Tiefe Schnitte
17. Februar – 15. April 2012
Papa schaute fassungslos auf mein Zwischenzeugnis.
»Nicht dein Ernst, oder? Die Versetzung ist gefährdet?«
Ich stand vor ihm, den Blick gesenkt. Seit mir die Klassenlehrerin mein Zeugnis überreicht und ich die Misere, die sich in den vergangenen Monaten bereits abgezeichnet hatte, schwarz auf weiß vor mir hatte, kämpfte ich mit den Tränen. Von der Klassenbesten zur potenziellen Sitzenbleiberin. Ich konnte verstehen, dass Papa aus allen Wolken fiel.
»Wegen einer Fünf in Sport?!«
Es war nicht die einzige im Zeugnis, aber gewiss das, was ihm am meisten ins Auge stach. Die Sportlehrerin war nicht gerade als Menschenfreundin bekannt, bisher hatte sie mich aber immer mit einer Drei oder Vier durchgewunken. Seit ich den Sportunterricht boykottierte, war es mit ihrer Nachsicht aus.
Wie aber hätte ich in kurzen Hosen Gymnastik machen, am Schwimmunterricht teilnehmen und mich in der Umkleidekabine umziehen sollen, wenn meine Oberschenkel inzwischen von Schnittwunden übersät waren? Davon aber konnte ich Papa nichts sagen. Also starrte ich nur auf meine Zehenspitzen.
»Lea! Wir alle haben eine schwere Zeit, aber jeder muss seine Aufgaben erfüllen!«, dozierte mein Vater, während er im Wohnzimmer auf- und abging, und schien dabei ganz vergessen zu haben, dass seine Frau keinerlei Aufgaben mehr nachkam. Überall stapelte sich Wäsche, saubere und schmutzige, und der Kühlschrank war immer leer. Immerhin besorgte Papa inzwischen oft ein paar tiefgekühlte Fertiggerichte, die ich mir nach der Schule in der Mikrowelle aufwärmte. »Was soll aus dir werden, wenn du wegen deiner schlechten Leistungen vom Gymnasium runter musst! Ohne Abi bist du nichts, da kannst du an der Tankstelle an der Kasse sitzen und die Nachtschicht übernehmen!«
Ob es schlimm war, an einer Kasse zu sitzen, wusste ich nicht. Das Stichwort »Nachtschicht« jagte mir dagegen einen kalten Schauder über den Rücken. Ich dachte an »Aktenzeichen XY ungelöst«, wo schwarz maskierte Männer mit der Beute türmten, während ihre Opfer qualvoll und einsam verbluteten.
Das also würde mein Schicksal sein ohne Abitur?
Mal abgesehen vom Sport – wie sollte ich denn weiterhin gute Noten schreiben, wenn ich mir plötzlich nichts mehr merken konnte und ständig müde und dermaßen traurig war?
Ich schlich ins Bad und tat, was mir inzwischen zur Gewohnheit geworden war: Ich schnitt mir meine Schenkel auf.
*
Eva saß im Wohnzimmer und starrte ins Leere, während draußen dicke Schneeflocken auf die kalte Erde fielen. Sie trug noch immer den Anorak, mit dem sie vor einer Stunde die Wohnung betreten hatte, und sogar ihre Wollmütze. Lediglich Handschuhe und Winterstiefel hatte sie abgestreift.
Sie war mir unheimlich geworden, meine Stiefmutter, die früher voller Energie und Lebensfreude gewesen war. Manchmal weinte sie stundenlang, dann wieder saß sie nur apathisch herum. An anderen Tagen wurde sie von fiebriger Unruhe ergriffen, hing am Telefon und tauschte sich auf Englisch und Deutsch mit Frauen in aller Welt aus, die ebenfalls ihre Kinder verloren hatten. Soviel ich mitbekommen hatte, stand sie über eine internationale Organisation mit ihnen in Verbindung. Der Austausch gab ihr Auftrieb, oder aber er riss sie in ein noch tieferes Loch. Welche Wirkung nach einem dieser Telefonmarathons eintrat, wusste niemand vorherzusagen. Es hing ganz davon ab, ob die andere Mutter Hoffnung säte oder über ihr Unglück lamentierte.
