mais.«
Die Prinzessin schneidet ein Gesicht, klettert dann aber hoheitsvoll aus dem Wagen und verschwindet im Mais.
»Woher kannst du so gut Italienisch?«
Dass er fast akzentfrei spricht, ist mir schon am Alten AKH aufgefallen.
»Mein Opa war Italiener. Er ist zwar wegen meiner Großmutter nach Wien gezogen, war aber ziemlich patriotisch – das heißt, zu Hause mussten alle Italienisch sprechen, also auch wir Enkelkinder.«
Wieder einmal staune ich, dass er sich nicht erkundigt, warum meine Schwester fast nur Italienisch spricht.
Während wir auf Lisa warten, erzählt Jakob stattdessen munter, dass Pauls Eltern bei Weiden ein Bootshaus haben und dass wir uns dort mit ihm und Judith treffen werden. Einerseits bin ich ein bisschen enttäuscht, auch wenn ich Paul und Judith ganz nett finde. Andererseits bin ich aber auch erleichtert. Wer weiß, was wäre, wenn wir irgendwo alleine und ungestört sind?
Eine Viertelstunde später durchqueren Jakob, Lisa und ich das belebte Strandbad. Es hat fast dreißig Grad, doch die Hitze ist erträglich, weil ein kräftiger Wind weht.
Das schlammbraune Wasser, das auf den ersten Blick nicht sonderlich verlockend aussieht, schlägt Wellen. Meine kleine Schwester hüpft und springt vor uns herum und kann es kaum erwarten, sich in die Fluten zu stürzen.
Judith erwartet uns im hinteren Teil des Strandbades mit einem Elektroboot und bringt uns zu der Hütte, die nur vom Wasser aus zugänglich ist. Auf der Fahrt passieren wir mehrere Segelboote. Lisa winkt begeistert. Wind und Wellen machen ihr nicht das Geringste aus. Ich dagegen bin froh, als ich die festen Bretter des Bootsstegs unter den Fußsohlen spüre. Paul empfängt uns mit kühlen Getränken und Gegrilltem.
Lisa, mittlerweile putzmunter, wirft sofort ihre Kleider ab und trippelt im Bikini den Steg entlang. Da erregt etwas anderes ihre Aufmerksamkeit: das Segelboot, das in der zum Haus zugehörigen Koje vor Anker liegt. Ohne Kabine und nur mit einem Mast, beinahe eine Nussschale. Aber Lisa ist nicht mehr zu halten. Plötzlich ganz aufgeregt, will sie nur noch eines: segeln.
Paul ist skeptisch. »Es ist ziemlich windig heute.«
Es gelingt uns, Lisa auf später zu vertrösten – vielleicht hat sie die Idee bis dahin vergessen. Während sie im Wasser planscht, essen wir Haloumi und Gemüsebratlinge vom Grill. Zum Glück bin ich nicht die einzige, die kein Fleisch isst. Jakob und Judith sind auch Vegetarier.
»Ist dir nicht heiß, Lea?«, fragt Judith irgendwann besorgt. Alle tragen Badekleidung – alle außer mir.
»Lea hat leider ihr Badezeug nicht gefunden.«
Ich schenke Jakob ein dankbares Lächeln.
»Oh, wie blöd! – Aber ich habe sowieso mehrere Bikinis dabei, nimm doch einen von mir! Der dürfte passen.« Judith lässt sich nicht beirren.
Kurz darauf stehe ich allein in der Hütte, einen roten Zweiteiler mit Push-up in der Hand, und will einfach nur noch weg.
»Kann ich kurz reinkommen?«, fragt Jakob von draußen.
Ich atme tief durch. »Ja. Ich bin nicht nackt oder so.«
»Schade.« Schon steht er neben mir und zieht mich wortlos in seine Arme. Ich presse mein Gesicht gegen seinen nackten Oberkörper. Ich spüre seine Brust an meiner Wange, schmecke Sonnencreme, höre sein Herz schlagen. Die unerwartete Umarmung macht mich ganz benommen.
»Bring dich nicht um ein Vergnügen, weil du dir deine eigene Hölle schaffst«, höre ich ihn sagen. »Es ist, wie es ist. Und es wär doch zu schade, wenn du bei dem herrlichen Wetter nicht einmal in den See springst!«
Aus seinem Mund klingt alles irgendwie immer so einfach.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, wenn …« Ich breche ab. Jakob versteht dennoch, worauf ich hinauswill.
»Die Wahrheit«, sagt er. »Was sonst? Jeder hat mal schwere Zeiten.«
Als wir uns voneinander lösen, habe ich etwas Mut geschöpft. Trotzdem kostet es mich große Überwindung, mich im Bikini vor den anderen zu zeigen. Ich spüre sofort Judiths und Pauls Blicke auf meine Oberschenkel. Sie sagen nichts.
Damit es so bleibt, folge ich Jakob eilig über die Leiter vom Bootssteg ins Wasser. Ich strecke die Arme aus, dann die Beine – und spüre Schlamm an den Füßen.
