Die Mitwisserin

7. November 2018

Die alte Dame, die trotz ihrer weißen Haare etwas Jugendliches, Frisches ausstrahlt, empfängt uns im Wintergarten eines klassizistischen Gebäudes, das an einem Hang über den Ufern des Lago Maggiore thront. Von außen sieht der Bau aus wie ein Fünfsterne-Hotel. In Wahrheit ist er ein Privatkrankenhaus.

Dass Renata Ferraro Geld hat, verrät nicht nur ihre Unterkunft, sondern ihre ganze Haltung. Sie hat diese gewisse Ausstrahlung, die auch Oma Betty zu eigen war und die aus der festen Überzeugung resultiert, dass Luxus dazugehört und auch nicht einfach verschwindet. Ansonsten haben die beiden Frauen jedoch nichts gemeinsam. Oma Betty war auf ihre Weise schrill und trug eine gewisse Überheblichkeit zur Schau. Renata Ferraro strahlt gediegene Bescheidenheit aus.

Ihr Händedruck ist warm und fest, als sie erst Eva, dann mir zur Begrüßung die Hand reicht.

»Danke, dass Sie sich Zeit genommen haben«, sagt Renata Ferraro, als wir an dem kleinen Rundtisch im Wintergarten ihr gegenüber Platz genommen haben. Es gibt noch drei, vier weitere Tische in diesem grünen Paradies aus Palmen und Bananenstauden, doch sie sind leer. »Ihr Mann ist nicht mitgekommen?«

»Er ist bei Lisa zu Hause geblieben.«

Evas Worte sind nur die halbe Wahrheit. Papa ist nach wie vor gegen dieses Gespräch, genauso wie Harry. Trotz Renata Ferraros Versicherung, ihr gehe es nicht darum, irgendwelche Ansprüche anzumelden, die ihr ohnehin nicht zustünden, fürchten die beiden genau das. Eva dagegen war von Anfang an entschlossen, sich dieser Frau und dem, was sie zu berichten hat, zu stellen. Ich habe mich entschieden, sie zu begleiten, weil ich es gewohnt bin, mich um sie zu kümmern, aber auch, weil mich meine eigene Neugierde treibt.

»Möchten Sie Tee?«

Renata Ferraro hat bereits nach der Kanne gegriffen, die in ihren Händen bedrohlich wackelt. Eva nimmt sie ihr ab und übernimmt das Befüllen der Tassen, was die alte Dame mit einem kurzen, dankbaren Lächeln quittiert.

»Ich möchte mich stellvertretend für meinen Sohn bei Ihnen entschuldigen«, sagt sie dann ernst. »Für das Leid, das Ihnen zugefügt wurde.«

Eva sagt nichts. Ich kann spüren, dass sie sich nicht sicher ist, wie sie die Aussage einordnen soll. Mir geht es genauso. Hat diese Frau uns die ganze weite Reise machen lassen, nur um uns das zu sagen?

»Mein Sohn war kein schlechter Mensch«, fährt sie fort und sieht Eva dabei fest in die Augen. »Es war nie seine Absicht, jemanden ins Unglück zu stürzen.«

»Tatsächlich?« Eva kräuselt missbilligend die Nase. »Er entführt ein Kind, und denkt nicht, dass er dabei eine ganze Familie zerstört? Das wäre reichlich naiv, finden Sie nicht?«

Renata Ferraro nickt bedächtig.

»Maurizio war nicht naiv«, erklärt sie dann. »Ein Träumer, ja, aber nicht weltfremd. Er wusste immer, dass es falsch war. Glauben Sie mir.«

Durch eine Lücke zwischen zwei Palmen lässt Renata ihren Blick über den nebelverhangenen Lago Maggiore schweifen.

»Es war diese Frau, die ihn dazu gebracht hat. Mein Sohn ist unschuldig.«

Eva lacht bitter.

