Trunkene Schritte

13.–15. November 2014

Der Regen prasselte unaufhaltsam auf Papas großen schwarzen Schirm. Auch ich hatte darunter Zuflucht gesucht. Ganz konnte er mich nicht schützen. An meinem linken Arm spürte ich schon die Nässe durch meinen Wollmantel sickern. Meine Füße fühlten sich an wie Eisklötze, und ich wünschte mir nur eines: dass dieses Schmierentheater, das sich Oma Bettys Beerdigung nannte, bald vorüber war.

Der Gottesdienst lag immerhin schon hinter uns. Die Kapelle war bis auf den letzten Platz gefüllt gewesen. Jetzt am Grab hatten sich trotz des Wetters noch etliche Leute hinzugesellt. Bettina Sartorius, also Oma Betty, war in Starnberg schließlich keine Unbekannte. Mit Evas Vater hatte sie in den Sechzigerjahren ein kleines Schmuck-Imperium aufgebaut, inklusive Filialen in mehreren deutschen Städten. Seit sie es verkauft hatte, genoss Oma Betty das Leben in ihrer hübschen Villa am See und ließ sich bei Charity-Galas in München und Umgebung blicken, wenn sie nicht gerade Luxusreisen unternahm.

Ihr Tod hatte uns vollkommen überrascht. Mit dreiundsiebzig Jahren war sie bei einem Beethoven-Konzert friedlich eingeschlafen. Als Ursache wurde eine verschleppte Herzmuskelentzündung festgestellt.

Eva hatte die Nachricht vom Tod ihrer Mutter relativ gefasst aufgenommen. Ihr Verhältnis, das noch nie innig war, hatte sich in den Jahren von Lisas Verschwinden deutlich verschlechtert. Oma Betty war eisern bei ihrer These geblieben, Lisa sei längst tot. Darüber hinaus konnte sie nicht verstehen, dass Eva nicht nach vorne blickte. Ich konnte sehr gut nachvollziehen, dass Eva seit unserem Umzug nach Österreich nur noch ein-, zweimal im Jahr nach Starnberg fuhr, um ihre Mutter zu besuchen. Hinzu kam, was Oma alles an Gemeinheiten über mich gesagt hatte. Das reichte, dass ich einfach nur froh war, sie nicht mehr sehen zu müssen.

Immerhin hatte mir ihr Tod jetzt zwei schulfreie Tage beschert. Viel verpassen würde ich da nicht. Überhaupt lief in Österreich alles viel entspannter. Während sie uns in München von der 5. Klasse an mit dem Numerus Clausus gedroht hatten, sahen hier die meisten auch ein Jahr vor den Matura-Prüfungen noch keine Notwendigkeit, sich mehr als notwendig in die Vorbereitungen zu stürzen.

Gerade lobte der Pfarrer nochmals Omas Verdienste als Geschäftsfrau und ihren ach so tollen Einsatz für sozial Schwache. Je länger die Beerdigung dauerte, desto mehr fragte ich mich, ob es nicht doch schöner gewesen wäre, die Mathe-Probe mitzuschreiben. Das Lösen von Differentialgleichungen war ein Klacks gegen die Kälte und diese Lobhudelei.

Schon die Autofahrt von Mödling nach Starnberg hatte mich Nerven gekostet. Fast fünf Stunden mit zwei Leuten auf engstem Raum, die seit über einem Jahr nur noch das Notwendigste miteinander sprachen, das war nur dank Smartphone und iPod zu überleben.

Seit Eva damals dahinter gekommen war, dass Papa über Wochen eine Affäre mit seiner Sekretärin am Laufen gehabt hatte, strafte sie ihn nach einer großen, emotionalen Szene nur noch mit eisigem Schweigen und kalten Blicken. Er strengte sich nicht einmal an, irgendetwas zu leugnen oder zu vertuschen, was Eva im Grunde noch wahnsinniger machte.

Vielleicht hatte sie auch recht mit ihrem Urteil, dass wir ihm inzwischen egal waren. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ihm uns gegenüber zum letzten Mal etwas Nettes über die Lippen gekommen war.

Vor ein paar Monaten hatte er sich eine Wohnung in Wien genommen. Wegen der Nähe zur Firma, hieß es, doch ich wusste nur zu gut, dass sein Auszug die Trennung von Eva bedeutete. Ob ich mitkommen wollte – diese Frage stellte er mir gar nicht erst. Es tat weh, mit welcher Selbstverständlichkeit er mich aus seinem Alltag verbannte.

Wenn wir uns an den Wochenenden sahen, hatten wir uns auch nicht viel zu sagen. Meistens drehten sich unsere Gespräche um meine Schulnoten. Da ihn mehr nicht interessierte, waren unsere Unterhaltungen knapp. Dann verzog er sich hinter seinen Laptop, während ich in mein Smartphone abtauchte.

Eva war dagegen gewesen, dass ich eines bekam. Sie hatte Angst, angeblich wegen des Internets, aber eher wohl vor Kontrollverlust, denn unser Festnetztelefon stand schließlich mitten im Wohnzimmer. Alleine weg durfte ich noch immer nicht; dass ich vor mehrtägigen Schulausflügen plötzlich krank wurde, galt in meiner Klasse inzwischen als Running Gag. Nach wie vor durfte ich nichts – außer nach Schulschluss sofort nach Hause zu fahren. Wenn ich mal ins Kino ging, dann nur mit Eva, und ein Einkaufszentrum hatte ich ohne sie auch noch nie betreten. Während sich Leute aus meiner Klasse im Freibad oder in der Eisdiele trafen, in Diskos gingen oder Party machten, saß ich auf meinem Zimmer und löste mit Miss-Marple- und Sherlock-Holmes-Kriminalfälle.

