Lea und die Liebe
2.–23. August 2018
»Irgendwas ist anders an dir«, stellt Irmgard fest, kaum dass ich mich auf ihrer Couch niedergelassen habe, und legt den Kopf schief. »Ist irgendetwas passiert, was du mir vielleicht erzählen willst?«
Ich zögere. Gleichzeitig weiß ich selbst ganz genau, dass mich der große Grinser auf meinem Gesicht ohnehin verrät. Ich werde ihn einfach nicht mehr los. Wenn meine Eltern ihn noch nicht bemerkt haben, dann, weil sie wieder vorrangig mit Lisa und sich selbst beschäftigt sind.
Seit dem Wochenende am Neusiedler See haben Jakob und ich uns zweimal gesehen. Das ist nicht sonderlich oft, aber er muss schließlich arbeiten. Und diese zwei Treffen waren dafür umso besser. Einmal waren wir zum Baden an der Alten Donau, das andere Mal im Open-Air-Kino im Augarten. Von dem alten Schwarz-weiß-Film, der im Rahmen einer Nostalgie-Reihe gezeigt wurde, habe ich wenig mitbekommen, denn Jakobs Hände unter meinem Shirt und seine Lippen auf meinen haben meine ganze Aufmerksamkeit gefordert.
Die Tatsache, dass ich ständig an ihn denken muss und alle fünf Minuten auf mein Handy starre, um bloß keine Nachricht zu verpassen, lassen wohl nur einen Schluss zu: ich bin verliebt.
Irmgards Blick ruht noch immer auf mir.
»Du musst natürlich nicht darüber reden, Lea. Das weiß du ja. Aber du kannst, wenn du willst.«
Ich will. In mir sind so viele Gefühle, das ich fast explodiere. Dazu kommen all die Zweifel, die ich noch immer nicht abstreifen kann: Was, wenn er mich bald langweilig findet? Oder zu unreif? Wenn er merkt, wie wenig Erfahrung ich habe? Oder eine trifft, die besser aussieht und interessanter ist als ich?
»Ich habe jemanden kennengelernt!«, platze ich heraus.
Irmgard lächelt.
»Das ist schön.«
Mehr sagt sie nicht. Doch gerade ihr Schweigen ist es, das mich zum Reden bringt.
»Echt ein cooler Typ«, fahre ich fort. »Sportlich. Attraktiv. Wir waren zusammen schwimmen und im Park. Ich kenne auch schon Freunde von ihm.«
»Aber?« Irmgard deutet mein Zögern richtig.
»Aber … ich bin nichts von alldem. Ich weiß nicht, was er an mir findet. «
»Tatsächlich?« Irmgard runzelt die Stirn. »Hast du die Liste für mich gemacht? Die mit den fünf Punkten, was du gut an dir findest und was du kannst?«
Ich krame den Zettel aus meinem Rucksack hervor.
Zu den ersten drei Punkten sind zwei hinzugekommen.
4. Ich kann über meine Narben reden, ohne mich zu schämen.
5. Ich kann gut küssen.
Von Punkt fünf bin ich nicht ganz überzeugt, aber ich habe einfach aufgeschrieben, was Jakob mir versichert hat.
»Na, das ist doch schon was!«, kommentiert Irmgard. Wir reden noch ein bisschen über mich und meine Unsicherheiten. Es tut gut, mit jemandem zu sprechen, der über den Dingen steht!
»Und wie läuft es zu Hause?«
Gut, hätte ich vor zwei Tagen noch versichert. Doch das war vor Lisas Wutausbruch und vor dem Streit, den meine Eltern deshalb hatten. So hebe ich erst einmal hilflos die Schultern, ehe ich zu erklären beginne: »Die Sea Star wurde jetzt verkauft und vorher noch die restlichen Sachen rausgeräumt. Es gab da eh nicht mehr viel Besonderes an Bord, nur noch Spielzeug und das Fotoalbum von Lisa und diesen Leuten. Also, den Ferraros. Eva hat’s nicht gut aufgenommen. Für sie war das … ein Schlag ins Gesicht, so hat sie’s formuliert. Weil Lisa auf den Fotos so glücklich und entspannt wirkt und hier eben … meistens nicht.«
»Hmm«, sagt Irmgard nur. Ich bin noch nicht fertig.
»Sie wollte Lisa das Album erst gar nicht geben, aber Papa sagte, das wäre lächerlich, und es sei wichtig, diese Erinnerungen zu behalten. Also hat sie es ihr gegeben. Und dabei haben sie ihr gesagt, dass die Sea Star verkauft wurde. Da ist sie vollkommen ausgeflippt, hat das Frühstücksgeschirr vom Tisch gefegt und ist seither voll bockig.«
»Nun, ich sehe sie morgen Nachmittag sowieso«, sagt Irmgard ruhig. »Da werde ich der Sache mal auf den Grund gehen.«
Wieder einmal betrachte ich es als Segen, dass wir an sie geraten sind.