»Ja, natürlich. Als Mutter will man das immer glauben. Aber machen Sie es sich mit dieser Behauptung nicht verdammt einfach? Im Übrigen wissen wir, dass es Ihre Schwiegertochter war, die Lisa in Malia entführt hat. Das heißt aber nicht, dass Ihr Sohn nicht hätte zur Polizei gehen können!«

Die alte Lady seufzt. Sie sackt leicht zusammen, fast so, als wäre sie müde geworden. Ihr Kopf wippt ein wenig nach vorne, und mir wird bewusst, dass es sich bei dem vollen, so sorgfältig frisierten Haar nur um eine Perücke handeln kann. Plötzlich kommt mir alles zu perfekt vor: das gepflegte Äußere, das teuer wirkende Kostüm, der akkurat gezogene Lidstrich, die aufgemalten Augenbrauen. Renata Ferraro ist nur noch Fassade. Vor uns sitzt eine alte, kranke Frau, die lediglich Haltung bewahren will.

Während Eva den Eindruck macht, als wäre sie kurz davor, aufzustehen und zu gehen, ist meine Neugierde nun erst entfacht. »Sie mochten sie nicht, oder?«, lasse ich alle Zurückhaltung fahren. »Ihre Schwiegertochter, meine ich.«

»Sonia war das Schlimmste, was Maurizio passieren konnte. Eine verrückte, habgierige Person!« Die alte Dame klingt verbittert. »Sie kam aus kleinen Verhältnissen und wollte immer hoch hinaus. Kaum hatte sie ihn sich geangelt, setzte sie ihm Flausen in den Kopf. Er war ein erfolgreicher Segler, aber es stand immer fest, dass er einmal das Unternehmen meines Mannes übernehmen wird. Dann kam Sonia. Anstatt in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, investierte Maurizio einen Großteil seines Erbes in dieses Segelboot, stieß die Firma gegen meinen Willen ab und lebte von diesem Geld. Sonia wurde relativ bald schwanger, was ich nicht anders erwartet hatte. Nach Alessandras Geburt blieben sie noch ein halbes Jahr in Genua. Dann gingen sie mit der Jacht auf Weltreise.«

Renata Ferraro nippt an ihrem Tee, ehe sie den Bericht fortsetzt.

»Maurizio schickte hin und wieder Fotos. Einmal im Monat rief er an. Aber die Telefonate wurden immer kürzer. Es verband uns nichts mehr. Sonia hatte ihn vollkommen im Griff. Sie mochte mich nicht. Was natürlich auf Gegenseitigkeit beruhte.«

Wieder holte die alte Dame tief Luft.

»Anfang August 2011 telefonierte ich mit ihm. Sie lagen vor einer griechischen Insel; ich habe den Namen vergessen. Ihr nächstes Ziel war Kreta.« Sie schaut Eva lange an. »Wir haben erst im Oktober wieder miteinander telefoniert. Da lagen sie mit der Sea Star im Hafen von Agadir. Es stand für mich außer Frage, dass in der Zwischenzeit etwas passiert sein muss. Aber er erzählte wieder nur vom Segeln und den Orten, die sie besucht hatten, von sich, von Sonia …«

»Von Alessandra auch?«

»Ja.« Renata Ferraro reckt ihr Kinn nach vorn. »Ja, das auch. Aber erst, als ich nach ihr fragte. Und das war für einen Mann, der so gerne über sein Kind redete, schon sehr auffällig.«

»Was sagte er?«

»Dass es ihr gut geht. Dass sie segeln lernt. Nichts Wichtiges.« Sie atmet tief durch. »Im Dezember bekam ich dann einen Brief von ihm mit den ersten Fotos seit Langem.«

Sie greift in eine Tasche, die neben ihrem Stuhl steht, und legt drei Fotos auf den Tisch.

Eva und ich halten gleichzeitig den Atem an. Das ist unverkennbar unsere Lisa – als Vierjährige im Badehöschen am Strand, in kurzer Hose und T-Shirt vor einem Teller mit Meeresfrüchten, im Schlafanzug in einer Hängematte, die zwischen Palmen aufgespannt ist.

Lange sagt keine von uns ein Wort.