Einmal pro Woche brachte mich Eva in die Stadtbibliothek. Dort hatte man mir als minderjähriger Vielleserin vor ein paar Wochen feierlich den Goldenen Bibliotheksausweis überreicht, der mir ein Vorrecht beim Lesen von brandneu angeschafften Büchern garantierte. Das Smartphone wurde nun allerdings eine ernsthafte Konkurrenz. Ich las zwar auch hier viel, nämlich Artikel auf den Portalen von Nachrichtenmagazinen, der Süddeutschen und des Time Magazine, aber Facebook gewann für mich zunehmend an Attraktivität. Wenn ich schon nicht ausgehen durfte, bekam ich nun auch so mit, dass Susi etwas mit Marco am Laufen hatte, Karin die Pille nahm und Anna-Luisa sich für Abtreibungen interessierte. Thomas hatte mit Anja Schluss gemacht, weil die auf der Krawözlhüttn-Party mit Ralf geknutscht hatte, und Amelie interessierte sich für Malek, der wiederum durch Dumm-Meldungen versuchte, Darias Aufmerksamkeit zu wecken.

Facebook war einfach toll! Ohne selbst teilhaben zu müssen, war ich nun bestens informiert und schon allein deshalb keine komplette Außenseiterin mehr. Eigentlich wollte ich sowieso nicht zu diesen Partys, auf denen alle rumknutschten und ihre gestylten Körper vorführten. Dass mich irgendeiner der Burschen – wie die Jungs auf österreichisch hießen – toll finden könnte, kam mir sowieso abwegig vor. Überhaupt waren die meisten von ihnen total unreif, albern und hormongesteuert. Was Mädchen an denen fanden, blieb mir ein Rätsel.

Der einzige, der sich aus meiner Sicht vom Rest abhob, war Matteo aus der Matura-Klasse. Er hatte auch einen Goldenen Bibliotheksausweis, und wir liefen uns manchmal beim Stöbern in den langen Regalreihen über den Weg. Matteo trug eine starke Brille, was ihn mir schon zwangsläufig sympathisch machte – ohne meine Kontaktlinsen hätte auch ich so ein Modell auf der Nase gehabt. Sonst war er aber vollkommen makellos: groß und sportlich, mit dem dunklen Haar seiner italienischen Mutter und dazu blauen Augen. Er spielte Rugby, trat für die Schulmannschaft bei Schwimmwettbewerben an und sammelte in den Ferien Spenden für Amnesty International.

Ich wusste alles über ihn. Von Facebook. Denn wenn wir in der Bibliothek zufällig vor demselben Regal standen, grinsten wir uns meistens nur kurz an, sagten »hallo« und – was sehr viel war! – Dinge wie: »Hast du gesehen, der neue Dan Brown ist da!« oder »Den neuen von Simon Beckett gibt es jetzt auch auf Deutsch.«

Matteo las fast nur Krimis und Thriller, während ich eigentlich weniger festgelegt war. Da er stets vor dem Krimi-Regal herumlungerte, entwickelte auch ich abseits von Agatha Christie und Arthur Conan Doyle Interesse. Ich hätte gern mehr mit Matteo geredet, wusste aber nicht, was. Der Italienisch-Kurs, den ich mir aus dem Nachmittagsangebot der Schule ausgesucht hatte, änderte daran leider nichts. Ich hatte einfach nicht den Mut, ihn mit »Ciao, come stai?« zu begrüßen.

Vermutlich kannte Matteo nicht einmal meinen Namen. Trotzdem war es eine meiner neuesten Lieblingsbeschäftigungen, mir vorzustellen, dass er ihn irgendwann wissen wollte, dass wir dann lebhaft über ein Buch diskutieren würden und er mich schließlich fragte, ob ich ihn zu irgendeiner Lesung nach Wien begleiten wollte, demnächst.

Spätestens da bekam dieses schöne Szenario dunkle Flecken. Ich konnte ihm ja unmöglich sagen, dass ich seit Jahren in einem unsichtbaren Gefängnis lebte! Nicht nur, dass er es sicher nicht verstehen konnte – ich hatte bisher tunlichst vermieden, in der Schule über meine verschwundene Schwester zu sprechen, und dabei sollte es auch bleiben.

Dennoch war es schön, an Matteo zu denken. Sogar jetzt, im strömenden Regen, als endlich Oma Bettys Sarg im Grab verschwunden war, wurde mir bei der Vorstellung, Matteo wieder in der Bibliothek zu treffen, ein bisschen warm.

»Komm schon, Lea!« Papa versetzte mir einen leichten Stoß zwischen die Schulterblätter, der mich unwillkürlich nach vorne stolpern ließ. Herausgerissen aus meinem süßen Tagtraum, dauerte es etwas, bis ich begriff, dass auch ich ein Schäufelchen Erde in Oma Bettys Grab werfen sollte.