»Und dann haben noch diese zwei Nachbarsmädchen bei uns geläutet und wollten Lisa zum Spielen holen. Aber sie haben nicht nach Lisa gefragt, sondern nach Alessandra. Da ist Eva total wütend geworden. Weil damit ja klar auf der Hand liegt, dass sich Lisa nach wie vor nicht damit abgefunden hat.«
»Und wie ist das für dich?«
»Weiß nicht.« Ich hebe die Schultern. »Mir ist egal, wie sie sich nennt. Aber ich finde es schon schade … Wir hatten in der letzten Zeit eigentlich viel Spaß zusammen.«
»Sie hat viel erlebt in den vergangenen Monaten«, gibt Irmgard zu bedenken. »Es ist für sie genauso schwierig wie für euch, sich umzugewöhnen. Es braucht Zeit.«
»Eva bemüht sich so, dass Lisa zu ihr Vertrauen fasst! Papa ist da vielleicht vernünftiger, aber das bringt Eva auf die Palme, weil sie sich missverstanden fühlt, und dann …«
»Aber eigentlich sind wir hier, um über dich zu reden, nicht über deine Eltern. Ich hatte danach gefragt, wie es dir mit Lisas Verhalten geht.«
»Äh … ja?« Ich runzle die Stirn. Manchmal macht mich Irmgard ganz konfus. »Aber gehört das nicht alles zusammen? Ich meine, wie es Eva geht, dass Papa und sie streiten und Lisas Verhalten sie traurig macht?«
»Ich weiß nicht.« Irmgard spielt die Ratlose. »Ich denke mir, aus der Sicht von Lea könnte das auch anders aussehen. Warum ist das alles Leas Problem? Ist sie Evas Babysitter? Der von ihrem Vater? Hat sie ein Diplom im Konfliktmanagement von Ehestreitigkeiten, das sie mir bisher verschwiegen hat?«
Ich lächle unsicher, als ich begreife, worauf sie hinaus will.
»Ist Lea nicht … irgendwie verpflichtet, für ihre Familie da zu sein?«, steige ich auf ihre Rede in der dritten Person ein.
»Das war sie lange genug und ist sie ja auch weiterhin«, kommt es zurück. »Aber warum sollte sie beispielsweise weiter so viel zu Hause herumsitzen, wo es da doch jetzt diesen Freund gibt und ihr mit einundzwanzig die Welt offensteht?«
*
Ja, warum eigentlich?
Beseelt von Irmgards Worten wähle ich Jakobs Nummer, kaum dass ich vor dem Haustor auf der Straße stehe. Es ist 17 Uhr, er wird noch in der Arbeit sein, aber ich probiere es dennoch. Mein Herz macht einen kleinen Hüpfer, als ich seine Stimme höre.
»Hi! Wie geht’s? Hält dich der kleine blonde Teufel wieder auf Trab?«
»Nein, eben nicht! Ich bin gerade in der Stadt, und ich dachte … Vielleicht können wir uns heute Abend treffen?«
Bilde ich es mir ein, oder folgt auf meine Frage ein leichtes Zögern?
»Ja, klar«, sagt er dann, und es klingt erfreut.
Ich sollte mir nicht immer so viele Gedanken machen!
»Allerdings arbeite ich heute bis sechs«, fährt er fort. »Und danach will ich noch kurz heim unter die Dusche und mich umziehen. Das heißt, wir könnten uns so gegen sieben treffen. Am Brunnenmarkt hat ein indisches Bio-Lokal aufgemacht; eine Bekannte von mir kellnert da. Sonderkonditionen – zahl eins, iss zwei, so in der Art. Am besten, du kommst gleich direkt hin, ich schick dir die Adresse. Es ist ein Tisch auf Zara reserviert.«
»Zara?«
»Eine ehemalige Kollegin von mir. Ich bin heute mit ihr, ihrem Freund und ihrem Bruder verabredet. Es ist aber kein Problem, wenn du mitkommst. Wir stellen einfach noch einen Stuhl dazu.«
»Okay«, sage ich, doch schon, als ich aufgelegt habe, bereue ich die schnelle Zusage. Warum hat Jakob eigentlich ständig schon irgendetwas vor, wenn wir uns treffen? Weshalb sind wir nie allein? Immer fahren wir irgendwo hin, immer sind dort irgendwelche Leute von ihm.
Für die ersten zwei Treffen war das ja ganz in Ordnung – aber wäre es nicht allmählich an der Zeit, auch mal zu zweit zu sein? Und warum sollen wir uns am Brunnenmarkt treffen, wenn ich doch schon vor seiner Haustüre stehe?
Nun gut – letzteres kann er nicht wissen. Ich habe bewusst nicht erwähnt, dass ich in der Psychotherapiepraxis ein Stockwerk tiefer regelmäßiger Gast bin, auch wenn ich denke, dass er es weiß. Schon bei unserem allerersten Zusammentreffen hatte er ja durchschaut, was meine Familie in sein Haus in der Alserstraße gebracht hatte. Allerdings haben wir danach nie wieder darüber gesprochen.