Doch während meine Gedanken noch um Lisa kreisen, ist Eva bereits einen Schritt weiter. »Also wussten Sie es!«, stößt sie hervor. »In ganz Europa und den USA wurde Lisas Bild in den Medien gezeigt und von ihrem Verschwinden berichtet. Sie wussten es all die Jahre!« Ihre Nasenflügel beben. Der Blick, mit dem sie Renata Ferraro fixiert, macht mir Gänsehaut. Sie hält die Tischplatte mit beiden Händen so fest umklammert, dass ihre Knöchel weiß hervortreten.

»Ja«, sagt die alte Dame ruhig. »Ich wusste es.«

»Aber … aber warum haben Sie geschwiegen?!«

»Maurizio war mein Sohn.« Sie hebt hilflos die Schultern. »Ich hoffe für Sie, dass Sie nie in so eine Lage kommen wie ich. Aber auch Sie würden alles tun, um Ihr Kind zu schützen.«

»Nein.« Eva steht auf. »Sie irren sich. So weit würde ich niemals gehen. Im Gegensatz zu Ihnen habe ich ein Gewissen!«

Sie greift nach dem Mantel, während ich gerne noch länger geblieben wäre. Für mich ist noch nicht alles gesagt.

»Haben Sie Maurizio denn niemals zur Rede gestellt?«, frage ich. »Hat Sie denn nie interessiert, was mit der wahren Alessandra passiert ist? Mit Ihrer Enkelin?«

»Es war ein tragischer Unfall. Auf dem Weg nach Kreta kamen sie in einen Sturm. Der Schlagbaum traf das Kind unglücklich am Kopf und spülte sie von Bord. Aufgrund der Wetterverhältnisse war es unmöglich, die Leiche zu bergen. Maurizio hat mir ein paar Monate vor seinem Tod die ganze Wahrheit gebeichtet.«

»Sie wurde in Kreta an Land gespült, falls es Sie interessiert.« Eva spuckt ihr die Worte nahezu ins Gesicht. »Und ich sollte sie als mein Kind identifizieren! Jetzt will ich nichts mehr hören! Sie widern mich an! Mein Mann hatte recht: Ich hätte nie herkommen sollen!«

Evas aufgestaute Wut entlädt sich. Die Fäuste geballt, stürzt sie aus dem Wintergarten zurück ins Foyer. Trotz allen Verständnisses für ihren Hass bleibe ich stehen und reiche Renata Ferraro die Hand. Sie hat immerhin aus freien Stücken das Gespräch mit uns gesucht.

»Danke, dass Sie uns die letzten offenen Fragen beantwortet haben. Trotzdem war es falsch, nichts zu unternehmen.«

»Das können Sie mir gerne vorwerfen, aber warten Sie ab, bis Sie eigene Kinder haben. Dann werden Sie mich verstehen.« Renata Ferraro greift erneut in ihre Tasche und drückt mir ein großes Kuvert in die Hand.

»Was ist das?«, erkundige ich mich skeptisch. Der Briefumschlag ist nicht beschriftet. Dem Umfang nach befinden sich Dokumente in seinem Inneren.

»Mein Testament. Mein Sohn und meine Enkelin sind tot. Viel vom Vermögen der Ferraros ist nicht mehr übrig. Ich habe Lisa Dahlen als Haupterbin eingesetzt. Sie ist nicht meine leibliche Enkelin, aber sehen Sie es als einen vagen Versuch, zumindest einen Teil der Schuld zu tilgen. Nach meinem Tod wird sich mein Anwalt bei Ihrer Familie bezüglich der weiteren Abwicklung melden.«

Ich stecke schweigend das Kuvert ein und verabschiede mich mit einem kurzen Nicken.

*

Eva wartet am Geländer der terrassenartig angelegten Einfahrt zum Spital und starrt auf den See, über dem noch immer der Nebel hängt. Es ist absolut windstill. Eine fast gespenstische Atmosphäre. Ich stelle mich zu ihr.

»Und?«, fragt sie nach einer Weile, den Blick immer noch auf die Nebelsuppe vor uns gerichtet.

