Ein Anruf aus der Schweiz

20.–21. Oktober 2018

Es ist ein Samstag im Oktober, und wir sitzen an einem Tisch, der mich fatal an Oma Betty und ihre Attitüden erinnert: Tischdecke, Servietten, die in kunstvoll verzierten Keramikringen stecken, das teure Villeroy & Boch-Porzellan und Silberbesteck. In der Mitte steht ein Zinnständer mit fünf langstieligen Kerzen. Ein Brimborium wie für Weihnachten. Nur die frischen Tannenzweige und Glitzersternchen fehlen.

Eva serviert im dunkelblauen Festkleid die Blumenkohl-Mandelsuppe, die den Auftakt des dreigängigen Menüs bildet. Sorgfältig geschminkt und frisiert gibt sie die Grande Dame des Hauses, ganz so, wie sie es von ihrer Mutter vorgelebt bekommen hat.

Papa ist nicht viel besser. Im Anzug und mit Krawatte sitzt er an der Stirnseite des großen Tisches und wirkt eher wie auf einem Treffen mit Geschäftspartnern als bei einem Abendessen mit seiner Familie und dem Freund seiner Tochter.

Lisa wurde in ein weinrotes Kleid gesteckt, das Haar zu Zöpfen geflochten. Wie Eva es geschafft hat, ihr diese Kleidung aufzudrängen, ist mir ein Rätsel. Was sie davon hält, dagegen nicht: Ihre sauertöpfische Miene sagt alles.

Aufgrund des innerfamiliären Gruppendrucks habe ich mich immerhin zu einer schwarzen Hose und einer Bluse durchgerungen.

Nur Jakob ist wie immer er selbst. In Jeans und einem bunten Strickpulli sitzt er neben mir, betreibt höflich Konversation, während im Hintergrund leise eine Symphonie von Beethoven läuft, und tut zumindest so, als würde ihm all diese Steifheit nicht auffallen.

Ich denke an den Abend bei Jakobs Mutter Christa und ihrem neuen Partner Ralf, bei denen wir zu viert auf dem Sofa lümmelten, einen Film auf Netflix ansahen und Popcorn futterten. Ich kann nur hoffen, dass Jakob nach dem Staatstheater bei meinen Eltern nicht die Flucht ergreift. Nicht umsonst habe ich den Augenblick, an dem ich ihn offiziell bei uns einführe, so lange es ging hinausgezögert.

Als ich den ersten Löffel Suppe koste, weiß ich wieder einmal, dass ich undankbar bin. Eva kann definitiv kochen, und sie hat das alles hier getan, weil sie vor meinem Freund einen guten Eindruck machen wollte. Dass sie maßlos über das Ziel hinausschießt, ist ihr nicht bewusst.

»Köstlich«, lobt Jakob.

Eva errötet leicht.

»Ist doch nur eine Suppe«, wiegelt sie ab, doch ich sehe am Leuchten ihrer Augen, dass sie sich freut.

»Wirklich gut«, sagt Papa, der auch irgendetwas Positives sagen will.

Ein Löffel fällt klirrend auf den Unterteller.

Lisa lässt uns lautstark wissen, dass sie die Suppe für grauenhaft hält, schiebt die kleine Schüssel von sich und verschränkt die Arme vor der Brust. »Non la voglio mangiare!«

»Lisa!« In Papas Stimme schwingt ein drohender Unterton mit.

»Non devi mangiarla«, tröstet Eva sogleich. »Wenn sie dir nicht schmeckt, lass sie stehen, mein Schatz!« Sie schickt ein entschuldigendes Lächeln in Jakobs Richtung. »Kinder!«, fügt sie hinzu. Wenig später stopft Lisa sichtlich zufrieden eine Handvoll Chips in sich hinein. Betont geräuschvoll zermalmt sie die Kartoffelscheiben zwischen den Zähnen.

»Sie hat zurzeit eine schwierige Phase«, versucht Eva zu beschwichtigen, der Lisas Verhalten sichtlich peinlich ist. »Lea hat Ihnen doch sicherlich erzählt, dass wir … nun ja, eine etwas außergewöhnliche Familiengeschichte durchleben?«

Jakob nickt. Mehr kann er nicht tun, da er den Mund voll hat.

Ein paar Minuten ist nur Beethoven zu hören und ich sehe alle meine Befürchtungen bestätigt: Der Abend wird ein Desaster. Meinem Vater habe ich gleich an der Nasenspitze angesehen, dass er gegenüber dem Kerl mit Haarknoten und Bart und unkonventionellem Strickpulli voller Skepsis ist.

