Wie eine Gefangene
24. August – 6. September 2018
Als ich an diesem Samstagnachmittag nach einer Nacht und einem ausgiebigen Frühstück bei Jakob in unsere Straße abbiege, traue ich meinen Augen kaum: Vor unserem Haus parkt ein Kleinlastwagen mit dem Aufdruck eines Baumarktes. Drei Männer sind dabei, Bretter und Balken von der Ladefläche in den Garten zu schaffen. Zwei davon tragen Arbeitskleidung und reden Polnisch. Der dritte ist mein Vater – in Jeans und verwaschenem T-Shirt ein ungewohnter Anblick.
Da er damit beschäftigt ist, die zwei Hilfskräfte anzuweisen, und gleichzeitig selbst mitanpackt, verkneife ich mir die Frage, wofür dieses Holz gedacht ist, und folge ihnen lediglich durch das offene Tor zur Rückseite des Hauses.
Lisa springt in Badehose und Top aufgeregt im Garten herum. Neben dem Kirschbaum stapeln sich bereits Balken und Bretter, obwohl die Ladefläche des LKWs noch halbvoll ist.
»Was wird das? Eine Saunahütte?«, frage ich in amüsiertem Staunen, als ich Eva entdecke. Sie sitzt im dünnen Sommerkleid im Halbschatten.
»Schön wär’s.« Sie seufzt. »Dein Vater ist jetzt völlig verrückt geworden. Nachdem du ihn neulich davon überzeugt hast, dass sie zum Planschen weiterhin nach nebenan zu den Müllners soll, baut er ihr jetzt ein begehbares Segelboot!«
»Ein … was?« Spontan fühle ich mich an das Baumhaus in Oma Bettys Garten erinnert. Papa hat schon immer gern mit Holz gearbeitet und die fehlende Tischlerausbildung erfolgreich durch handwerkliches Geschick ausgeglichen. Die Konstruktion eines Schiffes stelle ich mir allerdings durchaus ambitioniert vor.
»Er hat im Internet eine Bauanleitung ausgegraben. Es ist ein Riesending, so, wie du es auf manchen Spielplätzen findest: mit Unterdeck, zwei Masten zum Hochklettern, Steuerrad und einer Rutschbahn von Bord in die Wiese.«
»Ist sie dafür nicht schon ein bisschen zu alt?«
»Meine Rede«, erwidert Eva lakonisch. »Aber du siehst ja: Im Moment ist sie begeistert.«
»Und in zwei Jahren hat sie dann andere Interessen«, ergänze ich, ohne dabei an etwas Bestimmtes zu denken.
»Nein, bitte nicht! Es genügt völlig, wenn sie ab fünfzehn mit Jungs anfängt!«, seufzt Eva. Lisas teilweise sehr frühreifes Verhalten, sobald ein junger Mann in der Nähe auftaucht, ist wohl auch ihr nicht entgangen. Ich denke daran, wie Lisa am alten AKH mit Paul und Jonas herumgeschäkert hat, obwohl die in ihren Augen doch uralt und damit uninteressant sein mussten. Manchmal war sie noch ein Kind, wie jetzt beispielsweise, doch es gibt Momente, da wirkt sie schon wie ein Teenager – was man ihr allein wegen ihrer Größe abnimmt.
»Na ja, oft beginnt es schon früher«, sage ich. »Zumindest bei den Mädchen. Es gab einige an meiner Schule, die da wirklich schon den ersten Freund hatten.«
»Mag sein, aber mir wäre es trotzdem lieber, es würde so verlaufen wie bei dir.« Eva drückt meine Hand.
Wie bei mir? Die Vorstellung, dass sie meiner Schwester lieber so eine verkorkste Entwicklung wünscht, anstatt ihr ein bisschen Verknalltsein zu gönnen, legt mir schon einen bissigen Kommentar auf die Zunge. Doch dann fügt Eva hinzu: »Ich will einfach gern noch ein paar Jahre Mama sein dürfen. Sie ist jetzt schon so selbstständig. Aber wenn dann noch die Hormone im Dreieck springen und irgend so ein Pickelgesicht ihre ganze Aufmerksamkeit hatte, ist es vorbei. Dann braucht sie mich nicht mehr und geht ihre eigenen Wege.«
Die Traurigkeit in ihren Augen weckt mein Mitleid. »Du hättest einfach gleich nach Lisa noch zwei Kinder kriegen sollen. Zwillinge am besten.«
Eva lacht leise, und ich bin erleichtert. Ziel erreicht.