»Igitt! Was ist denn das für eine Brühe! Das ist ja voll flach!«
Jakob lacht. »Nicht gewusst? – Das nennt sich Steppensee!«
»St-äppen-see«, wiederholt Lisa, die erst in der Nähe herumpaddelt und dann kurz untertaucht. Als sie wieder an der Oberfläche erscheint, hat sie beide Hände voller Schlamm – und nichts Besseres zu tun, als Jakob damit zu bewerfen. Der rächt sich sofort und schöpft ebenfalls aus dem Untergrund. Die wilde Schlacht geht auch an mir nicht spurlos vorbei.
Es ist schwer, das Zeug wieder loszuwerden. Es setzt sich überall fest: in den Locken, an der Brust, zwischen den Zähnen. Auch ohne Brille registriere ich, dass die ehemals blonde Haare jetzt als braune Würste in Lisas Gesicht hängen.
Selbst als wir uns unter die Gartendusche stellen, die hinter der Hütte ist, werden wir den Matsch nicht ganz los. Über alledem habe ich meine Oberschenkel so gut wie vergessen. Bis Lisa entsetzt fragt: »Lea! Che cos’è successo con le tue gambe?«
Auf einmal wird es ganz still. Paul, der gerade den Grill wegräumen wollte, hält in der Bewegung inne. Judith sieht verlegen zur Seite.
Einen Moment lang bin ich versucht, einfach ins Wasser zu sprinten. Doch dann spüre ich wieder Jakobs Hand auf meiner Schulter. Und auf einmal fällt mir die Antwort ganz leicht.
»Als ich ein bisschen älter war als du, war ich so traurig, dass ich was Dummes gemacht habe. Ich habe mich mit einem Messer geschnitten. Mittlerweile weiß ich, dass das echt blöd war, aber mit den Narben muss ich jetzt eben leben.«
Jakob übersetzt jedes meiner Worte auf Italienisch. Lisa sieht dabei ganz ernst aus und plötzlich viel älter als elf. Als er fertig ist, schlingt sie mir ihre Arme um die Taille.
»Sei comunque bellissima!«
Du bist trotzdem schön.
Ihre Worte klingen so ehrlich und aufrichtig, dass mir fast die Tränen kommen.
»Siehst du?«, sagt Jakob. »Sag einfach die Wahrheit!«
Vielleicht zerbreche ich mir wirklich zu sehr den Kopf und mache mir das Leben schwerer, als es sein müsste.
*
Der Wind weht noch immer sehr kräftig, als Lisa am späten Nachmittag wieder einfällt, dass sie unbedingt mit dem Boot hinaus will. Paul ist noch immer skeptisch.
»Mit jemandem, der segeln kann, wäre es heute natürlich schon eine sportliche Herausforderung«, gibt er zu und streicht sich nachdenklich übers Kinn. »Aber mit ihr?«
»Ich glaube, sie hat ziemlich Ahnung vom Segeln«, sage ich.
Selbst wenn sie in der flachen Schlammlacke kentern sollten, wird es wohl kein Drama sein.
Lisa ist schon aufs Boot geklettert und damit beschäftigt, das Segel auszurollen.
»Äh, warte!« Paul beeilt sich, nachzukommen.
Zehn Minuten später segeln die beiden gemeinsam mit Judith hinaus auf den offenen See. Lisa winkt uns vom Boot aus enthusiastisch zu.
Jakob wirft sich neben der Hütte rücklings in den großen Sandsack, der als Sonnenliege dient. »Endlich Ruhe!« Er streckt seinen Arm aus, rutscht zur Seite. »Komm her. Ist echt bequem.«
Daran habe ich keinen Zweifel. Trotzdem muss ich wieder einmal über meinen eigenen Schatten springen, als ich mich bei ihm niederlasse. Der unförmige Sack lässt unsere Körper aneinandersinken. Meine Haut kribbelt, als Jakob mit seiner Hand über meinen Arm und dann über meinen nackten Bauch streichelt. Ich schmiege mich noch ein wenig enger an ihn und noch ein wenig enger, bis mein Gesicht seinen Oberkörper berührt. Anfangs zögere ich noch, doch dann vergesse ich meine Scheu.
Irgendwann küssen wir uns. Ich vergesse alles – allem voran, dass ich nicht besonders viel Erfahrung in solchen Dingen habe und über Jakob nur so wenig weiß.
Unsere Knutscherei endet mit der Rückkehr der drei Segler. Lisa springt als Erste vom Boot, aufgekratzt, mit vor Begeisterung funkelnden Augen und einem Staccato-Bericht auf Italienisch, von dem ich gar nichts verstehe, außer dass es toll war.
Judith torkelt wie in Trance an uns vorbei, öffnet sich ein Bier und lässt sich ohne weiteren Kommentar in den freigegebenen Sandsack sinken. Paul geht als Letzter von Bord. Mir fällt auf, dass er ziemlich blass im Gesicht ist.