Ich tat es ohne großen Elan und suchte dann Schutz unter Evas Schirm, während uns die Trauergäste ihr Beileid aussprachen. Anschließend ging es zum Leichenschmaus – was für ein Wort! Bei Kaffee und Kuchen wirkte Eva wie ferngesteuert. Sie reihte nichtssagende Floskeln aneinander, und ich spürte es deutlich: Der Tod ihrer Mutter war ihr schlichtweg egal.

»Und, haben Sie inzwischen etwas von Ihrer verschwundenen Tochter gehört? Wirklich furchtbar, die ganze Sache, einfach fürchterlich!« Eine von Bettys ältlichen Freundinnen glaubte sie auf Lisa ansprechen zu müssen.

Da wurde Evas Blick eisig. »Danke, aber wir sind heute wegen meiner Mutter hier.«

»Ja, aber das mit Ihrer Tochter …«

»Wie gesagt: Danke für die Anteilnahme.«

*

»Ein Einbrecher hätte hier sein Eldorado gefunden.« Eva kniete auf dem lila Teppichboden von Oma Bettys Schlafzimmer, zwei geöffnete Schmuckschatullen vor sich. »Ich kann einfach nicht fassen, dass sie dieses Zeug einfach nur im Kleiderschrank gehortet hat! Hier im Haus gibt es immerhin zwei Tresore!«

»Ja, und in einem davon lag eine Glock«, stellte mein Vater lakonisch fest. »Deine Mutter war eine schwer bewaffnete Frau. Im Notfall hätte sie sich zu wehren gewusst.«

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie eine Pistole hatte!« Eva schüttelte fassungslos den Kopf. »Ich bin froh, dass die Polizei das Ding gleich abgeholt hat.«

»Immerhin besaß sie einen Waffenschein … man kann ihr also nichts vorwerfen!« Mein Vater nahm die Sache mit Humor. »Passt doch zu ihr. Deine Mutter war eben durch und durch schräg und ließ sich nie richtig in die Karten schauen.«

Eva blickte kurz auf.

»Sie war ein Buch mit sieben Siegeln. Ich wusste nie, woran ich war. Eine Mutter ist sie mir jedenfalls nicht gewesen. Ich hatte ständig das Gefühl, dass sie mich eigentlich nicht wollte. Aber dass sie von mir immer etwas wollte. Diese Erwartungen! Ich kann mich nicht erinnern, dass sie jemals stolz auf mich gewesen wäre!«

Es war das erste Mal, dass sich Eva so persönlich über ihren Zwist mit Oma Betty äußerte.

»Ich bin sicher, sie war stolz auf dich, konnte es aber nicht zeigen«, sagte Papa, trat zu ihr und berührte etwas unbeholfen ihre Schulter. »Und wenn sie es nicht war, dann war sie blind und taub.«

Eva blickte dankbar zu ihm. Einen kurzen Moment lang schien die Affäre mit der Sekretärin vergessen. Doch dann verfinsterte sich ihr Gesicht schlagartig, sie schüttelte seine Hand ab wie eine lästige Fliege und erhob sich.

»Wie auch immer. Ich werde diesen ganzen Schmuck, Bilder, Antiquitäten und so weiter abfotografieren und schätzen lassen. Am Montag rufe ich den Makler an. Der soll sich die Bude gleich einmal anschauen und einen Schätzpreis nennen.«

»Na, hoppla, bei dir geht das aber zackig! Bevor du hier irgendetwas veräußern kannst, musst du allerdings die Nachlasseröffnung abwarten. Der Termin beim Notar ist erst in drei Wochen! Bisher gehört dir nur die Villa.«»

»So schlau bin ich auch!« Eva klang schon wieder bissig. Ich unterdrückte ein Seufzen. Der Abend nach dem Leichenschmaus und der heutige Tag waren bisher harmonisch verlaufen. Sie hatten sogar wieder miteinander geredet. »Aber ich will vorbereitet sein. Es ist nicht zu erwarten, dass jemand anderes diesen ganzen Plunder erbt, und ich will das Zeug einfach nur so schnell wie möglich loswerden!«

Ein paar Augenblicke lang schaute sie an uns vorbei ins Leere. Als ich schon nicht mehr damit rechnete, dass noch etwas kam, sagte sie: »Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie meine Kindheit hier war! Meinen Vater bekam ich so gut wie nie zu Gesicht, der musste sein Schmuckimperium ausbauen. Und meine Mutter hatte für Kinder nie viel übrig. Für sie war das eigentlich nur ein Zuchtprogramm. Den erhofften Firmenerben produzieren. Ich als Mädchen kam für die Geschäftsnachfolge nicht in Frage. Zum Glück. Diese Klunker haben mich sowieso nie interessiert. Wenn ich mich an meine Kindheit erinnere, dann nur an die Kindermädchen, die sich bei uns die Klinke in die Hand gaben! Damals hab ich mir geschworen, dass es bei mir anders laufen wird, wenn ich Familie habe.«

Sie schluckte. Tränen glitzerten in ihren Augen. Ich wusste, was jetzt kam.

»Ich werde Lisa finden«, sagte sie da auch schon, die Hände entschlossen geballt. »Ich werde einen neuen Detektiv beauftragen, egal, was es kostet! Und wenn das gesamte Erbe draufgeht!«

Papa sagte nichts.