»Ich wollte wirklich gern noch ein zweites«, fügt sie dann ernst hinzu. »Aber ich war damals so«, sie ringt mit sich, sucht nach dem passenden Wort, »beeinflusst von den Erwartungen an mich. Alle sahen in mir die Karrierefrau. Und ich wollte einfach nur zu Hause bleiben und mich um euch kümmern.«
Das überrascht mich weniger als der Umstand, dass sie es erstmals offen ausspricht. Das Bild der TV-Moderatorin eines Promimagazins, die von einer Polit-Karriere träumte, hatte für mich schon lange Risse bekommen.
»So, das war’s!« Papa drückt den Helfern ein paar Geldscheine in die Hände und verabschiedet sie. Dann verschwindet er in der Küche. Mit einer Bierflasche in der Hand kommt er zurück, durchgeschwitzt und durstig, aber voller Elan.
»Das wird ein echtes Kunstwerk, sage ich euch!« Er wirft einen zufriedenen Blick auf den Bretterstapel, auf dem Lisa jetzt herumklettert. Plötzlich verfinstert sich sein Gesicht. »Lisa, no! Be careful! This can be dangerous!«
Lisa klettert weiter. Eine der unteren Lagen beginnt leicht zu verrutschen.
»Attenzione!«, ruft Eva, doch da verliert Lisa auch schon das Gleichgewicht und rudert wild mit den Armen.
»Spring ab!«, rufe ich, doch sie kann nicht, weil der Stapel in Bewegung geraten ist. Mit einem schrillen Schrei fällt sie zwischen die Holzteile.
Im Nu sind wir zur Stelle. Zum Glück ist es weniger schlimm, als es aussah. Die zwei schweren Balken, die sich fast auf sie geschoben hätten, werden durch ein quer verkantetes Brett auf Abstand gehalten. Lediglich der linke Arm wird von einem der Pfosten auf die Wiese gedrückt. Tränen laufen ihr über die Wangen, als wir sie mit vereinten Kräften befreien.
»Aia, aia …«, jammert Lisa mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Che male, che male!«
»Stretch your arm, so we can see if it’s broken!«, schlägt mein Vater vor, und das Ergebnis ist eindeutig, als Lisa ihn nur schwer anheben und schon gar nicht abwinkeln kann.
»Mein Gott, das hat gerade noch gefehlt!«, ruft Eva aufgebracht. »Das war’s mit dem ruhigen Samstag! Ich fahre mit ihr in die Notambulanz.«
Schon holt sie den Autoschlüssel und schiebt die weinende Lisa sanft an uns vorbei ins Haus. »Nicht so schlimm, Schatz«, versucht sie Lisa zu trösten. »Wir fahren jetzt ins Krankenhaus. Adesso andiamo all’ospedale, e tutto andra bene!«
Als sie sich zu meinem Vater umdreht, klingt ihre Stimme bedeutend weniger sanft. »Was ist das mit dem Schiff auch für eine blöde Schnapsidee! Du siehst ja, was passiert! «
Mein Vater umklammert die Bierflasche wie einen Rettungsanker auf tosender See.
*
Zwei Stunden später sitzen wir auf der Terrasse und mein Vater genehmigt sich das zweite Bier des Tages, um sein Gewissen zu beruhigen. Eva ist mit Lisa noch immer nicht aus dem Krankenhaus zurück.
»Du kannst nichts dazu. Sie wollte einfach nicht hören!« Ich komme mir vor wie eine Schallplatte mit Sprung, denn seit wir den Stapel Bretter gemeinsam ordentlich und vor allem rutschfest wieder aufgeschichtet haben, versichere ich ihm zigfach dasselbe.