Überhaupt fragt er mich nie etwas wirklich Persönliches. Selbst wenn er sich erkundigt, wie es Lisa geht, bleibt er an der Oberfläche. Ich will ihn auch nicht zuschütten, Familiendramen hat er täglich genug, aber dass er so gar nicht nachfragt, finde ich allmählich schon ziemlich komisch.
Und warum nimmt er mich nie mit in seine Wohnung? Als wir neulich vor dem Haus standen, hat er mir von unten gezeigt, dass sein Zimmer das mit den weinroten Vorhängen und der Nepal-Fahne an der Wand ist, Mitbringsel eines Freundes.
Meine alte Bekannte, die Unsicherheit, macht sich wieder in mir breit. Hat er irgendetwas vor mir zu verbergen?
Im Schuhgeschäft neben Jakobs Haus versuche ich mich abzulenken. Eigentlich brauche ich keine neuen Sandalen, aber das Probieren überbrückt die Zeit bis sieben Uhr.
Jakob ist doch ein ehrlicher Typ, versuche ich mich zu beruhigen. Und er hat eben viele Freunde. Und vielleicht will er mir Zeit lassen, statt mir schon nach zwei Treffen an die Wäsche zu gehen?
Der Punkt ist allerdings, dass ich genau das will. Wenn er mich berührt, fängt mein Körper an zu glühen, und das Ziehen in meinem Unterleib signalisiert mir deutlich, dass ich mehr von ihm will als nur schmusen.
Wenn ich abends im Bett liege, berühre ich mich selbst und stelle mir vor, dass es seine Hände wären, die über mich streifen, meine Brüste streicheln, mich zwischen den Beinen berühren. Dass sein Glied in mich hineingleitet und nicht meine Finger.
Als ich mit einem Paar schwarzer Sandalen mit leichtem Absatz – ein Novum für mich! – vor die Tür des Geschäfts trete, ist es fast halb sieben. Dass ich allein zu diesem Lokal gehen soll, anstatt mit Jakob gemeinsam hinzufahren, kommt mir lächerlich vor.
Der Zufall kommt mir zur Hilfe. Ein Mann quetscht sich durch das schwere Tor nach draußen, und ich nutze die Chance, um ins Innere von Jakobs Wohnhaus zu gelangen, ohne extra anzuläuten. Seine Wohnung befindet sich im vierten Stock.
Als ich oben ankomme, bin ich ein bisschen außer Puste, aber in wachsender Vorfreude, ihn zu sehen. Beherzt und voller Zuversicht, dass sich meine Bedenken in Luft auflösen werden, drücke ich auf den Klingelknopf.
Die Tür geht auf.
Die Frau mit dem kräftigen braunen Pferdeschwanz, die im Türrahmen steht, erkenne ich sofort. Nellie, die Kellnerin vom Uni-Campus!
Meine Gedanken überschlagen sich.
Jakob hat nie erwähnt, dass er in einer WG wohnt. Am Türschild steht nur ein Name – Weissenböck, also seiner. Was also macht Nellie in seiner Wohnung?
»Hi«, sagt die Frau, die offensichtlich keine Erinnerung an mich hat. »Kann ich dir helfen?«
Ich stehe unter Schock, bringe keinen Ton über die Lippen.
»Jakob?« Sie dreht sich um. »Ich glaube, da ist einer deiner Zöglinge an der Tür.«
Oh Gott, auch das noch! – Diese Nellie hält mich für einen Teenie aus dem Krisenzentrum! Sieht die denn nicht, dass ich fast so alt bin wie sie?
»Moment! Ich war unter der Dusche … bin gleich da.«
Nur ein paar Augenblicke verstreichen, dann erscheint Jakob im Hintergrund – in seinen kurzen Jeans, mit nacktem Oberkörper und einem Handtuch um den Hals. Als er mich sieht, bekommt sein Gesicht diesen entsetzten Ausdruck eines Menschen, der auf frischer Tat ertappt wird.
»Lea …«, stößt er hervor. »Was machst du hier?«
Ich sehe plötzlich ganz klar. Nellie ist seine Freundin, anders kann es nicht sein. Schon am Campus gingen die beiden so vertraut miteinander um. Vermutlich wohnt sie bei ihm, weshalb er mich auch von da fernhalten wollte. Oder sie sind sogar verheiratet, und deshalb steht nur ein Name am Klingelschild.
Dass wir nie alleine sind, ergibt plötzlich Sinn: Ich war für Jakob nur eine nette Begleitung. Küssen und etwas unternehmen war okay, aber mehr hatte er mit mir nie vor. Dafür gibt es ja die schöne Nellie mit der unversehrten Sommerhaut und dem tollen Haar …
»Viel Spaß mit Nellie!«, schleudere ich ihm entgegen, dann stürze ich blind die Treppe hinunter – und trete ins Leere. Ehe ich mich noch abfangen kann, falle ich zwei, drei Stufen und knalle auf die Marmorfliesen im dritten Stock.
Noch ist mein Schock größer als der Schmerz, als die Tür von Irmgards Praxis aufgeht.