*

»Kannst du das Ding ein Mal aus der Hand legen?« Papa warf mir über Oma Bettys schweren Mahagoniholz-Esstisch einen mahnenden Blick zu. »Wir essen gerade!«

Tatsächlich stopften wir unsere leeren Mägen mit Bami Goreng vom Asiaten ums Eck. Wir aßen direkt aus den gelieferten Pappboxen. Papa wollte es auf Teller umfüllen, doch Eva sah nicht ein, weshalb wir unnötig Geschirr anpatzen sollten – noch dazu original-ungarisches Herend-Porzellan, das sich nicht einmal im Geschirrspüler waschen ließ.

Es war Freitag, später Nachmittag. Wir hatten den Tag damit verbracht, Eva bei der Bestandsaufnahme zu unterstützen, und nebenher allerlei wertlosen Krempel in insgesamt achtzehn Müllsäcke gesteckt, die sich jetzt im Klaviersalon stapelten.

»Du wolltest, dass sie ein Smartphone bekommt. Jetzt musst du eben mit den Folgen leben!«, bemerkte Eva spitz.

»Jetzt bin ich wieder schuld!« Papa verdrehte genervt die Augen, und ich sah ein, dass es höchste Zeit war, das Gerät zur Seite zu legen, auch wenn es mir im Augenblick gar nicht passte. Denn ich hatte auf Facebook Tina entdeckt, eine meiner ehemaligen Münchner Freundinnen. Beziehungsweise: sie mich. Ich hatte ihre Freundschaftsanfrage bestätigt und befand mich gerade mitten im Chat.

»Das Smartphone hat sie, weil wir da dieses App installieren konnten, das uns immer anzeigt, wo sie gerade ist!«

»Weil sich Lea so oft außer Haus herumtreibt.« Eva unterstrich ihren sarkastischen Kommentar mit einem kurzen Lacher, der mich mehr schmerzte als Papas Eingeständnis schonungsloser Überwachung. »Dieter, das ist nun wirklich Unsinn!«

»Wie du meinst.«

Schweigend aßen wir unsere Nudeln.

Tina hatte so nett geschrieben, viel von sich erzählt. Wie es mir ginge und ob es irgendetwas Neues von Lisa gebe? Noch hatte ich ihr nicht antworten können.

Zwei Minuten verstrichen, in denen ich immer wieder nach meinem Smartphone schielte, auf dem ständig irgendwelche neuen Nachrichten aufflackerten. Tina wunderte sich offensichtlich, weshalb unsere Kommunikation abgerissen war. Frustriert schob ich mir die letzte Nudel mit Karotte in den Mund.

Als ich aufsah, traute ich meinen Augen kaum: Auch Eva starrte jetzt in ihr Smartphone! Genauso wie Papa, der auf seinem Display herumwischte. Toll! Regeln galten also nur für mich! Ich wollte mich gerade wieder Tina widmen, als Eva einen spitzen Schrei ausstieß.

»Dieter! Sie haben sie. Sie haben Lisa gefunden!«

Mit dem Handy in der Hand kam sie um den Tisch herum und hielt meinem Vater das Display unter die Nase. Er rückte sich seine Brille zurecht. Nach einer Weile runzelte er die Stirn.

»Also … ich weiß nicht, Eva. Das könnte irgendein Kind sein. – Lisa hat doch eher eine Stupsnase.«

»Das Foto ist nicht das beste. Aber wenn es nicht Lisa ist, wer soll es sonst sein? Das Alter passt. Sieben Jahre. Und sie versteht Deutsch.«

»Ich weiß nicht.« Papa blieb skeptisch. »Überhaupt, darf die litauische Polizei das überhaupt: einfach so mit uns direkt Kontakt aufnehmen, ohne Interpol oder Europol als Zwischenstelle, und uns Fotos von irgendwelchen Mädchen schicken?«

»Willst du jetzt eine Datenschutzdiskussion beginnen?! Ich will nur meine Tochter wiederhaben, und die haben sie gefunden! Ich fliege da hin und hole sie!« Sie begann, auf ihrem Handy herumzutippen. »Morgen Mittag geht ein Flug über Frankfurt nach Vilnius. Es gibt noch Tickets. Kommst du mit?«

»Eva …«, begann Papa, doch sie schnitt ihm das Wort ab.

»Wirst du mich begleiten?«, wiederholte sie eindringlich.

»Natürlich«, sagte er resigniert. »Sie ist schließlich auch mein Kind. Aber ehe du buchst, ruf bitte in Litauen an und bringe noch mehr Details in Erfahrung.«

Nach dem Telefonat mit der zuständigen Stelle war Eva noch euphorischer als zuvor. Oma Betty, die Villa, die Bestandsaufnahme – alles Nebensache. Sie sprach nur noch von Lisa, die wiederkäme, genau wie es die Wahrsagerin vor Jahren versprochen hatte! In ihrer Vorfreude spielten die traurigen Umstände, unter denen das Mädchen in Vilnius aufgefunden worden war, kaum eine Rolle: dass die Kleine mit zwölf anderen aus einem Kinderbordell an der weißrussischen Grenze befreit worden war. Dass sie Spuren schwerster Misshandlung zeigte. Und dass bei ihr ein polnischer Pass gefunden worden war, der sie als Olga Jankowski auswies.