»Aber wieso sollte sie denn nicht auf mich hören wollen?«, fragt er und klingt wie ein erstauntes Kind. Ich kann nur den Kopf schütteln über so viel Naivität und frage mich, wie dieser Mann eigentlich seine Mitarbeiter führt.
»Jetzt mal ernsthaft: Sie will nicht hören, weil sie es einfach nicht will! Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Sie testet ihre Grenzen aus!«
Nachdenklich nippt er an seinem Bier.
»Jedenfalls ist Eva jetzt wieder sauer auf mich, weil das passiert ist. Ich kann ihr irgendwie nie etwas recht machen.«
Aber das hat eher mit Eva zu tun als mit ihm. – Ich überlege noch, ob ich meinen Gedanken aussprechen soll, als er fortfährt: »In der Stunde bei Irmgard, da habe ich ihr einen Brief geschrieben. Sie hat ihn gelesen. Aber sie hat nicht viel dazu gesagt. Trotzdem dachte ich, dass es wieder besser zwischen uns läuft.«
»Das dachte ich eigentlich auch«, gebe ich zu. Und immerhin hat er schon ein paar Mal hier übernachtet!
»Ja, aber das … es war nicht das, was du denkst.«
Papa wirkt fast verlegen. Ich hebe die Augenbrauen.
»Was denke ich denn?«
»Ach komm!« Er versetzt mir mit einem Grinsen einen leichten Stoß in die Rippen. Ich quietsche überrascht auf. »Tu doch nicht so! Die Geschichte, dass du ausgerechnet während der Semesterferien so viel in Wien zu tun hast und bei Freundinnen übernachtest, hat allmählich einen Bart!«
Ich fühle, wie mir das Blut in den Kopf steigt. Wieso habe ich meinen Eltern eigentlich nichts von Jakob erzählt? Zum Teil sicher, weil sie mir immer zu beschäftigt mit Lisa und ihren eigenen Problemen vorkommen. Immerhin akzeptieren sie inzwischen ohne Panikattacken, dass ich komme und gehe, wie ich will. Herzlichen Dank, Irmgard!
Apropos. Auch die Tatsache, dass ich sie nicht mehr in die Familientherapie begleite, haben sie hingenommen. Irmgard hat es ihnen plausibel dargestellt: Es gehe vorrangig um das Verhältnis Eltern-Kind, eine Beziehungsproblematik zwischen den Schwestern sehe sie auch gar nicht.
»Also. Wann genau dürfen wir ihn kennenlernen?«
Papa lässt erstaunlicherweise nicht locker.
»Irgendwann.«
Mir fällt ein, dass die beiden sich schon einmal kurz gesehen haben, und erinnere mich an die peinliche Aktion meines Vaters mit dem Geld und seinen Gesichtsausdruck, der ganz deutlich zeigte, was er von einem mutmaßlichen Studenten mit Haarknoten und rosa Pludershorts hielt.
»Ich möchte die Frau zurück, die ich geheiratet habe«, spult Papa nun wieder das Thema zurück. »Die, mit der ich ausgehen konnte, mit der ich Spaß hatte, die sich gerne an meiner Seite gezeigt hat – die, die mitten im Leben steht! Ich dachte all die Jahre, wenn Lisa wieder zurückkäme, wäre Eva wieder so wie früher. Aber so ist es nicht. Sie erwartet von Lisa zu viel. Ich finde, es läuft doch relativ gut, oder?«
»Ja, das sehe ich auch so.«
»Eva macht sich Sorgen, was die Einschulung betrifft«, fährt Papa fort. »Mit Lisas Deutsch ist es ja nicht weit her. Sie kann zudem nur schwer stillsitzen und sich konzentrieren. Und dann«, er seufzt. »Francesca Capelli und Maria DiGreco hatten es schon angesprochen: ihr Sozialverhalten hinkt auch hinterher. Sie reagiert aggressiv, hat keine Stresstoleranz. Deshalb kann es sein, dass sie den Alltag an einer normalen staatlichen Schule nicht packt. Nächste Woche haben wir deshalb einen Termin in Baden – da gibt es eine amerikanische Privatschule mit kleinen Klassen und individueller Förderung.«
»Ach ja?«
Ich bin überrascht, weil Papa eigentlich noch nie ein Freund derartiger Institutionen war. Seiner Meinung nach züchten Privatschulen mit besonderer pädagogischer Ausrichtung ein Klientel von Arbeitskräften heran, die sich nur schwer in normale Unternehmenstrukturen eingliedern lassen.