Auch der Privatdetektiv konnte heftige Stimmungsumschwünge hervorrufen. Ich hatte den Mann nie getroffen, ihn aber doch durchschaut. Er lieferte im Grunde keine brauchbaren Informationen, aber immer dann, wenn Eva kurz davor war, ihn abzuschießen, entdeckte er eine neue heiße Spur. Dann konnte es passieren, dass sie voller Euphorie Lisas Bett neu bezog, fröhlich vor sich hinsummte und von künftigen Besuchen im Disneyland redete. An solchen Tagen war sie mir noch unheimlicher.
Doch diesmal hatte sie weder den Privatdetektiv gesprochen noch mit anderen Müttern telefoniert. Sie saß einfach nur da.
Irgendwann war meine Sorge um sie größer als meine Furcht vor der seltsamen Stimmung, in der sie sich befand.
»Magst du Tee?«, fragte ich vorsichtig.
Sie sah mich nicht an, als sie sagte: »Ich war bei der Münchner Polizei. Ich musste mir Schreckliches ansehen.«
Ich wartete mit pochendem Herzen, dass sie weiterredete.
»Kinderpornographie. Sie wollten, dass ich mir eine Aufnahme anschaue. Sie dachten, das Mädchen in dem Videoclip wäre Lisa. Aber sie war es nicht.« Eva schluckte trocken. »Die haben Schreckliches mit ihr gemacht –«
Ihre Stimme brach. Ich war fast froh darum, wollte gar nichts weiter hören. Mir war jetzt schon übel.
»Wenn die … wenn irgendjemand … meinem kleinen Mädchen so etwas antut … wenn das irgendwer mit ihr macht …« Eva begann zu schluchzen. »Dann bringe ich diese Leute um!«
Ich wusste, dass sie kein Wort, keine Geste, einfach nichts trösten konnte.
Als ich mit dem heißen Tee ins Wohnzimmer kam, war Eva eingenickt. Neben ihr auf dem Boden lag ein leerer Blister Schlaftabletten. Ich hob ihn auf und legte meinen Finger an ihre Kehle. Ihr Puls schlug schnell und kräftig. Aber selbst das beruhigte mich nur wenig.
*
Ende März, als draußen schon alles in Blüte stand und in unserer Wohnung immer noch tiefster Winter herrschte, übertrieb Eva die Sache, und es war meine Schuld, dass sie daran beinahe zu Grunde ging.
An diesem Nachmittag kam vieles zusammen: die angeblich heiße Spur des Privatdetektivs hatte sich plötzlich zerschlagen, eine der Mütter aus dem Opferzirkel hatte die Leiche ihres Kindes identifizieren müssen, und ein Brief aus Griechenland ließ uns wissen, dass zum vierten oder fünften Mal ein neuer Ermittler eingesetzt worden war. Der »Fall Lisa« werde noch einmal ganz von vorne aufgerollt, hieß es – allerdings nur dann, wenn meine Eltern für die nächsten acht Wochen in Heraklion abrufbereit den Behörden zur Seite standen.
Eva stieß ein bitteres Lachen aus, knüllte den Brief zusammen und warf ihn in die Ecke. Dann verschwand sie in Lisas Zimmer, das mittlerweile zu ihrem geworden war.
Papa kam gegen neunzehn Uhr nach Hause – müde, genervt und mit einem Aktenkoffer, der mir sagte, dass er daheim weiterarbeiten würde.
»Wo ist Eva?«
»Hat sich schlafen gelegt.«
Ich hatte meine Blätter mit der Lateingrammatik auf dem Esstisch ausgebreitet, bemüht, meine Noten wieder zu verbessern.
»Wann?«
Ich hob die Achseln und warf einen Blick auf die Standuhr in der Ecke. »Um halb drei?« Ganz sicher war ich mir nicht.
Papa ließ den Aktenkoffer fallen und stürmte in Lisas Zimmer. »Ruf den Notarzt!«, rief er auch schon Augenblicke später. »Sie hat die Tabletten überdosiert!«
Ich rannte zum Telefon und wählte mit zittrigen Fingern 112. Die Rettung kam zehn Minuten später. Eva war nicht mehr bei Bewusstsein und mein Vater außer sich vor Sorge.