»Ich arbeite in einem Heim, in dem Kinder in Krisensituationen vorübergehend untergebracht werden«, verkündet Jakob unvermittelt. »Aber wir nehmen auch verhaltensauffällige Kinder auf. Kinder, die sich zu Hause schlecht benommen haben und deren Eltern sie deshalb nicht mehr bei sich haben wollen.«

»Ach ja?« Eva wirkt irritiert. Ich bin es ebenso. Was erzählt Jakob denn da?

»Wie? Entscheidet das das Jugendamt oder die Eltern?« Auch Papa zeigt sich erstaunt.

»Nur die Eltern«, sagt Jakob, und seine Aussage kommt mir immer merkwürdiger vor. »Wenn ein Kind nicht folgt … also, sagen wir …, wenn es beispielsweise dauernd Ärger macht, alles verweigert und nur provoziert, dann holen wir das Kind am nächsten Tag ab. Das geht ganz einfach.«

»Wie bitte?« Eva runzelt die Stirn.

Ich will Jakob gerade unter dem Tisch gegen das Schienbein treten, damit er mit seinen Schauergeschichten aufhört, als mein Blick auf Lisas Gesicht fällt. Meine Schwester hat aufgehört, ihre Chips zu zermalmen. Miene und Körperhaltung wirken angespannt. Mit großen blauen Augen starrt sie Jakob an.

Der scheint das gar nicht zu bemerken.

»Der Vorteil ist, dass diese Kinder bei uns einen sehr geregelten Tagesablauf haben«, fährt er ungerührt fort. »Um fünf Uhr früh wird aufgestanden, dann zwei Stunden Sport. Zum Frühstück gibt’s schleimigen Haferbrei. Schule ist bis siebzehn Uhr, dann bis neunzehn Uhr Lernzeit. Nach dem Abendessen geht’s ab ins Bett, ohne Diskussion. Grundsätzlich gibt es kein Fernsehen und natürlich auch kein Surfen im Internet. Aber wer will, darf abends noch in der Bibel lesen.«

Was Jakob sagt, klingt jetzt vollkommen übertrieben und durchschaubar. Selbst Eva beginnt zu verstehen, dass er das alles frei erfindet. Ihrem Gesichtsausdruck entnehme ich, dass sie allerdings noch immer nicht kapiert, weshalb.

Lisa jedoch ist im Juni erst zwölf geworden und glaubt ihm jedes Wort. Und, was noch bedeutsamer ist: Sie versteht auch jedes Wort – oder zumindest genug, um inhaltlich zu folgen. Jetzt habe ich den endgültigen Beweis, dass wir uns Gespräche auf Italienisch künftig sparen können.

»Ma … i bambini possono andare in barca a velo o fare in bagno? Forse questo fine settimana?«

Ob die Kinder segeln oder schwimmen dürfen? Vielleicht am Wochenende? Lisas Stimme klingt dünn. Fast tut sie mir leid.

Jakob gibt sich entsetzt. »Natürlich nicht. Wenn sie raus dürfen, dann nur, um sechs Stunden auf einen Berg zu steigen.«

Lisa ist jetzt ganz blass. Sie schiebt die Schale mit den Chips zur Seite.

»Das klingt interessant«, sagt Papa, der wohl Gefallen an der Situation gefunden hat. »Muss man da irgendwo anrufen, um sein Kind unterzubringen?«

»Ein Antrag reicht. Das können Sie auch online erledigen. – Binnen vierundzwanzig Stunden wird das Kind dann von uns abgeholt, und Sie sind das Problem los.«

Ich spüre, dass Eva das Ganze nun doch zu viel wird. Sie hat bereits ihre Hand nach Lisa ausgestreckt, als meine Schwester auch schon in Tränen ausbricht.

»Ich … nicht weg will!«, bricht es schluchzend aus ihr heraus. »Non portatemi via! Per favore! Non portatemi via!«

Sie springt auf und schmiegt sich an Eva, die sie tröstend in ihre Arme zieht.

»Nein, das tun wir doch nicht! Du bist unser Kind, und natürlich geben wir dich nicht weg!«

»Wir haben über andere Kinder gesprochen«, sagt Jakob, den jetzt offensichtlich das schlechte Gewissen plagt. Dass seine Aktion ausgewachsene Angst nach sich zieht, hat er genauso wenig erwartet wie ich.