»Es geht ja auch um die Sprache«, rechtfertigt er jetzt seine Pläne. »Auf Englisch kann sie sich zumindest verständigen.«
Dass Lisa kein Deutsch versteht, kann ich so nicht unterschreiben, aber es reicht wohl tatsächlich nicht, um im Unterricht mitzukommen.
»Und wie soll sie dann jeden Tag nach Baden kommen? Oder geht da ein Bus?«
»Also, mit dem Bus fährt sie sicher nicht!«, meldet sich Papas Kontrollbedürfnis. »Eva will sie abholen und hinbringen. Es ist ja nur eine halbe Stunde Weg, und sie hat am meisten Zeit.«
Vermutlich liegt genau darin das Problem: dass Eva keine Beschäftigung mehr hat außer Lisa, und das seit Jahren!
»Liebst du sie eigentlich noch?«
Die Frage ist mir bereits über die Lippen gekommen, als mir klar wird, wie intim sie eigentlich ist. Papas irritierter Blick zeigt, dass ihn meine plötzliche Direktheit überrascht. Er setzt gerade zu einer Antwort an, als wir hören, wie sich der Schlüssel im Haustürschloss dreht. Augenblicke später stürmt Lisa zu uns auf die Terrasse. Ihr linker Arm steckt in einem Gipsverband, auf dem bereits drei Unterschriften prangen. Eine davon stammt von Eva, die jetzt ebenfalls auf die Terrasse kommt.
Lisa bedeckt uns mit einem aufgeregten Bericht über ihr Krankenhausabenteuer. Oberarzt und Krankenschwester mussten bereits auf dem Gipsverband unterschreiben, nun sind wir an der Reihe. Natürlich müssen wir dazu vorher verschiedenfarbige Filzstifte suchen.
Papa malt neben seinen Namen ein Segelschiff, eine Palme und einen Fisch. Lisa quietscht vor Begeisterung.
Als wir später gemeinsam auf der Terrasse Pizza vom Lieferdienst essen, fühlt es sich an wie Familie. Und noch etwas wird mir klar: Ich habe meinen Papa zurück – den, der für uns ein offenes Ohr hatte, mit uns herumalberte und ein Baumhaus baute.
*
Ein Sommertag folgt dem nächsten. Auch wenn ich sehr viel Zeit mit Jakob verbringe, spüre ich bei meinen Besuchen zu Hause, dass etwas in der Luft liegt. Unserem Familienabend auf der Terrasse ist wider Erwarten kein zweiter gefolgt. Papa ist wieder gehäuft auf Dienstreise und Evas Stimmung schwankt mit dem, was Lisa tut und sagt. Seit Lisas Arm im Gips steckt, kann sie nicht mit den Enkelinnen im Pool herumtoben, und das, obwohl schönster Sonnenschein herrscht! Ihre Laune ist seitdem auf Sturzflug programmiert und ich frage mich, wann die Talsohle erreicht ist.
Der Schulbeginn Anfang September trägt auch nicht dazu bei, Lisa aufzuheitern – und das, wo Eva von der Schule in Baden regelrecht schwärmt. Alles sei genauso wie beim Beratungsgespräch in Aussicht gestellt, Lisas Mitschüler international durchmischt nett und sympathisch. Keine Ahnung, wie meine Schwester das selbst sieht, sie schweigt sich aus.
Es berührt mich allerdings nur mäßig, denn ich hänge in letzter Zeit meinen eigenen Gedanken nach und grübele über mich. Alle haben zu tun, nur ich nicht. Jakob ist oft im Nachtdienst, alle seine Studentenfreunde haben irgendwelche Jobs oder arbeiten nebenher. Nur ich bekomme mein Geld von Papa. Worüber ich mir früher nicht den Kopf zerbrochen habe, beginnt mich zu beschäftigen. Klar ist es bequem, wenn er mein Studium finanziert und mir Monat für Monat ein nettes Taschengeld auszahlt. Aber ich bin einundzwanzig! Und was ist mit Arbeitserfahrung? Was auch immer ich später machen werde – ein Lebenslauf, in dem kein einziges Praktikum steht, kommt sicher nicht gut an.
