Matteo aus der Bibliothek

26. Juni – 15. Dezember 2015

Der Song von Abba, der im Tanzsaal dröhnte, hieß »SOS«. Der Titel traf punktgenau das, was ich fühlte: Ich wollte hier nur raus. Raus aus diesem Wahnsinn, der sich Maturaball nannte. Wie an unserer Schule üblich, waren sogar die Eltern dabei. Denn ehe die Band aufspielte, war uns allen in einer feierlichen Zeremonie das Reifezeugnis überreicht worden. Dieser Moment war für die meisten Mütter und Väter eine Art Höhepunkt im Erwachsenwerden ihrer Kinder.

Außer für meine, wie es den Anschein hatte. Als ich verlegen auf der Bühne stand, mein Zeugnis in den vor Aufregung schweißnassen Händen, hatte ich den Fehler begangen, in ihre Richtung zu schielen. Eva hatte zwar ihren Blick nach vorn gerichtet, war in Gedanken aber woanders. Papa tippte auf seinem Smartphone.

Als dieses offizielle Theater endlich vorbei war, wollte ich sofort gehen. Ich war nie bei Partys, hatte nicht einmal einen Tanzkurs besucht. Was um alles in der Welt sollte ich also auf einem Maturaball?

Doch seltsamerweise reagierten Papa und Eva entsetzt und meinten unisono, es erfordere allein der Anstand, noch etwas zu bleiben. Seit rund eineinhalb Stunden saßen wir nun also an einem Tisch im hinteren Bereich des Saals, während ein paar Leute aus der Schule sich zu Abba die Glieder verrenkten. Selbst jetzt starrte Papa in sein Handy, während Eva gelangweilt an einem Weißen Spritzer nippte.

Ich versuchte mich zu erinnern, wer eigentlich die Idee geboren hatte, unseren Maturaball unter das Motto »Mamma mia!« zu setzen. Ich kam nicht drauf. Eines aber war klar: die geblümte Latzhose mit Schlag, in der ich hier herumsaß und mich langweilte, hätte ich gern gegen eine Tarnkappe getauscht.

»Jetzt amüsier dich doch mal ein bisschen!« Papa hatte erstaunlicherweise sein Handy weggesteckt und musterte mich vorwurfsvoll. »Es ist dein Maturaball! Schau die anderen an, die haben doch auch Spaß!«

Die Band spielte jetzt »Dancing Queen«.

»Ja, eh«, sagte ich nur, tat aber keinen einzigen Schritt in Richtung Tanzfläche. Den Anblick, wie mein heimlicher Bibliotheksschwarm Matteo dort mit Viola, unserer Schulsportskanone, irgendeinen gekonnten Freestyle aufs Parkett legte und ihr dabei verliebt in die Augen sah, musste ich mir wirklich nicht aus nächster Nähe geben!

»Himmel, was ist denn mit dir los, Lea! Du machst ein Gesicht wie zehn Tage Regenwetter. Fällt dir eigentlich nicht selbst auf, wie schräg das ist? In deinem Alter platzt man doch vor Energie! Aber du hängst nur rum!«

Ich wusste in diesem Moment nicht, was mich mehr traf: Dass er alte Wunden aufriss oder dass er sich für mich schämte. Er schämte sich, weil seine Tochter nicht auf der Tanzfläche herumhüpfte und weil die anderen Eltern es auch sahen: Die Klassenbeste war eben der Klassenfreak!

Aber ich weinte nicht. Noch nicht. Ich fühlte mich einfach nur ausgeliefert und hilflos.

»Jetzt lass sie doch.« Endlich schaltete sich Eva ein. »Du kannst Lea nicht zu etwas machen, was sie nicht ist!«

»Na, du musst es ja wissen«, konterte Papa bissig. »Also, Esther war nicht so, und ich auch nicht! Von wem soll sie diese Antriebslosigkeit haben?«

Am liebsten wäre ich einfach weggelaufen, doch Papa hatte recht: ich konnte mich nicht einmal dazu aufraffen, aufzustehen.