»Du lieber Himmel, Lea!« Sie packt mich unter den Armen und hilft mir auf die Beine. Ich zittere am ganzen Körper und mir ist schlecht. Mein Knie blutet. »Du bist noch immer hier?«
Von oben kommt Jakob die Treppe heruntergepoltert.
»Lea! Ich –«
Er verstummt abrupt, als er Irmgard an meiner Seite bemerkt. Obwohl mein Knie brennt wie Feuer, entgeht mir nicht der eiserne Blick, mit dem sie ihn jetzt durchbohrt.
»Jakob«, sagt sie nur, aber in diesen zwei Silben schwingen ein Haufen Empörung, Vorwurf und Ärger mit.
»Ich kann das erklären!« Jakob wirkt plötzlich überhaupt nicht mehr selbstsicher. »Es war nicht beabsichtigt. Es hat sich einfach so ergeben, und …«
»Heb dir deine Rechtfertigungen für später auf.« Ich habe Irmgard noch nie so aus der Fassung erlebt. Ihre Stimme klirrt förmlich. »Ich kümmere mich jetzt erst einmal um Lea.«
»Lea, ich … ich will mit dir reden. Bitte. Komm mit nach oben, und wir klären das Ganze, okay?«
»Nein!« Ich will nur noch weg. »Ich will nach Hause! Lass mich in Ruhe!«
»Lea, bitte! Ja, ich habe einen Fehler gemacht, aber …«
Irmgard bringt ihn mit entschiedener Geste zum Schweigen. »Sie blutet, siehst du das nicht? Am besten, du gehst hoch und denkst ein bisschen über das Thema Grenzüberschreitung nach, und wenn ich Lea verarztet habe, werden wir beide ein sehr ernstes Gespräch führen, klar?!«
Tatsächlich trollt sich Jakob von der Bildfläche. Er wirkt wie ein eingeschüchterter Schulbub. Nun verstehe ich allerdings überhaupt nichts mehr. Was hat er mit der Psychotherapeutin zu schaffen und sie mit ihm?
Hinter Irmgards Türen wartet ein Verbandskasten auf mich. Das Desinfektionsmittel brennt ziemlich.
»Es muss zum Glück nichts genäht werden«, stellt Irmgard fest.
Ich kann nichts erwidern. Die Enttäuschung über Jakob sitzt tief. In meinen Gedanken stelle ich mir vor, wie er sich ein Stockwerk über uns gerade vor Nellie rechtfertigt und ihr erklärt, dass ich völlig bedeutungslos für ihn sei und nur sie wirklich zählt. Doch so richtig ausschmücken kann ich die Situation nicht, denn mir ist furchtbar übel und mein Schädel dröhnt.
»Ich fahre dich nach Hause, okay?«
Ich schüttle den Kopf. Das letzte, was ich will, ist, von meiner Psychotherapeutin bei meinen Eltern abgesetzt zu werden, und dann in diesem Zustand. Wer weiß, was sie ihnen erzählt!
»Danke, nein. Ich nehme ein Taxi.«
»Bist du dir sicher?«
Ich bringe ein Nicken zu Stande.
Mein Versuch, doch lieber die kostengünstigen Öffis zu nehmen, scheitert daran, dass ich mich schon auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle übergeben muss. Mir dreht sich alles.
Als das Taxi endlich in unserer Gasse in Mödling hält, ist mir immer noch schwindelig und schlecht. Im Haus brennt Licht. Ich will mich aufs Zimmer schleichen, doch im Flur treffe ich auf meinen Vater, der wohl gerade nach Wien aufbrechen wollte. Seit dem jüngsten Streit mit Eva schläft er wieder in seiner Wohnung im 8. Bezirk.
»Lea, um Gottes willen, was ist dir denn passiert?«
»Ich bin auf einer Treppe gestürzt«, sage ich wahrheitsgemäß. »Mir ist übel, ich habe Kopfweh und ich will ins Bett.«
»Moment!« Er zieht mich mit sanfter Gewalt zurück. »Du bist ja total blass und zitterst! Wir fahren jetzt ins Krankenhaus! Da kann ja sonst was in deinem Schädel zerplatzt sein!«
Den Rest des Abends verbringe ich in der Notaufnahme, im MRT und im CT. Auch wenn danach klar ist, dass ich keine Hirnblutung erlitten habe, behalten mich die Ärzte zur Beobachtung im Spital. Das Schlaf- und Beruhigungsmittel, das durch einen Schlauch und eine Nadel in meine Venen tropft, lässt mich schlummern wie ein Baby. Am nächsten Vormittag werde ich mit der Diagnose »Leichte Gehirnerschütterung« nach Hause entlassen.
*
Ich liege im Bett und ärgere mich. Wie konnte ich nur so naiv sein und mich von Jakob an der Nase herumführen und von seiner Souveränität blenden lassen! Alles kein Problem, alles cool, ich mag dich so, wie du bist, Lea. – Ha!
Anfangs, als ich noch nicht hormonell verwirrt war, hatte ich das ganz richtig gesehen: Ich war sein persönliches Caritas-Projekt. Lea, das arme Ding, das auch mal ein bisschen Spaß haben soll. Wie romantisch!