»Nichts«, sage ich und strecke ihr das Kuvert entgegen. »Nichts, außer dass Lisa bald Erbin sein wird.« Ich kann nicht anders, als Stimme und Akzent der alten Dame zu imitieren: »Viel ist es nicht mehr. Maurizio hat durch die Weltreise das meiste verprasst. Ich besitze nur noch ein paar Immobilien in Italien und der Schweiz, dazu etwas Schmuck und Aktien. «

Meine kleine Showeinlage verfehlt nicht ihr Ziel. Eva lacht. Dann wird sie wieder ernst. »Wir brauchen ihr Geld nicht!«

»Aber vielleicht Lisa. Wer weiß, was sie mal studieren wird. Vielleicht etwas ähnlich Sinnloses wie ich. Dann ist sie um jeden Cent dankbar, denn einen Job wird sie eh nie kriegen.«

»Ach, Lea.« Eva legt mir die Hand auf die Schultern. »Ehrlich gesagt, im Moment würde mir schon reichen, wenn sie irgendwann überhaupt einen Abschluss schafft. An so etwas wie ein Studium will ich da gar nicht denken.«

Um Lisas Konzentration ist es noch immer schlecht bestellt, auch wenn sie den Schulalltag inzwischen zähneknirschend in Kauf nimmt.

Unwillkürlich muss ich lächeln.

»Weißt du, was toll ist? Dass du keine anderen Sorgen hast, außer, ob Lisa jemals einen Schulabschluss schafft. Wer hätte das noch vor einem Jahr gedacht?«

Eva lächelt ebenfalls, erst verhalten, dann so sehr, dass es ein Grinsen und das Grinsen zu einem Lachen wird. Es ist so ansteckend, dass ich schließlich mitlache. So stehen wir im aufsteigenden Nebel des Lago Maggiore, im Hintergrund die Klinik, die aussieht wie ein Hotel, und biegen uns vor Lachen, bis wir beide Tränen in den Augen haben.

*

Am frühen Nachmittag lichtet sich der Nebel. Unser Flug zurück geht erst am nächsten Morgen; es bleibt also noch etwas Zeit für einen Bummel durch Locarno.

Irgendetwas hat sich bei mir verändert. Plötzlich will ich nicht mehr nur Jeans, Pulli und Turnschuhe tragen. An diesem Nachmittag merke ich, dass mir auch Röcke und Kleider stehen. Als mich Eva schließlich sogar noch in ein Schuhgeschäft schleppt, leiste ich keinen Widerstand. Mit prall gefüllten Einkaufstüten und dem Gefühl, dass wir einen richtig tollen Nachmittag verbracht haben, kehren wir ins Hotel zurück.

Eva wirkt so lebendig wie schon lange nicht mehr. Es ist, als wäre sämtlicher Ballast schlagartig von ihr abgefallen – als hätte Renata Ferraro etwas bewegt, was selbst Irmgard als Psychotherapeutin nicht gelungen ist: Eva hat die Türe zur Vergangenheit endlich geschlossen und schaut mit Zuversicht nach vorn.

Ich mache mich gerade frisch für unser Abendessen, als ihr Handy klingelt. Ich höre, wie sie meinem Vater von unserem Besuch bei Renata Ferraro berichtet. Sie telefonieren ziemlich lange, und das, ohne in ihr übliches Gezicke und Gezanke zu verfallen. Im Gegenteil: am Ende haucht Eva sogar einen Kuss durch die Leitung. Ich kann es kaum glauben.

Dann telefoniert sie noch mit Lisa. Die spricht so laut, dass ich ihr aufgeregtes Geplapper hören kann.

»Was machen die beiden?«, erkundige ich mich, kaum dass Eva aufgelegt hat.

»Dieter ist mit ihr nach der Schule ins IMAX-Kino gegangen, dann waren sie Pizza essen. Jetzt sind sie zu Hause und er macht ihr Schokopudding.«

»Lustig. Dasselbe Programm hat er mit mir abgezogen, wenn du außer Haus warst.«

»Pizza und Schokopudding?« Eva runzelt die Stirn. »Im Ernst? – Ich war oft bei Dreharbeiten oder im Sender! Jetzt wird mir bewusst, wie ungesund du in dieser Zeit gelebt hast!«

»Und trotzdem bin ich groß und stark geworden«, scherze ich zurück.