»Hauptsache, du bist immer dynamisch!«, schmetterte Eva ihm entgegen. »Allerdings merke ich von deiner Dynamik nichts, wenn es um Lisa geht! Da schiebst du Termine vor, statt mit mir nach Amsterdam zu fliegen!«

Amsterdam. Kaum fiel das Stichwort, begriff ich, dass es ihr gar nicht darum ging, ob ich an meinem Maturaball herumsaß oder tanzte. Es ging um Lisa. Es ging darum, dass Eva nach Amsterdam wollte, nachdem dort ein Pädophilenring gesprengt und umfangreiches Videomaterial sichergestellt worden war. Der Privatdetektiv, der immer noch aus Oma Bettys Nachlass bezahlt wurde, gab vor zu wissen, dass auch Fotos und Filme darunter waren, die ein blondes Mädchen mit einem auffälligen Muttermal zeigten. Doch die holländische Polizei hatte sich noch nicht gemeldet, und auch von Seiten Euro- und Interpols blieb es still. Eva hielt das nicht ab. Sie wollte hin und sich ein eigenes Bild machen.

Papa jedoch weigerte sich. Sie stritten darüber schon seit Tagen. »Das Mädchen ist nicht Lisa«, beharrte er auf seiner Position. »Sonst hätte uns die Polizei schon längst kontaktiert!«

»Woher wollen die denn wissen, wie mein Kind jetzt aussieht! Die tappen doch völlig im Dunklen.«

»Du weißt auch nicht, wie Lisa jetzt aussieht. Mach dir doch nichts vor!«

»Eine Mutter erkennt ihr Kind immer. Ich würde sie noch in zwanzig Jahren erkennen!«

»Ich habe es satt, Eva! Wie lange willst du dir noch irgendwelche Kinderleichen und grausigen Bilder von misshandelten Mädchen ansehen? Lisa ist tot. Begreif das endlich!«

Ohne es zu merken, hatten die beiden an Lautstärke zugelegt. Als die Band nun eine Pause einlegte, schauten alle von den Nachbartischen in unsere Richtung.

Eva erhob sich und griff nach ihrer Handtasche.

»Das höre ich mir sicher nicht an«, zischte sie. »Lisa lebt! Die Wahrsagerin hat es mir versichert! Wenn du sie für tot erklärst, bitte. Dann weiß ich ja, woran ich bei dir bin.«

Als Eva in Richtung Garderobe lief, erhob er sich schwerfällig und folgte ihr. Ich schloss mich ihnen an. Der Ball war für mich sowieso gelaufen.

Draußen am Parkplatz orderte Eva bereits per Handy ein Taxi.

»Jetzt zick doch nicht herum!« Papa wollte sie am Arm fassen, doch sie entzog sich seinem Griff. »Wir sind zusammen gekommen, also fahren wir auch gemeinsam!«

»Nein, danke! Wenn du glaubst, dass ich noch irgendetwas gemeinsam mit dir mache, hast du dich getäuscht!«, fuhr sie ihn an. »Dir wäre es doch nur recht, wenn Lisa endlich offiziell für tot erklärt wird! Damit du uns alle aus deinem Gedächtnis streichen und nur noch für deinen gottverdammten Job leben kannst! Und ab und zu treibst du es halt mit einer Sekretärin!«

»Ach, leck mich doch!« Papa wandte sich mit einer abfälligen Handbewegung ab und ging in Richtung seines Wagens. Ich blieb unschlüssig stehen, zerrissen zwischen zwei Fronten.

»Komm schon, Lea. Ich bring dich nach Hause!« Papa hatte gemerkt, dass ich ihm nicht folgte.