Fast könnte ich lachen über meine eigene Dummheit, aber nur fast. Denn in mir herrscht tiefe Traurigkeit. Ich fühle mich nicht nur hintergangen, sondern in allem bestätigt, was mir je von anderen bescheinigt wurde: Dass ich total verschroben bin. Mit mir stimmt was nicht. Deshalb habe ich noch immer keinen Freund, und deswegen erlaubt sich der einzige Typ, der mir nun näher kam, so einen bösen Scherz mit mir!
Einen, über den er wohl nicht mal mehr selbst lachen kann, das gebe ich zu, wenn ich an sein zerknittertes Gesicht vom Vortag denke.
Eva versorgt mich mit Tee und Zwieback, als hätte ich eine Magen-Darm-Grippe, doch ich bringe nicht einmal das herunter. Den Tee schütte ich letztendlich ins Klo, damit sie sich zumindest keine Sorgen macht, ich könnte dehydrieren. Gegen Mittag ruft mein Vater an und will wissen, wie es mir geht. Da spüre ich zum ersten Mal seit vielen Jahren, dass er immer noch der ist, der mit uns Baumhäuser baute: mein Papa, dem seine Familie wichtig ist. Das tröstet mich zumindest für ein paar Augenblicke über meinen Liebeskummer hinweg. Allerdings nicht lange. Dann vergieße ich wieder Tränen, bedauere mich selbst und falle schließlich in einen Dämmerschlaf.
Irgendwann höre ich unten das Schellen der Türglocke. Anscheinend wird Lisa wieder von den Enkelinnen zum Planschen abgeholt. Es dauert einen Moment, dann höre ich sie die Treppe heraufsteigen. Vermutlich holt sie sich den Bikini. Doch statt in ihr Zimmer abzubiegen, steckt sie den Kopf zu mir herein.
»Jacqueline è qui.«
Ich fahre hoch. Was bildet sich dieser Typ ein!
»Schick ihn weg. Ich will ihn nicht sehen!«
»Non capisco«, erwidert Lisa.
Kleine Kröte! Sie ist auch nicht besser. Wer will mich eigentlich noch alles zum Narren halten?
»Lea?« Jetzt taucht auch noch Eva auf. Ein Hauch von Irritation liegt auf ihrem Gesicht. »Da ist ein gewisser Jakob, der möchte dich sprechen.«
Ich will vor ihr keine Szene machen. Will nichts erklären müssen, nicht berichten, um wen es sich handelt und dass gerade er an meinem jetzigen Zustand nicht ganz unschuldig ist.
Also richte ich mich auf und bemühe mich um Gelassenheit.
»Ach so. Ja, das ist … jemand von der Uni. Er kann kurz hochkommen.«
Ich lese in Evas Augen, dass sie mir den Studienkollegen nicht abnimmt, aber sie verzichtet auf eine Erwiderung. Lisa feixt im Hintergrund.
Einen Moment später steht Jakob im Zimmer. Ich schließe hinter ihm die Tür, setze mich mit verschränkten Armen auf mein Bett und ignoriere die kleine Sonnenblume im Topf, die er jetzt aus ihrem Schutzpapier schält. Da ich sie ihm nicht abnehme, stellt er sie schließlich auf meinen Schreibtisch.
»Lea, es tut mir wirklich leid«, beginnt er, doch ich fahre dazwischen, ehe er fortfahren kann.
»Ja, toll! Mir tut’s auch leid, dass ich auf dich reingefallen bin!«
»Okay.« Ohne um meine Erlaubnis zu bitten, lässt er sich auf meinem Schreibtischstuhl nieder. »Bevor du hier weiter herumätzt, gib mir zumindest die Chance, die Sache zu erklären: Ja, ich hatte natürlich von diesem Mädchen gehört, das nach Jahren in Italien gefunden und nun wieder seiner Familie in Österreich übergeben wurde. Ich hatte das mitgekriegt wie mindestens vier Millionen andere Österreicher auch und mir gedacht: Puh, absoluter Wahnsinn! Als ich dich das erste Mal gesehen habe, im Hausgang, war das aber überhaupt nicht mehr auf meinem Radar. Ich fand dich süß und total sympathisch, und für mich war sofort klar, dass ich dich wiedersehen will. Ich habe gedacht, deine Eltern machen ein Paartherapie bei meiner Tante, und du …«
»Bei deiner Tante?«
Während ich mich bisher nur ärgerte, womit er mich eigentlich vollquasselt – schließlich ist unser Thema Nellie, nicht meine Lebensgeschichte –, schrillen jetzt alle Alarmglocken.
»Irmgard ist deine Tante?«
»Ja.« Er seufzt. »Warum glaubst du denn, dass die gestern so sauer auf mich war?«
In meinem Kopf zieht ein Film vorbei, der jeden Horrorstreifen in den Schatten stellt. Ich habe mit dieser Frau über meine größten Unsicherheiten und Probleme gesprochen, ihr mein Herz ausgeschüttet. Wenn jemand die dunklen Flecken meiner Familie kennt, dann sie. Und sie hat nichts Besseres zu tun, als ihrem Neffen zu erzählen, wer ihre neuen Klienten sind?!