Ich lag in dieser Nacht vor Aufregung lange wach. Ein Teil von mir wollte glauben, dass es sich bei dem aufgegriffenen Mädchen um Lisa handelte. Gleichzeitig hatte ich eine Höllenangst davor, dass dieses misshandelte Kind wirklich Lisa war.

*

Meine Eltern organisierten Romana, Oma Bettys letzte Haushaltshilfe, als meine Aufpasserin. Da die junge Rumänin noch zwei Monate lang aus Oma Bettys Finanzreserven bezahlt wurde, gab es in diesem Punkt weder für sie noch für meine Eltern größere Diskussionen.

Romana war nur wenig größer als ich und sah auf den ersten Blick höchst unschuldig aus. Aus großen, scheuen Rehaugen sah sie meinen Vater von unten herauf an, während sie ihm versicherte, dass sie selbstverständlich gut auf mich aufpassen werde. Kaum hatte sich die Haustür hinter ihnen geschlossen, verdrehte sie die nun nicht mehr scheuen Rehaugen und sagte: »Oh mein Gott, sind die immer so?«

»Leider ja.«

»Du bist siebzehn! Sie behandeln dich wie ein kleines Kind!«

Ich zuckte nur mit den Schultern, doch dass jemand endlich aussprach, was Sache war, tat unglaublich gut.

»Ich bin übrigens heute Abend verabredet«, eröffnete Romana mir wenig später, als ich wieder auf Facebook surfte und sie am anderen Tischende Oma Bettys Beautycase auseinandernahm. »Ich hab jemanden kennengelernt …«

Sie kam zu mir und hielt mir ihr Handydisplay unter die Nase. Ich sah das solariumsgebräunte Antlitz eines ohnehin schon südländisch wirkenden Typen mit Bart. Auf einem zweiten Foto posierte er vor einem roten Sportwagen.

»Das ist Faruk. Wie findest du ihn?«

Geschmackssache, ging mir durch den Kopf, doch aus Gründen des Anstands sagte ich höflich: »Sieht gut aus.«

»Nicht wahr?« Ihre Augen glänzten vor Aufregung. »Jetzt muss ich mich nur noch stylen!«

Das tat sie dann auch – im Wohnzimmer, vor meinen Augen, mit Omas Utensilien. An Make-up hatte Oma Betty ja nie gespart. Ich chattete währenddessen wieder mit Tina, die mir eine Reihe Selfies von sich schickte und Belanglosigkeiten über frühere Mitschüler erzählte. Nach eineinhalb Stunden roch der Raum wie eine Mischung aus Edelpuff und Friseursalon, und nicht nur Romana hatte eine Verabredung: Tina hatte spontan entschieden, vorbeizuschauen, sobald meine Aufpasserin das Haus verlassen hatte.

*

»Geile Hütte.« Tina bestaunte Ölgemälde und Mobiliar, während sie durch die Villa wanderte. »Wie ein Museum.«

Ich folgte ihr, die Hände in den Hosentaschen, und fühlte mich unwohl. Das lag nicht unbedingt an Tina, die sich zumindest optisch kaum verändert hatte: Sie trug noch immer den fransigen rotgesträhnten Kurzhaarschnitt, mit dem sie damals aus den Sommerferien zurückgekommen war, und Jeans mit Löchern an den Knien. An ihren Ohren baumelten glänzende Kreolen.

Leider war Tina nicht allein gekommen, sondern mit drei Freunden im Schlepptau: zwei Typen, die ich auf neunzehn, zwanzig schätzte und eine gewisse Andy, sprich: Ääändieee, mit der sie zur Schule ging. Während Tina durch das Erdgeschoss lustwandelte, hatten es sich die drei unaufgefordert im Wohnzimmer bequem gemacht. Ihr lautes Gelächter, das bis ans andere Ende des alten Gemäuers zu hören war, beunruhigte mich. Als ich das eindeutige Zerschellen eines Glases auf dem Parkettboden vernahm, ließ ich Tina im Flur stehen.

Andy mit den roten Lippen und den langen schwarzen Haaren, die mich ein bisschen an Schneewittchen erinnerte, und Leon, der Wasserstoffperoxid-Blonde mit dem Vampirlook, saßen auf dem Ledersofa und knutschten. Auf dem Couchtisch stand eine offene Flasche Whiskey aus der Hausbar.

Tom, der Typ mit dem Nasenring, empfing mich mit reumütigem Gesichtsausdruck.

»Sorry. Uns ist ein Glas zerbrochen. Hast du mal Schaufel und Besen?«

Zumindest er war wohl nicht völlig daneben. Ich musste suchen, bis ich beides unter Oma Bettys Putzsachen in der Besenkammer entdeckte. Als ich zurückkam, saß auch Tina auf dem Sofa und nippte an einem Whiskey.

»Was ist jetzt? Wollten wir nicht noch ins Bellegarde?«, näselte Andy. Sie hatte ihre Beine auf der Tischplatte ausgestreckt, ohne ihre gefährlich aussehenden High Heels abzulegen. »Wenn wir weiter so herumtrödeln, verpassen wir die Happy Hour!«

»Wir machen hier Happy Hour«, tröstete Leon, der Vampir, und ich glaubte ihm sofort: Im Augenblick knabberte er sich an Andys Hals entlang. Es war eklig.