»Glaubst du wirklich, Lea hat noch Lust, mit so einem Vater Zeit zu verbringen?«, hielt Eva ihm vor. »Für dich ist sie doch Luft, genauso wie ich!«

In diesem Moment bog das Taxi um die Ecke.

Als Eva einstieg, folgte ich ihr in den Wagen. Erst fühlte ich mich nicht gut dabei, Papa stehen zu lassen, aber was er mir vorgehalten hatte, arbeitete in mir. Wann war aus ihm eigentlich so ein selbstbezogener Ignorant geworden? Dass ich keine wirklichen Freunde hatte, war allein die Schuld meiner Eltern! Ich durfte doch nichts: nicht auf Partys, nicht ins Kino, nicht ins Einkaufszentrum. Nicht mal auf die Maturareise durfte ich mit! Sie hatten mir dieses Gefängnis gezimmert! Nun war ich nicht mehr in der Lage, es zu verlassen, selbst wenn die Tür offen stand!

Später, als ich im Bett lag, heulte ich mich in den Schlaf. In meinem Leben würde sich nie etwas ändern!

*

Grundbegriffe der Kommunikationswissenschaft. Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Problemfelder der Kommunikationswissenschaft.

Drei Buchtitel, die ich wiederholte wie eine Beschwörungsformel, während meine Augen über das Regal wanderten. Reihe 14, Sektion G. Das hatte mir der Computer doch ausgespuckt!

Doch die Bücher, die sich hier in der Hauptbibliothek aneinanderreihten, befassten sich mit Lenin, Marx und dem Gemeinwesen europäischer Staaten.

In mir wuchs die Verzweiflung. Würde ich gleich an der ersten Aufgabe scheitern, die uns der Dozent im Einführungsseminar zur Publizistik gestellt hatte? Konnte ausgerechnet ich Bücher in einer Bibliothek nicht finden?

Seit zwei Wochen war ich offiziell Studentin. Während sich die anderen Erstsemester mit entspannter Lässigkeit ins Unileben stürzten, schnell zusammenfanden und immer zu wissen schienen, was der nächste Schritt war, fühlte ich mich von allem überfordert. Allein die Fahrt mit der S-Bahn nach Wien verursachte mir Herzrasen. Ich war es nicht gewohnt, ohne zumindest ein Elternteil unterwegs zu sein.

Eva bestand darauf, dass ich ihr ein SMS schickte, wenn ich gut angekommen war. Seltsamerweise empfand ich das nicht als Kontrolle. Zumindest würde sie so merken, wenn mir etwas passierte, und konnte gleich die Polizei einschalten!

Die Augen noch immer auf die Bücherrücken geheftet, bemerkte ich den Schatten neben mir erst, als ich mit der Schulter gegen ihn stieß. Vor Schreck stieß ich einen leisen Schrei aus und riss den Arm hoch. Dabei streifte ich meine Brille, die ich heute ausnahmsweise statt Kontaktlinsen trug. Sie fiel zu Boden. Peinlicher konnte es nicht werden.

Der Schatten, der jetzt auch noch vollkommen verschwommen war, bückte sich und übereichte sie mir.

»Danke.«

»Gerne.«

Ich erkannte an der Stimme, wen ich vor mir hatte, noch ehe die Brille wieder auf meiner Nase saß: Matteo.

»Was … machst du denn hier?«, entfuhr es mir. Vor Überraschung vergaß ich vollkommen, dass wir üblicherweise kaum miteinander redeten und in höflicher Sympathie steckengeblieben waren.

»Na, ich studiere hier Politologie. Bin auf der Suche nach einem Buch … Ökonomische Grundlagen des Sozialstaates. Bist du da zufällig drauf gestoßen?«

»Aber machst du nicht Zivildienst?«

Vor lauter Verblüffung, dass wir plötzlich anders miteinander redeten als in der Bibliothek in Mödling, ignorierte ich völlig, dass er mich etwas gefragt hatte.