»Das ist ja wohl ein glatter Bruch der Schweigepflicht!«, schnaube ich zitternd vor Wut.
»So war das nicht«, sagt Jakob. »Ich bin selbst darauf gekommen. Weil Lisa Italienisch redet … und die Art, wie ihr miteinander umgeht. Als würdet ihr euch noch kaum kennen. Ich brauchte nur eins und eins zusammenzählen. Aber da hatten wir schon einen tollen Nachmittag miteinander verbracht. Und wenn ich dir gesagt hätte, dass sie meine Tante ist, hätte dir das nicht gefallen.«
Ich lache bitter.
»Das gefällt mir auch nicht.«
»Ich wollte nicht riskieren, dass ich dich nicht mehr sehen kann«, fährt er fort. »Ich habe versucht, das Ganze zu umschiffen. Habe dir extra nie Fragen zu deiner Familie gestellt, damit du nicht glaubst, ich könnte irgendetwas wissen oder mehr wollen als einen Kontakt zu dir. Ich wollte auch nicht, dass da was zwischen uns steht, weil du denkst, dass meine Tante irgendwelche Details über dich erzählt. Sie würde nie gegen ihre Berufsethik verstoßen, nie! Sie war wirklich vollkommen außer sich, als sie gecheckt hat, dass wir zusammen sind!«
»Wir sind nicht zusammen«, stelle ich klar.
»Lea!« Jakob klingt gequält. »Es tut mir echt leid. Ich habe einen Fehler gemacht. Aber«, er seufzt, »ich weiß noch immer nicht, was ich hätte besser machen können. Ich wollte dich einfach wiedersehen!«
Ich schüttele zornig den Kopf. Er redet noch immer komplett am Thema vorbei und merkt es nicht mal!
»Nellie!«, schleudere ich ihm schließlich entgegen, weil ich dieses Ausweichen nicht mehr hinnehmen will. »Du hast schon eine Freundin! Eine ganz tolle sogar, was willst du da eigentlich mit mir?«
»Hör auf mit dem Scheiß …« Jakob springt vom Stuhl auf und überwindet mit wenigen Schritten die Distanz zwischen uns. Er könnte mich an den Schultern packen und schütteln, doch stattdessen geht er vor mir in die Hocke und sieht mir fest in die Augen. »Nellie ist meine Schwester! Wir wohnen zusammen. Das Haus, in dem die Praxis liegt, gehört unserer Mutter.«
»Wie bitte?!« Ich schlucke trocken. Ein Teil von mir kommt sich jetzt dumm vor, der andere jedoch hegt immer noch Groll.
»Du wolltest nicht, dass ich dich besuchen komme.«
»Das stimmt. Aber nicht wegen Nellie, sondern wegen Tante Irmgard. Ich hatte Angst, dass sie dich mit mir sieht. Ich wusste ja, sie würde ein Riesentheater machen, wenn sie rauskriegt, dass wir zusammen sind.«
Er sagt es wieder. Diesmal widerspreche ich ihm nicht, auch wenn ich das noch immer anders sehe. Dazu ist mir noch immer schwindlig und ich habe keine Energie mehr zu reden.
»Du findest also nicht, das ich seltsam bin?«
Mein Groll ist auf dem Rückzug.
»Doch.« Jakob verdreht mächtig die Augen. »Ich finde dich total seltsam! Und zwar, weil du so stur bist und grausam und meine Entschuldigung nicht annehmen willst, obwohl sie von Herzen kommt!« Er streckt seinen Arm aus. Für ein paar Sekunden verschränken sich unsere Hände ineinander.
»Gib mir ein bisschen Zeit, um über alles nachzudenken«, sage ich dann mit leisem Seufzen. »Ich habe echt Kopfweh und fühle mich nicht gut.«
Jetzt ist er es, der seufzt. Langsam lässt er meine Hand los. »Okay. Wie du willst.«
Als er geht, wirkt er so erschlagen, wie ich mich fühle.
*
»Ich weiß einfach nicht mehr weiter!« Eva ist verzweifelt. Lisa heult im Hintergrund. Auf dem Herd brodelt das Wasser, in dem die Spaghetti gekocht werden sollten. »Ich habe das mit der Tanzgruppe doch nur gut gemeint! Die Mödlinger Ferienbetreuung macht das sehr nett, und sie würde da noch andere Mädchen in ihrem Alter kennenlernen, jetzt, wo die Müllners für zwei Wochen in Kroatien sind. Aber sie weigert sich, egal, was man ihr vorschlägt! Sie will sich einfach nicht integrieren. Sie will einfach nicht unser Kind sein!«
Ich drehe den Herd niedriger und wische das übergekochte Wasser weg, während ich mich frage, warum Lisas Desinteresse am Jazzdance schon wieder zu einem Drama führen soll.