»Schaut Lea doch mal an«, erwiderte Tina und machte eine wenig charmante Handbewegung in meine Richtung. »Die ist überhaupt nicht zurechtgemacht! Mit der kommen wir nie da rein!«

Ich sah an mir herunter. Ich trug schwarze Jeans und einen weinroten Rollkragen-Pulli.

»Ich dachte, wir würden hier bleiben und plaudern.«

»Oh Gott!«, stöhnte Andy auf, und ich war mir nicht ganz sicher, ob ihr Ausruf meinem Vorschlag galt oder dem Vampir, dessen Hand jetzt unter ihrer Bluse entlangwanderte. Ich wollte eigentlich nicht hinschauen, tat es aber doch.

»Ich bitte dich, Lea! Es ist Samstagabend! S-A-M-S-T-A-G!!! Was macht man da, hmm?« Als ich nichts erwiderte, gab Tina selbst die Antwort auf ihre provokative Frage. »Ausgehen. Genau. – Ich dachte eigentlich, wir könnten das zusammen tun, aber irgendwie ist das alles schräg hier … mit dir.«

In meiner Kehle formierte sich der Kloß, den ich von früher kannte – aus den Tagen nach Lisas Verschwinden, als unsere Freundschaft aus Gründen, die ich immer noch nicht ganz verstand, den Bach hinuntergegangen war.

»Meine Oma ist gerade gestorben!«, brach es aus mir heraus. In meiner Angst, nicht schon wieder den Stempel seltsam aufgedrückt zu bekommen, schreckte ich vor gar nichts zurück.

»Ach so, ja. Na gut.«

Tina verzog das Gesicht, klang aber befriedigt.

»Echt? Und deiner Oma gehörte die ganze Hütte hier?« Tom ließ seinen Blick über das prunkvolle Interieur wandern. »Sag mal, liegt die etwa auch direkt am See?«

»Ja, aber …«

»Mensch, geil! Zu blöd, dass es arschkalt ist! Wir hätten heute die volle Beach-Party abfeiern können! – Hast du was zum Knabbern da?«

Dass ausgerechnet der Vampir danach fragte, hatte für mich eine makabre Note, schließlich knabberte er ja schon, und zwar aktuell an Andys Ohrläppchen.

»Lass uns Pizza bestellen. Ich hab noch überhaupt nichts gegessen«, nörgelte Andy, während sie den Vampir etwas unsanft von sich stieß. »Und gibt es noch was anderes außer Whiskey?«

»Ich … ich glaube, es ist noch Cola da«, fiel mir ein.

Ich erntete schallendes Gelächter.

»Sag mal, wie bist du denn drauf!« Andy war zweifelsohne Tinas Seelenverwandte. »Ich meine natürlich was Alkoholisches! Kann mal jemand schauen, ob noch irgendetwas Brauchbares in dieser Bar ist?«

Der Vampir erhob sich gehorsam und schlich Richtung Bar.

»Aber mir kannst du ein Cola bringen«, sagte Tina, und ich war dankbar, dass sie mir einen Grund gab, der Szenerie zu entkommen. In der Küche holte ich die halbvolle Colaflasche aus dem Kühlschrank und wünschte mir nichts mehr, als dass Oma Betty mindestens fünfmal reingespuckt hatte. Ich fühlte mich von Tina total hintergangen. Ich wollte diese Leute nicht hier haben!

Intuitiv ahnte ich, dass der Abend noch schlimmer werden würde. Warum hatte ich Tina nur herkommen lassen! Doch für Reue war es zu spät. Ich musste handeln.

Mit klopfendem Herzen, die Colaflasche wie ein Schutzschild gegen die Brust gedrückt, ging ich ins Wohnzimmer zurück. Der Vampir verteilte gerade großzügig Gin auf fünf Sektgläser. Andy hatte die Schuhe ausgezogen – immerhin! – und sich auf dem Sofa ausgestreckt. Tina hing in einem der Sessel, Tom tippte auf seinem Handy herum.

Ich nahm all meinen Mut zusammen.

»Also, ihr könnt noch austrinken, aber …«

»Wir haben Pizza bestellt«, fuhr mir Tom ins Wort. »Für dich Schinken und Peperoni, okay?«

»Ich … eigentlich bin ich Vegetarierin.«

Mist! Jetzt musste ich wohl mit dem Rausschmiss warten, bis alle gegessen hatten.

»Oh, sorry, das wusste ich nicht. Dann nimm du meine Pizza Margherita, und ich esse ausnahmsweise mal Schinken. Ich bin quasi nur Part-Time-Vegetarier.« Tom zwinkerte mir zu. Er war zweifelsohne der Netteste in dieser Runde. Nun drückte er mir auch noch eines der Gläser in die Hand.

»Also, prost! Ein Toast auf unsere Gastgeberin!«

Die Gläser klirrten. Ich mochte keinen Alkohol, trank nie welchen. Trotzdem setzte ich das Glas an meine Lippen. Das Getränk schmeckte mehr nach Zitrus und Wacholder als nach Alkohol. Beherzt nahm ich schließlich doch einen Schluck. Es war gar nicht so übel.

