Ein Kind in Genua

21. März 2018

Mein einundzwanzigster Geburtstag: Eva hatte zwar nicht für mich gebacken wie früher, aber ein Stück Torte gekauft. Ich aß es mit Todesverachtung, weil mir die Himbeer-Sahne-Creme zu süß war. Immerhin hatte sie an Geburtstagskuchen gedacht.

Eva saß mir am Esstisch gegenüber, den Kopf in die Hand gestützt, und sah mir zu. In der Mitte des Tisches brannte eine einzelne, rote Kerze. Ähnlich wie die, die Leute an Allerheiligen auf Gräber stellen.

Es war still im Wohnzimmer. Seit Eva die Terrassentür geschlossen und die Frühlingssonne ausgesperrt hatte, hörten wir nicht einmal mehr den Rasenmäher von Müllners nebenan.

Mein Vater hatte angekündigt, dass er mich abends in Wien zum Essen ausführen wollte. Ich wusste aus den Vorjahren, wie diese Treffen abliefen: Er hetzte aus dem Büro, kam meistens zu spät ins Restaurant, in dem ich zwischen Anzugträgern und ihren strahlend schönen Begleiterinnen wie ein Fremdkörper saß, und suchte hastig irgendetwas von der Speisekarte aus, was ihm dann nicht schmeckte. Nebenbei machte er belanglosen Smalltalk und war mit den Gedanken erst bei der Sache, wenn es um mein Studium ging, das sich von Semester zu Semester ohne nennenswerte Fortschritte in die Länge zog. Der Abend endete meist damit, dass er mir vorhielt, faul zu sein. Ich kämpfte dann noch wochenlang mit dem Gefühl, eine Versagerin zu sein, und konnte seine verletzenden Worte erst mit der Zeit zur Seite schieben. Für dieses Jahr wünschte ich mir, dass er mich einfach in Ruhe ließ und meinen Geburtstag im Bestfall sogar vergaß.

Im Vergleich dazu war Evas Schweigen eine Wohltat. Sie nörgelte nie wegen meines Studiums, kritisierte nichts, nahm nie zu etwas Stellung. Manchmal kam es mir vor, als lebte ich mit einem Geist unter einem Dach. Ich sah sie nicht einmal mehr weinen. Oder essen. Oder ihre Tabletten schlucken.

Wenn ich von der Uni heimkam, saß sie meistens nur reglos auf dem Sofa. Panisch wurde sie nur, wenn ich mich verspätete. Dann griff sie zum Handy und löcherte mich, wo ich stecke. Da ich meine Versuche, ein Sozialleben aufzubauen, endgültig aufgegeben hatte, war dies sowieso nur dann der Fall, wenn die S-Bahn Verspätung hatte.

Im Grunde vermisste ich nichts. Die Sicherheit unserer vier Wände war mir inzwischen wertvoller, als kümmerliche Versuche zu starten, mit meinen Kommilitonen ins Gespräch zu kommen. Auf Partys zu gehen oder zu anderen Treffen, war sowieso nicht ohne größere Vorab-Diskussionen mit Eva über das Risikopotenzial möglich. Welchen Sinn hatte es also, Kontakte zu knüpfen?

Und was Männer betraf: Seit meinem Reinfall mit Matteo hatte ich die Nase voll von sämtlichen Vertretern dieser Spezies. Die Schmäh-Nachrichten, mit denen er mich über WhatsApp, SMS und Messenger in den Monaten nach unserem »Date« bombardiert hatte, waren voller Beleidigungen. Es tat weh, was er schrieb, wenn auch aus billiger Rache.

Lieber blieb ich künftig allein.

Vielleicht würde ich mir irgendwann eine Katze anschaffen.

»Vielleicht sollte ich wirklich aufhören zu hoffen.«

Evas Satz, ausgesprochen mit absoluter Sachlichkeit, riss mich aus meinen Gedanken.

Ich wollte ihr schon zustimmen, doch eine innere Stimme warnte mich davor, nicht denselben Fehler zu machen wie mein Vater. Bisher war Eva immer auf die Barrikaden gegangen, wenn er aussprach, was er dachte: dass Lisa tot war.