»Sie hat doch vorher gesagt, was sie will«, rufe ich Eva ins Gedächtnis. »Sie will segeln. Was hält dich davon ab, sie jeden Tag ins Auto zu packen und an den Neusiedler See zu fahren? Da gibt es viele Segelschulen!«
»Weil. Ich. Das. Nicht. Will.« Eva sieht mich an, als würde sie mich am liebsten auffressen. »Diese ganze Segelei, das ist doch das eigentliche Problem! Sie spricht von der Sea Star, als wäre es das Paradies auf Erden gewesen und die Ferraros, diese kriminelle Bande, ihre Götter! Wenn du dieses Fotoalbum angeschaut hättest …«
»Ich kenne es! Und?«
»Und? Ist das dein Ernst? – Diese Ferraros … die haben sie von vorn bis hinten verwöhnt!«
»Ja, in Anbetracht aller Umstände: ein Glück! Wäre es dir lieber gewesen, irgendwelche Perversen hätten sie misshandelt?«
»Natürlich nicht!«, faucht Eva zurück. »Aber die haben mir mein Kind weggenommen und es zu etwas Falschem erzogen!«
»Wozu denn?«
Ich verstehe wirklich nicht, worauf sie hinauswill.
Eva schnaubt.
»Sie hat Kleidchen getragen, mit Puppen und Pferdchen gespielt, im Kinderballett getanzt … ein kleines Mädchen eben. Und jetzt kreischt sie, wenn man sie einen Rock tragen soll, und findet rosa hässlich! Sie klettert auf Bäume, macht sich auf eigene Faust mit irgendwelchen Nachbarn bekannt, haut ständig ab und hat null Interesse an den Sachen, die ich ihr kaufe! Und sie mag mein Essen nicht«, schluchzt Eva auf. »Sie sagt, die Spaghetti Bolognese von ihrer anderen Mamma wären besser gewesen!«
Der kleine blonde Teufel.
Automatisch muss ich an Jakob denken. Zwei Tage sind vergangen, seit er hier war. Meine Gehirnerschütterung ist abgeklungen, mein leiser Kummer nicht. Ich bereue mit jedem Tag mehr, dass ich ihn weggeschickt habe. Vielleicht hätte ich doch gleich mit ihm reden sollen.
»Und sie will einfach kein Deutsch lernen! Wenn ich nicht Italienisch mit ihr rede, reagiert sie nicht! Ich verstehe das nicht. An irgendwelche Worte muss sie sich doch erinnern, oder sie kann sie neu lernen. Aber nein, sie verweigert sich total.«
»Eva, das Segeln ist nicht das Problem und das Deutsch eigentlich auch nicht.« Auch wenn ich Lisa gerade für ein ziemliches Biest halte, muss ich etwas klarstellen. »Das Problem ist, dass du dir in den letzten Jahren in deiner Phantasie ein Abbild von Lisa zusammengebaut hast, das nicht der Realität entspricht. Sie interessiert sich eben nicht für rosa Kleidchen und Puppen. Na und? Davon geht die Welt nicht unter!«
»Daran ist diese Frau schuld«, erwidert Eva. »Schau dir diese Sonia Ferraro doch auf den Fotos an! Geschmacklos bis zum letzten! Und er, dieser Draufgänger, hat Lisa erzogen wie den Sohn, den er sich wahrscheinlich gewünscht hat. Wenn du diese Bilder gesehen hättest! Wie sie nur wenige Zentimeter über dem schäumenden Meer hängt oder auf dem Masten herumturnt …«
»Ich kenne das Album«, wiederhole ich geduldig. »Eva, es ist wirklich zwecklos, auf Lisas Kosten einen Privatkrieg gegen die Ferraros zu führen. Die sind tot! Und wenn du ihr das Segeln verbietest und sie stattdessen in eine Jazzdance-Gruppe zwingst, wird sie nie überhaupt ein einziges Wort Deutsch mit dir reden, das ist doch logisch!«
Ich kann nur hoffen, dass Eva baldmöglichst wieder eine Einzelsitzung bei Irmgard hat.
»Du bist neuerdings so gar nicht du selbst«, wirft Eva mir nun vor. »Statt mich zu unterstützen, bist du aufmüpfig! Hat das mit diesem Jakob zu tun?«
Nein, ich will mir die x-te Fortsetzung dieser Familientelenovela nicht geben. Das wird mir in dieser Sekunde klar.
Warum sollte Lea noch immer so viel Zeit zu Hause herumsitzen, wenn es doch jetzt diesen Freund gibt?
»Vielleicht«, antworte ich also auf Evas Frage, dann gehe ich in mein Zimmer und ziehe mich um.
*
Diesmal öffnet Jakob persönlich die Tür. Sein Gesicht hellt sich auf, als er mich sieht, dann wird er unsicher.
»Lea?«
»Kann ich reinkommen?«
»Klar.«
Bereitwillig macht er mir Platz. Ich ziehe die Tür zu. Im geräumigen Flur seiner Altbauwohnung stehen wir uns gegenüber. Ich habe nicht vor, lange um den heißen Brei zu reden.