»Über Kinder, die sich nicht benehmen«, fügt Papa hinzu – und erntet einen mahnenden Blick von Eva, die Lisa jetzt in den Armen wiegt wie ein Baby.

»Voglio mangiare questa zuppa«, erklärt Lisa schließlich, als ihre Tränen endlich getrocknet sind – und löffelt ihre Suppe bis auf den letzten Tropfen leer.

Alle sind zufrieden, und der weitere Abend verläuft ohne weitere Zwischenfälle.

*

Kaum habe ich die Tür meines Zimmers hinter mir geschlossen, fallen Jakob und ich uns in die Arme.

»Und? War das jetzt so schlimm?«, raunt mir Jakob zwischen zwei Küssen ins Ohr. »Ich habe schon gedacht, ich werde deinen Eltern bestenfalls an unserer Hochzeit das erste Mal vorgestellt!«

»Unserer Hochzeit?« Ich kichere amüsiert. Aber mein Herz sagt mir, dass hinter Jakobs Witz eine gewisse Wahrheit steckt: Auch wenn wir erst ein paar Monate zusammen sind, spüren wir beide doch eine tiefe Verbundenheit zueinander.

»So sehr, wie du dich bemüht hast, mich von ihnen fernzuhalten, habe ich mit dem Schlimmsten gerechnet«, fährt Jakob fort. »Aber eigentlich sind es doch ganz nette Leute. Und deine Stiefmutter kocht phantastisch!«

»Ich hatte einfach Angst, dass sie wieder streiten. Oder dass du sie komisch findest. Und dann doch denkst, dass ich genauso seltsam bin«, versuche ich zu erklären. »Ich meine … ehrlich, wenn du sie mit deinen Eltern vergleichst, dann sind sie schon … arg spießig.«

»Na ja.« Jakob setzt sich zu mir aufs Bett. »Spießig würde ich nicht sagen. Eher verkrampft, anfangs. Dafür, dass du das erste Mal jemanden nach Hause gebracht hast, haben sie sich aber tapfer geschlagen.«

»Ach, und deine Eltern haben also schon Routine?« Ich ziehe amüsiert die Augenbrauen nach oben. »Wie viele Frauen hast du denn schon angeschleppt?«

»Unmengen«, antwortet Jakob scherzhaft. »Nein, ehrlich, ich finde deine Eltern echt in Ordnung. Und Lisa kommt einfach in die Pubertät. – Was das Streiten angeht … hey, ich finde es absolut positiv, dass sie zumindest noch miteinander streiten können! Meine Eltern haben sich damals getrennt, weil gar nichts mehr ging, weder im Positiven, noch im Negativen. Deine haben zumindest noch ein gemeinsames Thema!«

Unwillkürlich muss ich lachen. Jakob hat wirklich das Talent, alles optimistisch zu sehen.

»Ja, und ihr Thema lautet: Lisa. Eva tut alles, damit sie von ihr geliebt wird, und Papa findet, sie verwöhnt sie zu sehr.«

»Ach, der ganz normale Wahnsinn.« Jakob legt seinen Arm um meine Schultern. »Eltern müssen nicht eure Familiengeschichte haben, um bei Kindererziehung verschiedener Ansicht zu sein.«

»Trotzdem … deine wirken im Vergleich voll normal.«

»Ach ja?« Jakob lacht. »Meine Mutter finanziert ihr Leben durch das Malen von Aktbildern und lebt mit einem Mann zusammen, der seinen Aquariumsfischen Schlaflieder vorsingt. Und mein Vater hat kurz nach der Scheidung eine Frau geheiratet, die nur acht Jahre älter ist als ich. Und das ist voll normal?«

Jetzt lachen wir beide. Ich lehne mich an ihn und fühle mich so geborgen und glücklich wie nie zuvor.

*

»Buon giorno!« Die Tür von meinem Zimmer wird aufgerissen. Ein blonder Wirbelwind stürzt herein und lässt sich aufs Bett fallen, genau auf Jakob und mich.

»Sveglia, sveglia, dormiglioni! La colazione è pronta!«

Lisa zieht uns im Überschwang die Decke weg – und ich bin froh, dass wir züchtig in T-Shirt und Unterhose eingeschlafen sind. Sie beginnt mich zu kitzeln. Um ihren Händen zu entkommen, rolle ich mich weiter zu Jakob, sie robbt hinterher, bis wir halb auf ihm liegen und er unter unserem Gewicht ein ächzendes Stöhnen von sich gibt.