Es macht mich zunehmend unglücklich zu wissen, dass alle anderen ihren Lebensunterhalt verdienen, während ich drei Monate lang quasi nichts tue. Ich langweile mich in den Erdboden, wenn Jakob arbeitet, und habe ein schlechtes Gewissen, dass ich meine Zeit nicht sinnvoll nütze. Wie lange will ich eigentlich noch von meinen Eltern abhängig sein?
Mein Grübeln bricht ab, als ich eines Nachmittags unser Haus betrete. Krisenstimmung liegt in der Luft. Ich kann sie spüren, obwohl alles noch relativ friedlich wirkt. Lisa lungert vor dem Fernseher herum und zappt durch die Programme. Als sie mich sieht, begrüßt sie mich mit einem etwas missmutigem »Ciao«, schenkt mir aber weiter keine Aufmerksamkeit. Bei MTV bleibt sie hängen und dreht den Ton lauter.
Irgendein Videoclip flattert über den Monitor, auf dem halbnackte Menschen undefinierbaren Geschlechts auf einem grauen Boden herumrobben. Auch die Rhythmen, die sich Musik nennen, klingen eher verstörend als melodisch.
»Lisa, machst du bitte den Fernseher leiser?« Eva kommt aus der offenen Küche nach vorne, ihr mahnender Blick zeigt, dass sie die Diskussion nicht zum ersten Mal führen. »Und hast du die Hausaufgaben gemacht?«
Lisa starrt unbeirrt in den Fernseher.
»Lisa! Stell leiser und mach deine Aufgaben! Adesso!« Evas schriller Unterton verheißt nichts Gutes, aber von Lisa kommt keine Reaktion.
Eva geht zum Fernseher und schaltet ihn aus.
Ein hässliches Schimpfwort, ein finsterer Blick, dann schleudert Lisa wutentbrannt die Fernbedienung von sich. Das Gerät fliegt nur knapp an Evas Kopf vorbei und zerschellt an der Wand. Seine Einzelteile verteilen sich geräuschvoll über den gefliesten Küchenboden.
»Also das ist …«, setzt Eva an. Was auch immer, sie kommt nicht dazu.
»Ti odio!«, schmettert Lisa ihr entgegen und springt auf. »Vi odio tutti quanti!« Sie hasst Eva; sie hasst uns alle. Dann rennt sie die Treppe hinauf in den ersten Stock. Wenig später fällt ihre Zimmertüre mit Karacho ins Schloss.
Eva starrt mich ein paar Sekunden lang wortlos an, dann bricht sie in Tränen aus.
»Ich halte das nicht mehr aus! Diesen Hass! Diese Abneigung! Ich dachte, es würde besser, aber stattdessen wird es schlimmer! Und wie immer, wenn man deinen Vater braucht, ist er nicht hier!«
Da muss ich ihr recht geben. Auch ich hätte lieber, dass er die Rolle von Evas Seelentröster übernimmt.
»Jetzt nimm das doch nicht so persönlich«, versuche ich sie zu beschwichtigen. »Sie ist ein trotziges Kind, nicht mehr und nicht weniger. Sie hätte die Fernbedienung genauso nach den Ferraros geschmissen, wenn die ihr MTV abstellen!«
»Die Ferraros.« Eva zischt den Nachnamen eher, als dass sie ihn ausspricht. »Du irrst dich: Bei denen war alles perfekt. Bei ihrer echten Mama und ihrem echten Papa! So hat sie mir das heute schon erklärt. Da musste sie nämlich nicht in eine dumme Schule gehen. Alles war dort besser, hat sie mir gesagt!«
Lisa ist eine Expertin darin, Salz in Evas Wunden zu streuen.