»Der ist schon seit einem halben Jahr vorbei«, ließ er mich wissen. »Ich bin im zweiten Semester.«

»Ach.«

Wir standen voreinander und glotzten uns an. Mir fiel auf, dass er an den Schultern breiter und insgesamt muskulöser geworden war. Mit seinem dunklen Haar und den blauen Augen sah er verdammt gut aus, besonders, da er seine Brille inzwischen wohl auch gegen Kontaktlinsen ausgetauscht hatte.

Als das Schweigen und Anstarren gerade peinlich zu werden begann, fragte er: »Kann ich dir vielleicht helfen? Suchst du was?«

Dankbar nannte ich ihm die Buchtitel.

»Die sind sicher in der Bibliothek für Publizistik. Hier ist nur Politologie.«

»Aber«, begann ich, doch da fiel mir ein, dass ich wohl einen entscheidenden Vermerk im Computersystem ignoriert hatte. Reihe 14, Sektion G, IfP.

Institut für Publizistik. Na klar, wo sonst.

»Warst du da schon?«

Matteo schien Gedanken lesen zu können.

Ich schüttelte den Kopf. Auch wenn Publizistik mein Hauptfach war – die Einführungsvorlesungen und Seminare, die ich bisher besuchen musste, hatten alle an der Hauptuni stattgefunden. Dass es das Institut gab, wusste ich, hatte mich aber noch nicht wirklich erkundigt, wo es genau lag.

»Da musst du in die Währinger Straße«, informierte mich Matteo nun. »Wenn du willst, kann ich es dir zeigen. Ich habe Publizistik als Nebenfach.«

Ich warf einen Blick auf die Uhr. Eva kannte meinen Stundenplan. Ein Ausflug in einen anderen Stadtteil nebst Plauderei war da eigentlich nicht eingeplant gewesen.

Andererseits, es war einfach die Chance, Matteo besser kennenzulernen. Bisher hatten wir noch nie ein Gespräch geführt, das über Büchertitel hinausging, und nun wusste ich immerhin schon, was er studierte – sogar dasselbe wie ich!

»Das wäre super!«, sagte ich daher und gab mich betont unbekümmert. Unterwegs schrieb ich Eva ein kurzes SMS, dass es später würde, weil ich noch in die Bibliothek müsste.

Wie sich herausstellte, lag das Institut gar nicht am anderen Ende der Stadt, sondern quasi um die Ecke. Die drei Bücher waren schnell gefunden. Matteo fragte, ob ich noch kurz Lust hätte auf einen Drink, was meinen Herzschlag beschleunigte. Wir gingen in ein hippes Café in der Nähe. Er bestellte Cola und Gemüserollen, ich nur Sodawasser. Die Preise in diesem Lokal waren nicht auf mein Budget zugeschnitten.

Abgesehen davon, hätte ich vor innerer Aufregung überhaupt keinen Bissen heruntergebracht. Ich konnte selbst noch nicht fassen, wer hier neben mir saß. Mit seinem italienischen Flair sah dieser Matteo aus wie aus einem Modekatalog. Ich selbst fühlte mich wie eine farblose, bebrillte Cinderella vor ihrer Verwandlung in eine Ballschönheit. Leider war ich nicht in der Lage, irgendeine sinnvolle Bemerkung abzusondern. Mein Kopf war leer.

Nach einiger Zeit begriff ich, dass Sprechen gar nicht notwendig war. Denn Matteo redete wie ein Wasserfall: von irgendwelchen Städten, die er besucht hatte, vom Surfen, von Rugby-Turnieren in ganz Europa, davon, dass seine ältere Schwester derzeit in den USA studierte. Seine Stimme klang angenehm, sodass ich ihm gerne zuhörte. Von mir gab es ohnehin nichts zu erzählen. Spätestens als sein Essen serviert wurde, fragte ich mich, ob er mich nicht langweilig fand, wie ich da so saß und nichts tat, außer zu nicken oder ab und zu den Kopf zu schütteln. Mir wurde klar, dass Matteo sich seit unseren Begegnungen in der Bibliothek total verändert hatte.