»Warum hast du denn nicht nach ihr gesehen!«, herrschte er mich an. »Du weißt doch, wie labil sie ist!«
Ich war es, die Lisa verloren hatte. Und nun hatte ich nicht auf Eva aufgepasst. Wenn sie jetzt starb, war alles aus! Kein Wunder, dass Papa kein gutes Wort mehr für mich übrig hatte!
*
»Sie hat doch Therapie gemacht, oder nicht? Sie war wochenlang in dieser Klink am Chiemsee! Sind die Ärzte dort denn allesamt unfähig?«
Oma Betty zeterte in unserem Wohnzimmer. Papa hatte die Tür geschlossen, aber sie sprach so laut und aufgebracht, dass ich jedes Wort verstand.
»Man kann ja wohl noch erwarten, dass bei dem Geld, das diese Klinik verlangt hat, auch was rauskommt! Aber es geht ihr schlechter! Du kannst das doch nicht ignorieren, Dieter!«
»Ich ignoriere das nicht!« Papa klang genervt. »Aber was soll ich tun, wenn sie jede psychologische Betreuung ablehnt?«
»Aber in der Klinik …«, begann Betty von Neuem.
Papa ließ sie nicht ausreden. »Hör auf mit dieser Klinik! Da war sie wegen Untergewicht und Kreislaufproblemen! Selbst das bisschen Psychotherapie, das sie ihr dort angeboten haben, hat sie strikt verweigert! Sie ist der Meinung, dass sie das nicht braucht.«
Eine Weile herrschte Stille im Wohnzimmer.
»Vielleicht braucht sie es auch wirklich nicht.« Bettys radikale Meinungsänderung kam überraschend. »Das mit den Tabletten war sicher nur ein Versehen. Meine Tochter bringt sich nicht um. So sind wir nicht, das liegt nicht in unseren Genen! Mein Vater, der General, hat nicht umsonst an der Front …«
»Das reicht jetzt!« Oma Betty verstand sich wirklich darauf, Papas Geduldsfaden zu überdehnen. »Hier geht es nicht um deinen Vater und eure Gene, sondern um dein Enkelkind! Aber das scheint dich nicht sonderlich zu berühren, wenn man sieht, wie du von Cocktailempfang zu Charity-Golfturnier tingelst!«
So hatte ich Papa noch nie mit Oma Betty sprechen hören. Ich hörte sie förmlich nach Luft schnappen.
»Jetzt wirf du mir bloß nicht meinen Lebensstil vor! Ich versuche einfach nur, mich abzulenken. Lisa ist tot, und du weißt das genauso gut wie ich! Du traust es dich nur nicht auszusprechen! – Aber glaube mir: Real ist real, eine Steigerungsform gibt es da nicht! Und hört endlich auf, so zu tun, als wäret ihr die ersten und einzigen auf der Welt, die ein Kind verloren haben! Vor Evas Geburt hatte ich zwei Fehlgeburten! Und musste auch darüber hinwegkommen!«
»Das ist doch wohl was ganz anderes«, rief Papa. »Das waren Neugeborene … oder Föten! Aber Lisa war ein eigener kleiner Mensch!«
»War«, höhnte Oma Betty. »Jetzt sagst du es endlich selbst.«
Wieder herrschte Schweigen. Wenn Papa die Pause genutzt hätte, um meine Großmutter zu erwürgen, hätte ich das richtig gut gefunden! Ich hasste sie in dieser Sekunde mehr denn je. Doch Papa war Manager, kein Profi-Killer.
»Ich kann mit Eva darüber nicht sprechen«, sagte Papa schließlich und klang wieder ruhig und rational. »Sie klammert sich an ihren Glauben, dass Lisa noch am Leben ist und eines Tages zurückkommt. Wenn ich ihr diese Hoffnung nehme, kann ich für nichts garantieren! Du siehst doch, was passiert!«
»Sie muss endlich Zeit und Ruhe haben, zu trauern«, beharrte Oma Betty. »Aber die hat sie nicht. Denn sie muss sich ja noch um dich kümmern, um Lea, um den Haushalt …«
Papa stieß ein bitteres Lachen aus.