»Na ja. Groß?«

Wir stehen nebeneinander. Trotz meiner neuen Schuhe mit Absatz überragt mich Eva um gut zehn Zentimeter. Lachend gehen wir ins Restaurant.

Unser Tisch liegt in einer ruhigen Nische. Im Hintergrund spielt leise Jazzmusik; das Licht ist gedämmt. Für ein Hotelrestaurant ist das Ambiente mehr als zufriedenstellend. Der Ober kommt zügig und drängt uns einen Aperitif, der als Drink des Tages angepriesen wird, regelrecht auf.

Eva ist so guter Stimmung, dass ich mit mir kämpfe, ob ich das sensible Thema, das seit einer Weile in mir arbeitet, überhaupt ansprechen soll. Doch wenn nicht jetzt, wann dann? – Den optimalen Zeitpunkt gibt es vermutlich nie.

»Ich muss dir was sagen«, beginne ich zaghaft, kaum, dass unser Getränk serviert wurde. »Es geht um etwas … das mein Leben verändern wird.«

Eva verschluckt sich an ihrem Aperitif. Während sie in ihre Serviette hüstelt, sieht sie mich aus weit aufgerissenen Augen an.

»Ich dachte, du nimmst die Pille!«

»Mensch, Eva!« Ich rolle mit den Augen. »Nein, du wirst so schnell nicht Oma! Keine Sorge! Es geht ums Studium.« Ich hole tief Luft. Dann spreche ich es aus. »Du hattest recht mit Publizistik. Es ist nicht vergleichbar mit der Journalistenschule. Jetzt stehe ich schon kurz vorm Bachelor, habe aber den Eindruck, eigentlich noch nichts gelernt zu haben.«

Eva sieht mich offen an.

»Du wirst schon was finden. Es wird sicher zäh, aber irgendetwas bietet sich immer. Ich kann versuchen, alte Kontakte zu aktivieren. Die sind zwar alle in Deutschland, können dir aber sicher zumindest irgendwo ein Praktikum ermöglichen. Und wenn du erst mal eines in der Tasche hast, wird es auch in Österreich leichter, im Journalismus Fuß zu fassen.«

Ich rechne es ihr hoch an, was sie für mich tun will. Dass sie mir zudem selbst einen Aufenthalt in Deutschland – weg von zu Hause – vorschlägt, gibt mir Hoffnung. Doch erst gilt es, ihr Plan B bezüglich meiner beruflichen Laufbahn näherzubringen.

»Ich will gar nicht mehr Journalistin werden oder irgendetwas anderes im Medienbereich arbeiten. Ich glaube inzwischen, ich bin dafür nicht geeignet.«

»Und was willst du stattdessen?«

»Das, was Jakob macht«, erwidere ich – und ernte einen skeptischen Blick. »Mit Kindern oder Jugendlichen arbeiten. Das würde mir Spaß machen.«

Ich verstehe, warum sie skeptisch ist.

»Nicht weil Jakob das tut«, stelle ich entschieden klar. »Es ist richtig, dass ich ohne ihn gar nicht auf so etwas gekommen wäre. Aber ich will es machen, weil es mich wirklich interessiert. Und weil ich glaube, dass ich mich ganz gut in Kinder und Jugendliche hineinversetzen kann, die es gerade nicht leicht haben.«

Eva nickt nachdenklich. »Hast du mit deinem Vater schon darüber gesprochen?«

Ich schlucke. Genau das ist der Knackpunkt. »Nein. Du weißt ja, er hält nichts davon, Dinge nicht zu Ende zu bringen. Und vermutlich hält er von einer Ausbildung zur Sozialpädagogin noch weniger, weil man da nicht reich werden kann.« Ich schiebe meinen Worten ein schiefes Lächeln hinterher, sehe Eva hoffnungsvoll an.

»Oh.« Jetzt hat sie kapiert, worum es geht. »Und jetzt soll ich mit ihm reden und ihn von deinen Plänen überzeugen?«

Ich nicke. »Tust du’s?«

Sie hebt die Augenbrauen, atmet tief durch. »Von mir aus. Wenn du glaubst, dass genau ich die Person bin, auf die er hört?«

»Mehr als auf mich!«, erkläre ich im Brustton der Überzeugung. »Dich nimmt er zumindest ernst!«

»Nun ja. Darüber lässt sich diskutieren.« Ein kurzer Schatten fällt über ihr Gesicht. Genau in diesem Augenblick kommt glücklicherweise der Ober und nimmt unsere Bestellung auf.