»Wieso sagst du das?«, erkundigte ich mich vorsichtig.

»Weil mich alle für verrückt halten. Sogar viele der Eltern, mit denen ich über diese internationale Selbsthilfegruppe gelegentlich noch Kontakt halte, denken, dass es sinnlos ist, noch an Lisas Rückkehr zu glauben. Es ist schon zu lange her.«

Ich schwieg. Der viele Zucker in der Sahnetorte machte nicht nur meinen Mund klebrig, sondern lähmte offenbar auch meinen Verstand. Was sollte ich dazu sagen?

»Vielleicht war diese Wahrsagerin damals wirklich eine Betrügerin«, überlegte Eva laut. »Ich meine«, sie stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus und griff sich an die Stirn, »wer glaubt denn schon an so etwas? Tarotkarten legen? Schwingungen? Wenn mir das jemand vor sieben Jahren erklärt hätte, wäre ich in schallendes Gelächter ausgebrochen. Und da klammere ich mich an solchen Hokuspokus wie an einen Rettungsanker!«

»Na ja.« Ich hob die Schultern. »Wenn du keine überzeugte Atheistin wärst, gingest du wahrscheinlich auch öfter in die Kirche. Man braucht halt eine Art Glauben, um nicht den Verstand zu verlieren.«

Sogar in meinen eigenen Ohren hörte sich meine Aussage viel zu diplomatisch an.

*

Ich hatte Glück: mein Vater rief zwei Stunden später an und erzählte mir von irgendeinem Manager-Meeting in Bukarest, das seine Firma spontan einberufen hatte und bei dem er unmöglich fehlen konnte. Im Hintergrund hörte ich bereits die Lautsprecheransagen am Flughafen.

»Wir werden einfach nachfeiern«, versicherte er, während er hörbar zum Boarding hastete. »Versprochen!«

Es klang für mich fast wie eine Drohung.

Tage und Wochen vergingen. Mein Vater vergaß zum Glück sein Versprechen und ich mein Gespräch mit Eva. Wir lebten weiterhin so dahin: sie in ihrer Passivität und Lethargie, ich mit meinen einzigen Freunden, den Büchern.

In der Nacht vom 21. auf den 22. Mai schlich sich Lisa in meine wirren Träume: In der Unibibliothek hielt ich Ausschau nach einem Platz, an dem ich mich niederlassen konnte, um meine Seminararbeit vorzubereiten. Endlich entdeckte ich einen freien Tisch. Ich hatte das erste entliehene Buch bereits aufgeschlagen und meinen Notizblock gezückt, als mir auffiel, dass mich meine Tischnachbarin aufmerksam ansah.

»Lea? Bist du’s?«, sagte sie.

Ich sah in ihr Gesicht und erschrak: Die Frau neben mir sah aus wie eine sehr junge Eva. Überrascht wollte ich ihren Namen sagen, doch da fiel mein Blick auf das sichelförmige Muttermal auf ihrer Schulter.

In meinem Traum hob mich das Wiedersehen nicht aus den Angeln. Wir begrüßten uns, als hätten wir uns erst am Vortag voneinander verabschiedet. Dann gingen wir zum Strand.

Plötzlich war Lisa wieder klein, spielte mit ihrer roten Gießkanne und meinen Flamingo-Flipflops, quengelte, weil sie ein Eis haben wollte. Ich fühlte in dieser Scheinwelt, in die mich mein Schlaf entführte, dasselbe wie damals: Eifersucht. Ärger. Wut auf die kleine Nervensäge, die einfach keine Ruhe gab.

Doch die Lisa in meinem Traum lief mir nicht nach zum Hotel. Sie ging alleine los. Zum Abschied sagte sie: »Ich werde jetzt lange auf dem Meer sein. Und wenn ich zurückkomme, bin ich fast erwachsen, und du wirst mich so vermisst haben, dass ich dich nie mehr nerven kann!«

Da wachte ich auf. Mein Herz schlug bis zum Hals. Schweiß saß auf meiner Haut; mein Schlafanzug war ganz verschwitzt. Ich wechselte ihn und trat ans Fenster. Ruhelos starrte ich in die sternenklare Nacht.