»Um den Haushalt? – Sieh dich doch mal um! Eva kümmert sich seit Monaten um gar nichts mehr. Wenn sie der Putzfrau alle vierzehn Tage die Tür öffnet, bin ich schon dankbar!«
»Aber Lea«, begann Oma Betty erneut. »Lea ist immer hier! Um Lea muss sie sich am laufenden Band kümmern. Hast du eine Ahnung, wie belastend das für sie ist? Die ganze Zeit muss sie sich fragen, warum ausgerechnet ihr leibliches Kind verschwand und nicht ihre Stieftochter. Sie spricht das vielleicht nicht aus, aber ich weiß, was eine Frau fühlt!«
»Betty, es reicht!« Papas Stimme durchschnitt die Luft wie ein Messer. »Wenn dir nichts weiter einfällt, als Gift zu versprühen, verlass bitte auf der Stelle unsere Wohnung! Eva ist nicht so! Sie liebt Lea genauso wie Lisa.«
»Träum weiter, Dieter!« Betty riss die Türe zum Gang so abrupt auf, dass ich gerade noch zur Seite springen konnte. Sie nahm mich nicht wahr, als sie in den Flur stürmte und sich Mantel und Hut griff. Papa stand im Gang, die Hände in die Hüften gestützt, und ließ sie einfach machen.
Ehe sie durch die Tür verschwand, warf Oma Betty einen letzten Blick über die Schulter.
»Wenn dir an Eva etwas liegt, dann sorg dafür, dass Lea nicht ständig um sie herumschwirrt. Sogar dir muss doch mittlerweile aufgefallen sein, dass mit dem Mädel was nicht stimmt, und Eva hat jetzt wirklich nicht die Kraft, sich um ein Kind mit, wie heißt das jetzt so schön, mit besonderen Bedürfnissen zu kümmern!«
*
Da Eva während meiner Osterferien noch im Krankenhaus lag, nahm sich Papa Urlaub. Wir gingen im Englischen Garten spazieren, besuchten den Zoo, sahen uns einen Film im IMAX an. Ich spürte jedoch die ganze Zeit, dass keiner von uns abschalten konnte.
Wir sprachen nie über das, was Oma Betty gesagt hatte, obgleich Papa mitbekommen hatte, das ich Zeugin ihres Streits geworden war. Ein Kind mit besonderen Bedürfnissen. Ihre Worte arbeiteten in mir und fraßen sich in mein Inneres.
Ein Kind mit besonderen Bedürfnissen – das war die Umschreibung für geistig behindert.
War ich das wirklich? Wollten die Leute an meiner Schule deshalb nichts mehr mit mir zu tun haben?
Dieters Tochter ist auch so ein Problemfall. Mir kommt sie seltsam vor.
Oma Betty hatte so etwas schon einmal gesagt, im August, im Garten, zu ihren Freundinnen.
Eine Schönheit wird sie mit dieser Nase sicher nie.
Ich stand im Badezimmer, betrachtete mein Spiegelbild und sah Oma Betty in diesem Punkt voll bestätigt. Mir schien plötzlich sonnenklar, warum Lisa entführt worden war und nicht ich. Wer wollte mich denn schon haben?!
Der Druck und die Verzweiflung in meinem Inneren wurden wieder einmal übermächtig. Ich wollte nach dem Cutter greifen, doch er lag nicht im Regal. Also ging ich in die Küche und holte eines der Messer, mit denen Eva immer das Fleisch schnitt.
Ich war nicht darauf gefasst, dass es so scharf war. Vielleicht drückte ich zu sehr auf die Klinge, oder der Schnitt war einfach zu groß. Jedenfalls quoll das Blut aus meinem Oberschenkel.
Die dicke Schicht Klopapier, die ich auf die Wunde legte, war sofort knallrot. Ich stemmte mich auf, um nach dem nächstbesten Handtuch zu greifen, doch ich glitt auf den Fliesen aus und donnerte gegen den Rand der Badewanne.
Dann wurde es dunkel um mich.