Irgendwann sah er auf die Uhr.

»Schon fast sechs!«, er stand auf. »Ich muss noch nach Hause und dann zum Training!«

Damit war er weg. Und ich saß hier mit der unbezahlten Rechnung. Zum Glück reichte mein Geld gerade so.

Als ich nach Hause fuhr, war ich von dem Treffen irgendwie enttäuscht. Wirkliches Interesse hatte er ja nicht an mir gezeigt. Aber warum sollte er auch? In seinem Leben gab es die schöne Viola, und sein Horizont reichte von New York bis Cancun, Mexiko, während ich es gerade mal täglich mit der Bahn nach Wien schaffte.

*

Das Semester nahm seinen Lauf. Während ich lernte, mich in der Bibliothek zurechtzufinden und mir im Audimax rechtzeitig einen Platz zu sichern, um nicht zwei Stunden lang auf den Treppenstufen kauern zu müssen, stritten meine Eltern weiter. Wieder tauchte ein Kind auf, das Lisa angeblich ähnlich sah, wieder flogen sie in irgendeine Stadt zu irgendeiner Polizeibehörde. Wenn sie enttäuscht und entmutigt zurückkamen, fuhr mein Vater wortlos nach Wien; dann begann alles von vorn.

Ich gewöhnte mir an, mehr Zeit an der Uni und weniger Zeit zu Hause zu verbringen. Die Bibliothek wurde mein Rückzugsort. Dass dort auch noch andere lernten, störte mich nicht. Sie ignorierten mich sowieso.

Matteo hatte ich gedanklich abgeschrieben. Bis wir uns wieder gegenüberstanden, diesmal in der Mensa. Bisher war ich selten dort gewesen. Ich wartete seit einer gefühlten Ewigkeit in der Schlange für die Pasta. Nur noch zwei Leute vor der Essensausgabe, und ich versuchte gerade, einen Blick auf einen vollen Teller zu ergattern, um mir ein Bild von den vegetarischen Spaghetti Bolognese zu machen, als eine Stimme unmittelbar neben mir sagte: »Hey, danke, mein Schatz, dass du dich schon mal für mich angestellt hast!«

Matteo grinste mich an, als hätten wir uns erst am Morgen voneinander verabschiedet. Mein Hunger war weg, dafür flatterten in meinem Bauch nun die berühmten Schmetterlinge.

»Zweimal die Pasta«, sagte ich fast schon automatisch, als ich an der Reihe war, und ließ beide Gerichte von meiner Karte abbuchen. Matteo nahm mir galant das volle Tablett ab und trug es zu einem der Tische.

»Lange nicht mehr gesehen«, sagte er, während er sich die erste Ladung Spaghetti rollte. »Du hättest dich ruhig mal bei mir melden können, nach unserem netten Nachmittag im Bistro.«

Verwirrt ließ ich die Gabel sinken, die ich gerade zum Mund führen wollte. Matteo hatte auf eine Nachricht von mir gewartet? Tatsächlich? Mein Herz schlug einen kleinen Purzelbaum vor Freude.

»Ich hab deine Nummer gar nicht!«, platzte ich heraus.

»Echt?« Matteo runzelte die Stirn. »Das sollten wir ändern.« Er zückte sein Handy. »Ruf mich an.« Dann nannte er seine Nummer, und ich wählte wie im Rausch.

Während des Essens erzählte er irgendwelche Geschichten von komischen Dozenten, überflüssigen Vorlesungen und chaotischen Seminaren. Ich hing an seinen Lippen und hörte trotzdem nicht richtig zu. Die Tatsache, dass ich mit dem bestaussehenden Typen der ganzen Uni in der Mensa saß, machte mich schwindlig. Ich konnte die neidischen Blicke einiger Frauen fühlen.