»Hey, ihr Verrückten!« Mit sanfter Gewalt schubst er uns auf die Matratze zurück und greift nach seinem Handy, das er auf dem Nachtkästchen abgelegt hat. »Sieben Uhr fünfzehn? – Sag mal, Lisa, bist du verrückt? Es ist Sonntag!«

»Verruckt … verrückt!«, wiederholt Lisa aufgedreht. »Io ho preparato la colazione!«

Angeblich hat sie das Frühstück zubereitet.

Wer’s glaubt, denke ich noch, werde aber eines Besseren belehrt, als wir schließlich in Parterre erscheinen. Eva und Papa sitzen bereits an einem üppig gedeckten Tisch. Ihren müden Gesichtern nach zu urteilen, hat Lisa zuerst bei ihnen ganze Arbeit geleistet.

Es gibt Obstsalat, frische Semmeln, Eier und in kleinen Schalen ein paar Kuriositäten aus den Tiefen unseres Kühlschranks und der Vorratskammer: Peperoni, Sardellen in Öl, eine scharfe Paprikasoße, Kichererbsen aus der Dose und Essiggurken.

»Guten Morgen«, begrüßt uns Eva. »Ich glaube, Lisa hat alles aufgefahren, was irgendwie essbar ist.«

»Wo hat sie denn die Semmeln her?«, wundere ich mich, als ich nach einer davon greife. Sie fühlt sich flaumig und frisch an.

»Die habe ich beim Bäcker geholt, nachdem Lisa mit dem Aufbackgebäck so ihre Probleme hatte«, lässt uns Papa wissen. Tatsächlich liegt der Geruch von Angebranntem in der Luft. Auf der Küchentheke entdecke ich ein paar allzu knusprig-braune Semmeln.

Lisa zuckt mit den Schultern.

»Leider kaputt. Ofen … macht zu caldo …!«

Jakob und ich wechseln einen Blick. Lisas Deutsch ist überraschenderweise sehr klar, fast akzentfrei. Nur ihre Grammatik ist noch stark ans Italienische angelehnt. Der Freude meiner Eltern tut dies keinen Abbruch. Sie strahlen beide wie die Honigkuchenpferde, kommentieren den ersten deutschen Satz aber glücklicherweise nicht weiter.

Das Frühstück verläuft locker. Nachdem sie ihre Sprachhemmung nun anscheinend überwunden hat, bestreitet Lisa das weitere Gespräch nun in einem amüsanten Sprachmix. Ihre Erinnerung an früher kann wohl zumindest in sprachlicher Hinsicht nicht völlig ausgelöscht gewesen sein. In spätestens einem Jahr wird sie genauso Deutsch sprechen wie wir alle, da bin ich mir sicher.

Sehr blumig erzählt sie Jakob sogar, wie sie sich vor Wochen den Arm gebrochen hat, und gibt dabei zu, dass sie nicht auf Papas Warnung gehört hat.

»Und das war wirklich blöd«, führt Eva ihre Ausführungen weiter. »Weil der Rest des Sommers für Lisa damit vollkommen ruiniert war. Kein Baden, kein Segeln. Und das, wo ich sie gerade zu einem Segelkurs am Neusiedler See anmelden wollte.«

Lisa sieht sie mit großen Augen an. Auch wir anderen sind erstaunt. »Ich hatte die Unterlagen schon daheim«, redet Eva einfach weiter, als gehe es um nichts Besonderes. »Aber jetzt müssen wir wohl bis nächstes Jahr warten.«

»Bis … nächstes Jahr?« Ein Schatten fällt über Lisas Gesicht. »Perché?«

»Weil der Winter kommt. Es wird zu kalt und zu windig. Vielleicht fällt auch Schnee«, klärt Jakob sie auf. »Wenn du Glück hast, friert der See zu, dann kannst du Schlittschuh laufen. Das macht auch Spaß.«

»Schlitsuh … laufen?«, wiederholt Lisa.

»Pattinare sul ghiaccio«, will ihr Jakob weiterhelfen, erntet aber nur einen fragenden Blick.

»Non capisco«, gibt Lisa schließlich zu, und nun sind wir diejenigen, die nichts begreifen. Papa geht schließlich ein Licht auf.