»Na dann.« Eva strafft die Schultern. »Sonst noch etwas, was ich für dich regeln soll?«

»Nein. Das war’s.«

»Gut.« Sie lächelt mich an. »Aber selbst, wenn du schwanger gewesen wärst, hätte ich auf deiner Seite gestanden.« Ihr Gesicht wird ernst. »Denn in einem hat Renata Ferraro recht: Eine Mutter hält immer zu ihrem Kind.«

Tränen schießen mir in die Augen, als mir bewusst wird, was sie mir damit offenbart. Dass sie mich nie als etwas anderes betrachtet hat. Dass all meine Eifersucht unbegründet war, meine Annahmen, dass sie nur Lisa liebt, nichts weiter als die Komplexe eines Teenagers, der an vielen Fronten zu kämpfen hatte. Mangels Taschentuch presse ich mir die Serviette auf die Augen.

»Vor einiger Zeit hast du gesagt, ich will nicht, dass du mich Mama nennst«, fährt Eva nun leise fort. »Ich habe darauf nichts erwidert. Aber ich weiß, du hast mein Schweigen völlig missverstanden. Du denkst, es ist, weil ich dich nicht so liebe wie Lisa. Aber das stimmt nicht, Lea. Der einzige Grund, warum du mich Eva nennst, ist der, dass ich dir das Andenken an Esther erhalten wollte. Ich wollte deine echte Mutter nicht in deiner Erinnerung auslöschen und mich an ihre Stelle setzen.«

Meine Tränen machen die Serviette ganz nass. Meine Schultern beben jetzt. Ich bin froh, dass das Restaurant nur dünn besetzt ist. Niemand außer Eva bekommt mit, dass ich weine.

»Aber ich habe ja keine Erinnerung! Du bist die einzige Mama, die ich kenne!«

Jetzt glitzern auch in Evas Augen Tränen.

»Entschuldige. Ich war wirklich … blöd.« Sie drückt meine Hand. »Das ist mir inzwischen klar geworden. Wenn du also lieber Mama zu mir sagen willst, dann tu das. Aber vielleicht ist es dir ja inzwischen zu kindisch.«

»Nein!« Ich lege die Serviette zur Seite und werfe mich in ihre Arme. Aufgewühlt halten wir uns eine ganze Weile eng umklammert und lösen uns erst wieder voneinander, als der Ober mit dem Essen kommt.

Es ist ein sehr emotionaler Abend, an dem wir noch viel lachen und auch weinen, aber später im Hotelzimmer.

»In all den Jahren wäre ich ohne dich völlig vor die Hunde gegangen«, sagt Eva. »Du warst der Mensch, der mich am Leben erhalten hat, für den ich weiterhin da sein musste. Nur das hat mich daran gehindert, mich einfach irgendwo von der Brücke zu stürzen oder noch mehr Schlafmittel zu nehmen.«

Ich erzähle ihr an diesem Abend von der Nacht, in der ich Sex in Oma Bettys Bett hatte. Und von Matteo, der mir noch ein Jahr nach unserem Intermezzo blöde WhatsApp-Nachrichten schrieb, in denen er mir erklärte, er habe nur aus Mitleid mit mir geschlafen. Ich sei fad und frigide und sowieso nicht als Freundin in Frage gekommen, usw. Dass ich ihm seine Doppelgleisigkeit mit Viola vorgehalten und weitere Dates ausgeschlossen hatte, war ihm wohl allzu sehr an die Nieren gegangen. Ich wusste das, doch seine Beleidigungen trafen mich dennoch.

Eva ist sehr bestürzt, nicht nur, weil es passiert ist, sondern in erster Linie, weil sie nichts davon mitbekommen hat. Wir schlafen in dieser Nacht ein mit der Gewissheit, dass in der Zukunft Vertrauen zwischen uns herrschen soll.