»Deine Schwester ist total irre«, lässt er mich wissen. »Die ist eine durchgeknallte, wagemutige, verantwortungslose …«
»Krieg dich wieder ein!«, geht Jakob dazwischen. »Du redest von einer Elfjährigen.«
Paul verzieht das Gesicht. »Also … mir war das zu heftig!«
»Aber sie kann doch segeln, oder?«
Ich habe ein ganz schlechtes Gewissen. Was Lisa wohl angestellt hat? Jakobs Freunde stehen ja regelrecht unter Schock …
»Schau.« Paul seufzt, sieht mich erschöpft an. »Also, ich segle halt nur so für den Hausgebrauch. Ich will es nett haben da draußen. Aber sie … das ist definitiv nicht meine Liga. Sportregatta ist einfach nicht mein Ding, da fehlt mir das Können!«
Meine kleine Schwester sitzt mit unschuldigem Lächeln auf einer umgedrehten Bierkiste und reckt den Kopf der Abendsonne entgegen.
*
Der Frieden währt nicht lange, dann gibt es wieder Geschrei.
Lisa will nicht nach Hause zurück; sie will am See bleiben.
Mit Tränen in den Augen klammert sie sich ans Geländer des Stegs, während Judith ungeduldig im Elektroboot wartet, um uns nach Weiden zurückzubringen. »Voglio andare in barca a vela anche domani!«
Und morgen will sie wieder segeln.
Sie nervt, aber zugleich tut sie mir schrecklich leid, weil ich langsam verstehe, wie sehr ihr das Meer und die Sea Star wirklich fehlen. Und auch ich bin traurig, weil sich der schöne Tag und die Zeit mit Jakob dem Ende zuneigen.
»Habt ihr morgen schon was vor?«, wendet sich Jakob leise an mich. Ich schüttle den Kopf.
»Dann hole ich euch eben wieder ab, und wir kommen nochmal her!«
»Also, dann könnt ihr ja gleich hier übernachten!«, wirft Judith ein. »Das ist doch unsinnig, jetzt nach Wien zu kurven! Genug Platz ist in der Hütte.«
Ich sehe, dass Lisas Augen aufleuchten. Offenbar kann sie unserem Deutsch ganz gut folgen. Zu gerne würde ich ihr den Wunsch erfüllen. Allerdings gibt es da ein Problem.
»Meine Eltern sind gerade in Italien«, erkläre ich. »Die flippen aus, wenn sie uns nicht erreichen!«
»Ruf du sie an«, schlägt Judith nach kurzem Überlegen vor. »Sag, dass es euch gut geht, dass ihr noch unterwegs seid. Dann sind sie beruhigt, und es gibt keine Diskussion!«
Die Idee hat was für sich. Trotzdem …
»Sie werden später trotzdem zu Hause anrufen.«
Diesmal ist es Lisa, die die Antwort liefert.
»Be’, potremmo dire che il telefono fisso non funziana!«
Dann ist eben das Festnetztelefon kaputt.
Sie unterstreicht ihre Worte mit einer entschiedenen Geste und schenkt uns ein siegessicheres Lächeln.
Ich habe keinen Zweifel, dass meine Eltern mit ihr in wenigen Jahren viel, viel Spaß haben werden …
*
»Jacqueline«, schärfe ich Lisa vierundzwanzig Stunden später ein, als meine Eltern vom Flughafentaxi aus ihre baldige Rückkehr ankündigen.
Gestern haben wir meine Freundin Jacqueline in Wien besucht, und heute sind wir im Garten geblieben.
Lisa nickt, obwohl ich ihr an der Nasenspitze ansehe, dass sie nicht ganz versteht, warum ich ihnen nicht wenigstens einen Teil der Wahrheit sagen will. Aber ich möchte nicht, dass sie von Jakob wissen. Wer weiß, ob wir uns nach dem Wochenende überhaupt wiedersehen werden? Neugierige Fragen kann ich jetzt einfach nicht brauchen.
Lisa gibt sich Mühe. Nach der Begrüßung stellt Eva auch gleich die Frage, wie unser Wochenende war.
Lisa hält sich an unsere Abmachung, dichtet aber frei dazu, dass Jacqueline in einem beeindruckenden Palast wohnt. Wir hätten dort einen tollen Tag verbracht! Sie unterstreicht ihre Worte mit einer ausladenden Handbewegung. Ich werfe ihr einen warnenden Blick zu, während Eva verständlicherweise ziemlich überrascht wirkt.
»Err…« Lisa verzieht schuldbewusst das Gesicht. Und dann korrigiert sie sich. Meinetwegen und aus schwesterlicher Solidarität. In Wahrheit, teilt sie unseren erstaunten Eltern mit, sei es echt furchtbar gewesen, weil Jacqueline in einem Slum lebt und es da nicht mal was zu essen und zu trinken gab.
Ich unterdrücke gerade noch ein gequältes Aufstöhnen.
Eva sieht von mir zu Lisa und wieder von Lisa zu mir. Sie atmet tief durch.
»Hauptsache, ihr hattet eine schöne Zeit«, sagt sie dann, und ich falle Irmgard, die Wunder zu vollbringen weiß, in Gedanken wieder einmal um den Hals.