Da Andy und der Vampir noch immer die gesamte Couch beanspruchten, hockte ich mich auf die Lehne des Sessels, in dem Tina thronte und mir nun eine kleine Rede hielt, welch Jammer es doch sei, dass ich ihren Lieblingsclub, das Bellegarde, nicht kennenlernte, und dass da die besten Jungs abhingen. Der Vampir kommentierte dies gar nicht, Tom mit einem leichten Hüsteln. Dann wollte sie noch wissen, wo man denn in Wien so hinginge. Facebook und meinen Klassenkameraden sei Dank wusste ich hierzu einiges zu berichten. Dass ich noch nie einen Schritt in einen der Clubs gesetzt hatte, verschwieg ich.

Der Gin machte mir die Situation erträglicher. Ich begriff allmählich, weshalb einige so wild nach Alkohol waren. Das Zeug macht irgendwie lockerer. Als sich Andy nun auch noch eine Zigarette anzündete, war es allein dem Gin zu verdanken, dass ich keine Panikattacke bekam und Oma Bettys Villa schon in Flammen aufgehen sah.

Es klingelte an der Tür. Endlich, der Lieferdienst!

Doch der junge Mann, der in Jeans und sportlichem Sakko vor der Tür stand, hatte keine Pizza dabei.

»Hi. Ich bin –«, setzte er an, doch ein freudiges Kreischen im Hintergrund setzte seiner Vorstellung ein Ende.

»Joooooiiiii! Endlich bist du da!«

Tina drängte sich an mir vorbei und flog ihm in die Arme. Die beiden knutschten sich auf der Türschwelle zu Oma Bettys Haus so innig ab, dass ich fürchtete, sie würden jetzt und hier gleich endgültig übereinander herfallen. Während Tina Jooooiiiii ins Haus bugsierte, erspähte ich in der Hofeinfahrt neben einem kleineren Fiat nun einen protzigen BMW.

Die Protzkarre passte zu Joooooiiiii, der sich mir als Joe vorstellte, wie der Schlüssel zum Schloss. Der Neuzugang prahlte von seinen Fernreisen in exotische Länder, der Privatuni, auf der er studierte, und irgendwelchen teuren Clubbings in München, die mir überhaupt nichts sagten, bei den anderen aber grenzenlose Bewunderung auslösten. Tina mit ihren zerrissenen Jeans wirkte neben diesem Schnösel wie Aschenputtel. Außerdem ließ er sie keinen ihrer Sätze zu Ende führen, sondern unterbrach sie ständig oder kanzelte sie ab.

Mir gegenüber zeigte er sich respektvoll und höflich. Es dauerte nicht lange, bis ich begriff, weshalb: Er hielt meine Eltern für die Besitzer von Oma Bettys imposantem Anwesen. Ich ließ ihn in dem Glauben, denn im Grunde war es ja auch so.

Ich war erleichtert, als die Pizzalieferung endlich vor uns am Tisch lag. Meine unwillkommenen Gäste fielen darüber her, als hätten sie tagelang gehungert. Tomatensoße triefte ihnen von den Fingern. Nebenbei bedienten sie sich selbstständig an der Bar.

Wie, um Himmels willen, sollten sie nach Hause kommen, wenn sie sich alle bis zum Umfallen betranken?

Erst dann wurde mir bewusst, dass ich selbst bereits das zweite Glas Gin trank.

Tom begann ein lockeres Gespräch mit mir: über Wien, das er von einem Städtetrip mit seinen Eltern her kannte, über Skiurlaube in Tirol, über die Unterschiede zwischen Österreichern und Deutschen. Ich begann mich zu entspannen. Wahrscheinlich war das alles normal: der viele Alkohol, die wilden Knutschereien der zwei Pärchen, die coolen Sprüche, die Joe klopfte. Je weiter der Abend voranschritt, desto weniger störten mich diese Dinge. Das Wissen, etwas zu tun, was meine Eltern in Rage versetzen würde, gab mir zusätzlichen Auftrieb. Wenn jemand jetzt vorgeschlagen hätte, in dieses mysteriöse Bellegarde zu fahren, ich wäre sofort dabei gewesen.

Doch daran dachte irgendwann keiner mehr. Tina hatte Oma Bettys Musikanlage aufgedreht und ging mit Joe erst zu wildem Rock ab, ehe sie in einem Schmusesong zueinander fanden. Andy knutschte auf der Couch weiter mit dem Vampir, dessen Hand sich inzwischen unter ihrem Rock bewegte. Die Gin-Flasche war leer, und mich störte nichts mehr – schon gar nicht, dass Tom immer näher heranrutschte und seinen Arm um mich legte.

Dann küsste er mich. Es fühlte sich gut und richtig an. Ich küsste zurück. Bald knutschten wir genauso rum wie Andy und Tom oder Tina und Joe, und wenn ich zu diesem Zeitpunkt noch irgendetwas dachte, dann, dass ich wirklich normal war und nicht mehr Lea, die komische Außenseiterin. Ich war mittendrin im Leben. Erwachsen.

*

»Lea! Lea! Komm, sag was! Lea!«

Eine nervige, aufgebrachte Stimme fraß sich in meinen Traum, in dem ich auf einer roten Luftmatratze auf den Wellen schaukelte, während unter mir die Haie kreisten – was mich aber überhaupt nicht störte.

»Lea! Wach auf! Komm zu dir!«

Die Stimme wurde noch lauter. Dann wurde ich geschüttelt. Schließlich landete eine flache Hand auf meiner Wange.

»Aua!«

Ich fuhr hoch – und sank gleich wieder in die Kissen zurück. Mir war total schwindlig. Im Inneren meines Kopfes lärmte ein Presslufthammer. Außerdem war mir übel.