Als er seinen Teller geleert hatte, musste Matteo rasch in seine nächste Vorlesung, und ich fiel von der rosa Wolke wieder hart auf den grauen Fliesenboden zurück. Sein Abgang kam mir vor wie ein Déjà-vu.

Ich rechnete nicht damit, so schnell wieder von ihm zu hören. Umso erstaunter war ich, als er mich knapp zwei Stunden später anrief.

»Lust auf einen Kaffee?«

»Ähm … ich bin auf dem Weg zu einem Seminar.«

»Und danach?«

Muss ich nach Hause, lag mir auf der Zunge. Ich überlegte bereits, was ich Eva diesmal für eine Lüge auftischen konnte, als Matteo sagte: »Pfeif doch auf dieses Seminar! Einmal kannst du bestimmt fehlen. Gehen wir lieber auf einen Punsch oder so.«

Es war die einfachste Möglichkeit, ihn zu treffen. Überhaupt war dieses Kommunikationswissenschaftszeug ziemlich langweilig. Ich sagte zu, ohne länger zu zögern.

*

Rund eine Stunde und zwei Punsch später lagen wir auf Matteos schmalem Bett im Studentenwohnheim und knutschten. Seine Berührungen ließen meine Haut angenehm kribbeln. Mit jedem Kuss geriet mein Körper mehr in Flammen. Gleichzeitig fühlte es sich im Kopf ganz komisch an, so, als würde das Hirn von einer wattigen Nebelwolke umschlossen. Eine zartes Stimmchen flüsterte mir zu, dass das alles viel zu schnell ging, während ein anderes sagte, nutze die Gelegenheit! Ich lag hier mit dem Schwarm meiner Bibliotheksphantasien, fernab von allen Problemen, und er hatte seine Hand an meinen Brüsten. Es fühlte sich gut und aufregend an.

Als seine Hand in meine Hose wanderte, verabschiedete sich die Stimme der Vernunft endgültig. Der Sex, der dem berauschenden Vorspiel folgte, war dagegen eher ernüchternd. Nach nur ein paar Minuten war alles vorbei. Matteo wälzte sich mit befriedigtem Seufzen von mir, während ich mich fragte, was nur alle so toll an dieser Sache fanden.

»Und? Du hattest doch einen, oder?«

Er blinzelte mich erwartungsvoll an. Es dauerte etwas, bis ich kapierte, was er meinte.

Was sollte ich sagen? Dass es sich nicht so angefühlt hatte?

Während ich noch überlegte, sagte er auch schon: »Bisher hat sich noch keine beklagt. Ich denke schon, dass ich das ziemlich gut drauf habe!«

Er schob seinen Worten ein selbstsicheres Grinsen hinterher, und ich verstand, dass es an mir liegen musste, wenn ich nicht vor heißem Verlangen und ungezügelter Erregung explodiert war. Vielleicht war ich einfach zu verkrampft.

»Es war super!«, versicherte ich ihm, freute mich an seiner Freude und sagte mir, dass die Sache mit dem Sex vielleicht noch besser werden würde, wenn ich mehr Übung darin besaß. Dann fiel mein Blick auf den Radiowecker. Ich erschrak. Ich hätte schon längst auf dem Heimweg sein müssen!

*

»Verdammt! Wo warst du?« Mein Vater hatte sich vor mir aufgebaut. Dass er an einem Werktag gegen sechs Uhr abends bei uns in Mödling auftauchte, lag an Eva, die ihn panisch vor Angst angerufen hatte.

»In einer Vorlesung!« Die verzweifelte Lüge ging mir leicht über die Lippen. »Sie wurde verschoben, der Prof kam zu spät!«

»Erzähl doch keine Märchen!«

Mein Vater wirkte dennoch unsicher. Das machte mir Mut.