»Lüg mich nie wieder an! Verheimliche mir gefälligst nichts! Und ignorier nicht mein Leben und meine Vergangenheit! Ich hab genug davon! Glaube mir: Von allen Leuten, mit denen ich in den letzten Jahren zu tun hatte, waren die am schlimmsten, die so getan haben, als wäre alles in bester Ordnung. Denn das war und ist es nicht, Jakob!«
Jakob nickt langsam.
»Es tut mir leid«, sagt er dann. »Ich habe mich echt verhalten wie ein Trottel. Aber ich hatte nur gute Absichten. Ich …«
»Du hast es mir erklärt. Ich hab’s kapiert. Ich will nur keine Wiederholung davon.«
»Die wird es nicht geben.«
Er schließt mich in die Arme, ich lasse mich fallen.
An diesem Abend fahre ich nicht mehr nach Hause, sondern schreibe meinen Eltern, dass ich in Wien übernachte. Eva wird sich den Rest denken.
Wir schlafen in dieser Nacht das erste Mal miteinander, und es ist wunderschön. Ich denke nicht an meine zerschnittenen Oberschenkel und die Narben an meinen Armen, ich mache mir keine Sorgen, ob ich alles richtig mache, ich schäme mich nicht für meine Figur.
Doch abgesehen vom Sex, entsteht zwischen uns eine Vertrautheit, die ich nie erwartet hätte. Nachdem die Karten nun offen dem Tisch liegen, reden wir über so ziemlich alles, was uns durch den Kopf geht: über seinen Versuch, Wirtschaft zu studieren, weil sein Vater ihn als künftigen Junior-Chef sah, über seine Abneigung gegen die Materie und seine ehrgeizigen Kommilitonen, über die Enttäuschung seiner Eltern, als er das Studium nach zwei Semestern hinwarf und in den Sozialbereich wechselte. Über meine bisherigen Studienwechsel und meine Planlosigkeit, was meine berufliche Zukunft betrifft.
Seine Familie, meine Familie – unerschöpfliche Themen! Jakobs Eltern sind seit Jahren geschieden, beide haben neue Partner. Seine jüngere Schwester Sylvie ist nur wenig älter als Lisa und genauso verhaltensoriginell. Wir amüsieren uns bei der Vorstellung, auf welche Ideen sie wohl erst zusammen kommen werden.
Und ich erzähle von den schrecklichen Jahren, die hinter mir liegen. Es tut gut, dass sich jemand aufrichtig dafür interessiert, wie es mir erging, und es tut gut, endlich nicht nur Irmgard davon zu erzählen. Die Worte sprudeln nur so aus mir heraus.
Irgendwann schlafen wir Arm in Arm ein. Als ich am nächsten Morgen aufwache, fühle ich, dass der Kloß in meiner Kehle, der mich so lange hatte verstummen lassen, weg ist.
Und nicht nur das.
Ich fühle, dass ich wieder sichtbar geworden bin.
Ich fühle mich normal.
*
Nach dem Frühstück radelt Jakob zur Arbeit. Ich läute an der Türe, hinter der Irmgard nicht nur ihre Praxisräume hat, sondern auch wohnt. Es huscht allenfalls eine kleine Irritation über ihr Gesicht, als sie mich so früh und unangemeldet sieht.
»Hallo, Lea. – Kaffee?«, bietet sie mir an, als ich Augenblicke später auch schon in ihrer Küche Platz genommen habe. Ein Käsebrot liegt angebissen auf dem Teller, offenbar habe ich sie beim Frühstück gestört.
»Ich werde nicht lang bleiben«, versichere ich schuldbewusst, doch Irmgard winkt ab.
»Mein erster Klient kommt erst um neun. Wir haben also genug Zeit, noch zusammen einen Kaffee zu trinken.« Sie nimmt eine Tasse aus dem Küchenkasten und wirft dabei einen kurzen Blick über die Schulter. »Denn mehr als Kaffee trinken kann ich dir nicht mehr bieten. – Das verstehst du doch, oder?«
»Deshalb bin ich gekommen.«
»Ach ja?« Nun wirkt Irmgard doch überrascht. Sie lehnt mit dem Rücken am Küchenkasten und sieht mich interessiert an.
»Ich weiß, dass du mich nicht mehr therapieren darfst, wegen meiner Beziehung zu Jakob. Weil es gegen berufsethische Grundsätze verstößt. Aber ich wollte mich bei dir bedanken für das, was du schon für mich und für uns getan hast. Und mich als deine Patientin verabschieden.« Bei meiner emotionalen Rede kommen mir fast selbst die Tränen.
Irmgard lächelt gerührt. »Danke. Dann verabschiede ich mich im gleichen Zug als deine Therapeutin.« Sie kommt zu mir und legt mir die Hand auf die Schulter. »Ich glaube ohnehin, dass du mich am allerwenigsten von deiner Familie brauchst. Du gehst deinen Weg, Lea. Da bin ich ganz sicher.«
Abgesehen von Jakob, ist sie damit der zweite Mensch, der mir etwas zutraut. Ich spüre, wie in mir die Sonne aufgeht.