Immerhin erkannte ich in der Nervensäge Romana wieder. Ihre Stirn lag in Falten, und in ihren Augen spiegelte sich Besorgnis.

»Halleluja, du bist wach! Ich habe schon gedacht, ich muss den Arzt holen … Bist du okay? Verdammt, was ist denn passiert?«

Ich blinzelte irritiert. Wovon redete sie?

Wir hatten eine Party gefeiert, Pizza gegessen, getanzt … und dann? Wo waren meine Gäste denn nun?

Erst jetzt fiel mir auf, dass es im Zimmer taghell war. Und überhaupt … im Zimmer. Ich lag in Oma Bettys Boxspringbett. Decken und Kissen waren zerwühlt. Ein halbvolles Glas mit einer Flüssigkeit, die aussah wie Apfelsaft, aber alkoholisch roch, stand auf dem Nachtkästchen.

»Wo sind –«, begann ich, doch Romana ließ mich nicht zu Wort kommen.

»Deine Eltern haben angerufen. In zwei Stunden landet ihr Flieger. Wir müssen sofort aufräumen! Das Wohnzimmer sieht aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen! Die bringen uns um! Ich weiß auch gar nicht, wie wir ihnen das mit der Glasscheibe erklären sollen!«

Ich verstand gar nichts. Auch Romana schien zu dämmern, dass es um meine Erinnerung nicht gut bestellt war.

»Lea, steh jetzt auf und mach dich frisch! Und dann komm nach unten und hilf mir beim Saubermachen!«

Als sie weg war, kämpfte ich mich mühsam auf. Das Zimmer drehte sich, als ich ins Badezimmer torkelte. Erst als ich vor dem Spiegel stand, fiel mir auf, dass ich splitternackt war. Ich kam nicht dazu, darüber nachzudenken, wann ich mich ausgezogen und ausgerechnet in Oma Bettys Bett gelegt hatte, denn in den folgenden zehn Minuten umarmte ich hilflos die Kloschüssel. Als sich mein Magen geleert hatte, ging es mir geringfügig besser. Ich putzte Zähne, spritze mir Wasser ins Gesicht, bürstete mein störrisches Haar und tappte auf wackligen Beinen zurück in Oma Bettys Zimmer.

Bruchstücke der Erinnerung drangen in mein Bewusstsein.

Konnte es sein, dass Tom auch in diesem Bett gelegen hatte?

Als ich auf der Suche nach meiner Unterwäsche die Bettdecke durchwühlte, fand ich die Antwort. Zwei benutzte Kondome und ein kleiner rostbrauner Fleck auf dem Leintuch.

Ich setzte mich auf die Bettkante und hielt kurz inne. Das musste ich erst mal verdauen. Ich hatte das erste Mal Sex gehabt und ich konnte mich nicht mal dran erinnern!

Und dann noch mit einem Typen, den ich im Grunde gar nicht kannte! Ich hatte mir immer ausgemalt, wie das Erste Mal ablaufen sollte. Alkohol und Oma Bettys Boxspringbett waren da nicht vorgekommen. Aber nun war es passiert. Und das, woran ich mich allmählich fragmentarisch zu erinnern begann, war gar nicht schlecht gewesen …

Seltsam war das alles trotzdem. Mir fehlten definitiv ein paar Stunden.

Als ich nach unten kam, war Romana energisch mit dem Staubsauger zu Gange. Mich traf fast der Schlag: die Vitrinenscheibe fehlte. Die größten Scherben steckten bereits in einem Müllsack, gemeinsam mit den Pizzakartons. Das Leder der Couch wies Flecken auf, die gestern Mittag nicht dagewesen waren. In der Küche reihten sich leere Flaschen.

Natürlich wollte ich Romana helfen. Doch ich war nicht dazu in der Lage. Also saß ich auf dem Sofa, eingehüllt in eine Decke, fühlte mich elend und sah zu, wie sie die Scherben aufsaugte, den Boden wischte, Erbrochenes neben der Gästetoilette beseitigte und den Müll verschwinden ließ.

Sie tat dies alles, ohne zu murren. Vermutlich hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie mich allein gelassen hatte.

Als meine Eltern am Nachmittag zurückkamen, erwartete sie ein Haus, dass nicht viel anders aussah als zuvor. Die fehlende Vitrinenscheibe fiel ihnen nicht einmal auf.

»Sie war es nicht!«, lauteten Evas erste Worte, und ich wusste im ersten Moment nicht, wovon sie sprach. »Ein armes Kind … aber es war nicht Lisa!«

»Gott sei Dank«, nuschelte mein Vater im Hintergrund, doch auch er sah bedrückt aus.

Mir fiel wieder ein, weshalb sie überhaupt weggewesen waren, aber es war mir egal. Ich hatte es satt, dass sich alles immer nur um meine verschwundene Schwester drehte. Leichenblass und gerädert hörte ich die im Grunde ereignislose Geschichte der Vilnius-Reise an, verschwand alle halbe Stunde aufs Klo, um mich zu übergeben, fragte mich, ob wir wirklich ein Kondom benutzt hatten – ich nahm ja nicht die Pille! –, und grübelte über die Ereignisse der Nacht nach.

Ich fühlte mich wieder einmal komplett unsichtbar.