»Lass dich nicht immer so provozieren von ihr.« Ich lege Eva meinen Arm um die Schultern und drücke sie leicht an mich. »Diese Spielchen spielt sie doch mit uns allen! Könnte sie jetzt wirklich zu den Ferraros auf die Sea Star zurück, würde sie denen wahrscheinlich erzählen, dass sie hier ständig ihre Lieblingsessen kriegt und fernsehen darf bis zum Umfallen!«
Eva wischt sich mit dem Handrücken ihre Tränen aus den Augen. »Ich fühle ich mich so allein, in Stich gelassen von allen Seiten … Sie hat mit dir Spaß, sie hat mit Dieter Spaß, aber mit mir ist sie immer komisch!«
»Das stimmt doch nicht«, wende ich ein, klinge aber auch in meinen eigenen Ohren wenig überzeugend. Tatsächlich wirkt Lisa in Evas Gegenwart immer etwas verkrampft. »Du solltest mit Irmgard darüber sprechen.«
»Das habe ich schon!«
»Und?«
»Sie sagt, ich will zu viel. Und dass ich Lisa Zeit geben muss. Herrgott, wie viel Zeit denn noch! Ich hatte sie fast sieben Jahre lang nicht bei mir, und jetzt?!«
»Aber du solltest trotzdem auch wieder mehr an dich denken, nicht nur an sie. Tu endlich mal etwas für dich. Geh joggen, such dir irgendetwas … Nettes.«
Ehrlich gesagt weiß auch ich nicht, was Eva aus ihrem Die-Frauen-von-Stepford-Modus reißen könnte. Doch damit soll sich Irmgard beschäftigen. Ich bin raus.
*
Lisa liegt rücklings auf ihrem Bett, als ich ihr Zimmer betrete, die rotgeweinten Augen starr zur Decke gerichtet.
»Kann ich mich zu dir setzen?« Ich warte ihr Nicken ab, ehe ich mich auf der Bettkante niederlasse.
Wo ich überhaupt die ganze Zeit gewesen bin, fragt sie mich, und es klingt vorwurfsvoll.
»Ero con Jakob. Aber du warst doch sowieso in der Schule.«
»Odio la scuola.« Lisa setzt sich auf, und dann legt sie los.
Sie hasst nicht nur die Schule. Sie hasst ihr ganzes Leben!
Warum, frage ich nur. Die Antwort kommt ohne Zögern.
Weil sie sich wie im Gefängnis fühlt.
Dass sie morgens früh aufstehen soll. Dann stillsitzen in der Schule. Dass alles kontrolliert wird – nicht nur die Aufgaben, sondern alles! Eva bringt sie hin, holt sie ab. Danach Mittagessen und Hausaufgaben. Und sonst passiert gar nichts. Sie sitzt nur herum und langweilt sich zu Tode!
Das ist ungerecht, weil Eva alles tut, um ihr die Nachmittage abwechslungsreich zu gestalten. Ich weiß, dass sie erst gestern in der Spätnachmittagsvorstellung im Kino waren und am ersten Schultag im McDonalds, weil sich Lisa das gewünscht hatte. Und ohne Gipsarm wäre sicher auch wieder mehr möglich.
Aber Lisa will eigentlich was ganz anderes. Was, hat sie uns schon oft wissen lassen. Sie will zurück ans Meer. Zu den Wellen, dem Wind und den Möwen.
»Dir fehlt die Sea Star«, stelle ich in den Raum. »Und … deine anderen Eltern.«
Es fällt mir schwer, die Ferraros so zu bezeichnen, doch ich möchte, dass sie sich verstanden fühlt. Ihre Antwort überrascht mich. Sie weiß, dass es ihr früheres Leben nicht mehr gibt.
»Ma questa vita«, sie macht eine ausschweifende Geste quer durchs Zimmer, »questa vita … non è la mia vita!«
Sie kann nicht in dieser Stadt wohnen, sagt sie, nicht ohne das Meer leben. Es bringt sie um.
So melodramatisch ihre Worte auch klingen mögen – in ihren Augen steht deutlich zu lesen, wie ernst es ihr ist. Ich schlucke. Automatisch senkt sich mein Blick auf die Narben an meinen Armen.