»Der Stoff ist absolut klausur-relevant: das Blackbox-Modell und das Riepelsche Gesetz! Ich konnte das auf keinen Fall verpassen.«

»Du hättest mich anrufen können!« Eva kauerte mit blassem Gesicht auf dem Sofa. Ihre Stimme klang schleppend, ein sicheres Zeichen, dass sie von den bunten Tabletten geschluckt hatte, die ihr ein Neurologe noch immer verschrieb. Offiziell gegen Schlafstörungen. »Ich dachte, dir ist was passiert!«

Auf der Fahrt von Wien nach Mödling, mitten am Tag. Klar.

»Eva hat dich x-mal angerufen«, sagte mein Vater.

»Ich saß in der Vorlesung!«, wiederholte ich mit Inbrunst. Allmählich glaubte ich schon selbst daran. »Und … mein Akku war leer!«

»Das soll nie mehr passieren!« Mein Vater schwang die Wir-haben-schon-ein-Kind-verloren-Keule, mit der er alles niederknüppelte, was einem Schrei nach Freiheit nahe kam. Wieder einmal. »Willst du uns jetzt provozieren, indem du uns im Ungewissen zappeln lässt? Die Pubertät solltest du doch inzwischen abgeschlossen haben!«

Ich hatte nie eine, schrie alles in mir. Laut sagte ich: »Es tut mir leid, okay?!« Damit ging ich die Treppe hinauf in mein Zimmer.

Mehr resigniert als wütend warf ich mich bäuchlings aufs Bett. Ich hatte leichte Kopfschmerzen und mir war übel. Lag es am Punsch oder an dem, was sich danach ereignet hatte?

Wieder fühlte ich Enttäuschung in mir, als ich an Matteo dachte. Der Glanz, der ihn für mich bisher umgeben hatte, war plötzlich nicht mehr so hell und strahlend. Letztendlich hatte er kein wirkliches Interesse an mir gezeigt, nichts über mich wissen wollen. Stattdessen hatte ich auch die vier Punsch gezahlt und danach mit ihm geschlafen. Sex und Alkohol schienen in meinem Leben eine unselige Paarbeziehung zu führen.

Überhaupt … Beziehung.

Was war eigentlich mit der schönen Viola, mit der er noch Ende Juni am Maturaball getanzt hatte?

Ich fragte meinen treusten Verbündeten und wurde nicht enttäuscht. »In einer Beziehung mit: Viola Sommer«, war in Matteos Profil vermerkt. Das Selfie, das die beiden in inniger Umarmung vor derselben Glühwein-Hütte zeigte, bei der auch wir eingekehrt waren, stammte vom vergangenen Wochenende.

Ich war schlagartig ernüchtert.

Wie hatte ich nur so verdammt naiv sein können! Vor Wut und Frust heulte ich in mein Kissen. Meinen Vater bemerkte ich erst, als er mich ansprach.

»Du kannst dich wieder beruhigen, so böse geschimpft haben wir jetzt auch wieder nicht!« Blanker Vorwurf lag in seinem Blick. »Wegen dir hat Eva wieder Tabletten genommen, verdammt! Ich dachte wirklich, es geht allmählich besser, und dann machst du so was und stürzt sie in die nächste Krise!«

»Willst du mich jetzt für Eva verantwortlich machen?«

Ich hatte mich aufgerichtet, starrte ihn durch einen Schleier von Tränen an.

»Du hast dich selbst entschieden, bei ihr zu bleiben!«

Damit verließ er das Zimmer, und ich hatte wieder einmal das Gefühl, völlig im Stich gelassen zu werden.

Ich brauchte keinen Freund und schon gar nicht dieses enttäuschende Erlebnis, das sich Sex nannte und das von der gesamten Menschheit total überbewertet wurde. Außerdem hatte ich ja offenbar eine Aufgabe, die mich wohl bis ans Ende meines Lebens begleiten würde.