»Du hast noch nie Eis und Schnee erlebt, nicht wahr?«

Jakob übersetzt ihr die Frage auf Italienisch, weil sie uns nur mit großen Augen ansieht. Sie tut so, als wisse sie genau, wovon die Rede ist, Schnee sei halt so … weiß. Obwohl er aus Wasser ist, aber gefroren. Also Eis, das aus den Wolken fällt. – Während dieser sehr naturwissenschaftlich anmutenden Erklärung macht sie ein so ernstes Gesicht, dass ich schmunzeln muss.

Es gibt Fotos von der kleinen Lisa auf einem Schlitten, mit Mütze und Handschuhen, doch ihre Erinnerung an die Erlebnisse, die sie mit uns an einem Schlittenhang irgendwo in Oberbayern hatte, hat sich wohl wirklich verflüchtigt.

»Im Winter kannst du Ski fahren«, erklärt Papa, fummelt an seinem Smartphone herum und hält ihr ein Foto von einem Profifahrer auf der Piste unter die Nase. »Das macht auch Spaß!«

»Ma … ich will segeln!«

Lisas enttäuschtes Gesicht fährt mir regelrecht unter die Haut.

»Voglio tornare al mare …«

Sie will mal wieder zurück ans Meer. Keiner von uns weiß, was er darauf noch sagen soll. Eva füllt Lisas Dessertschälchen mit Obstsalat, als sei Essen die Lösung für alles.

»Ich wollte Lisa ja ein Segelboot bauen, im Garten«, erzählt Papa dann Jakob. »Aber dann ist der Unfall passiert … und Eva unterstützt diese Idee mit dem Boot nicht.«

»So ein Unsinn!«, bricht es aus ihr hervor, und ich denke mir nur: Oh Gott, jetzt geht’s los mit der Streiterei. »Ich habe nur keine Lust, deine Handwerksgesellin zu spielen. Du weißt doch, dass ich zwei linke Hände habe!«

So ganz stimmt das alles nicht, aber auch Papa belässt es bei ihrer holprigen Ausrede.

»Na, dann helfe ich eben!«, bietet Jakob an. »Ich mache das sehr gerne. Wir können es gleich nach dem Frühstück in Angriff nehmen!«

»Wirklich?« Papa klingt überrascht. Er sieht durch die geschlossene Terrassentüre hinaus in den herbstlichen Garten. »Na ja – trocken genug ist es. Und besser, das Holz wird vor dem Winter verarbeitet, als dass es monatelang herumliegt.«

»Alles klar«, sagt Jakob, und ich könnte ihn in diesem Moment einfach nur umarmen. Ich fühle mich wie ein Glückskind.

*

Am Nachmittag hantieren Jakob und Papa noch immer in vollkommener Eintracht im Garten. Der Rumpf des Schiffes steht schon. Im Augenblick kümmern sich die beiden um Mast und Schiffsboden.

Es wird gehämmert und gebohrt. Das Unternehmerehepaar von nebenan ist zum Glück nicht da. Die Enkelinnen dagegen, vom Treiben auf dem Nachbargrundstück neugierig geworden, sind zu uns herübergekommen und helfen gemeinsam mit Lisa, reichen Werkzeug aus der offenen Kiste oder etwas zu trinken. Die beiden sind genauso begeistert wie Lisa, als das Schiff mehr und mehr Gestalt annimmt. Auch ich helfe, wenn ich kann, doch bei drei jugendlichen Unterstützerinnen, die vor Enthusiasmus schier platzen, komme ich nicht recht zum Zug.

Eva summt in der Küche und rührt Kuchenteig.

Als ich mir gerade überlege, ob ich mich mit einem Buch auf die Terrasse setzen und die letzte Herbstsonne einfangen sollte, klingelt das Telefon. Da Eva gerade die Hände voller Teig hat, nehme ich ab.

»Guten Tag«, sagt eine ältere Frau mit deutlichem Schweizer Einschlag. »Mein Name ist Renata Ferraro. Ich möchte mit Ihnen über meine Enkelin Alessandra sprechen.«

Einen Moment lang bleibt mir das Herz stehen. Ich schnappe nach Luft.

»Einen Moment«, stoße ich hervor. »Ich hole meine Mutter.«

Sie will sie uns wegnehmen. Etwas anderes kommt mir nicht in den Sinn, als ich zu Eva in die Küche komme und ihrer guten Stimmung abrupt ein Ende setze.