Noch nie zuvor hatte ich so intensiv von Lisa geträumt. In diesem Moment fühlte ich tiefstes Verständnis für meine Stiefmutter, die nur ein Zimmer weiter im Bett lag, sich vermutlich wie jede Nacht von einer Seite auf die andere warf, während sie sich den Kopf zerbrach, wo ihr Kind wohl stecken mochte.

Und wie ich so am Fenster stand, erfüllt von Empathie und gleichzeitig in innerer Aufruhr, gesellte sich ein drittes Gefühl hinzu: die Gewissheit, dass Lisa in diesem Moment irgendwo ebenfalls am Fenster stand und genauso wie ich die Sterne betrachtete, das Herz voll unbeantworteter Fragen.

*

»Lea. Leaaa! Lea, endlich, du bist da!«

Eva empfing mich bereits an der Haustür. Ihre Stimme klang schrill. Rote Flecken zeichneten sich auf ihrer Haut ab. Ihr Atem ging schnell, die Augen waren weit aufgerissen.

Es war gegen drei Uhr nachmittags, ich kam frisch von der Uni und rechnete angesichts ihres aufgelösten Erscheinungsbildes mit dem Schlimmsten. Irgendetwas musste in diesen viereinhalb Stunden, in denen ich fort gewesen war, passiert sein.

»Lisa?«, presste ich hervor.

Eva nickte. Sie zog mich am Jackenärmel ins Haus und schloss die Türe hinter uns.

Natürlich Lisa. Was sonst?

Was war es nun wieder? Eine Leiche? Oder ein armes, gequältes Mädchen in einem Kinderporno? Wohin würde sie diesmal in aller Eile reisen?

»Die Frau vom Innenministerium hat angerufen. Die, die mit Europol in Verbindung steht«, stieß Eva hervor. »Ein Mädchen ist in Genua aufgetaucht, hat sie gesagt. Die italienischen Behörden gehen davon aus, dass es sich um Lisa handelt!«

Überrollt von den Informationen, starrte ich Eva nur skeptisch an, während sie bereits nachschob: »Lea! Die haben gesagt, eine Verwechslung sei nahezu ausgeschlossen! Angeblich sieht sie mir total ähnlich, und das Muttermal hat sie auch! Diesmal ist sie es!«

Ich konnte nur hoffen, dass die italienischen Behörden recht hatten. Eva würde nicht mehr viele Enttäuschungen verkraften.

»Heißt das, du fliegst?«, fragte ich vorsichtig, obwohl ich die Antwort schon kannte.

Mein Vater weilte derzeit in New York, unabkömmlich wie immer. Andererseits konnte er ja auch nicht in Mödling hocken und tagein, tagaus darauf warten, dass irgendjemand anrief, weil irgendwo ein Kind aufgetaucht war.

»Wir fliegen nach Genua«, ließ Eva mich entschieden wissen. »Du und ich. Morgen früh!«

Eigentlich sollte ich da ein Referat im Seminar über die ersten Zeitungen Europas halten. Ich hatte den Termin schon zweimal verschoben und die Nachsicht des alten Professors zu schätzen gelernt. Wenn ich die dritte Chance versemmelte, konnte ich diese ETCS-Punkte wohl endgültig abschreiben.

Andererseits: Was, wenn es sich diesmal wirklich um Lisa handelte? Unwillkürlich dachte ich an meinen Traum zurück.

Eva deutete mein Zögern falsch. »Keine Leiche, Lea! Sie ist quicklebendig!« Sie nahm meine Hand. Die sanfte Geste ließ mich mein Referat völlig vergessen. Schon lange hatte sie mich nicht mehr berührt. »Bitte, lass mich nicht allein. Flieg mit! Ich brauche dich an meiner Seite.«

Am nächsten Vormittag stiegen wir gemeinsam in Genua aus dem Flieger und nahmen ein Taxi zu dem Amtsgebäude, in das man uns bestellt hatte – um kurz darauf zu wissen, dass unser Alptraum nach sechs Jahren, neun Monaten und sechs Tagen ein Ende gefunden hatte.