Neue Perspektiven
19. Januar – 23. Mai 2019
»Jetzt komm schon, du verfrorenes Suppenhuhn!« Ich stoße Lisa, die mit verschränkten Armen an der Terrassentüre steht und missmutig in den verschneiten Garten schaut, den Ellbogen in die Rippen. »Zieh deine Jacke an und wir gehen nach draußen! Du wirst sehen, Schlittenfahren macht Spaß!«
Den Satz »Früher hast du das geliebt« verkneife ich mir lieber. Bisher gab es von Lisas Seite keinerlei Anzeichen, dass sie sich erinnert oder erinnern will.
»Neiiiiiin.« Lisa windet sich. »Es regnet!«
Ihr Deutsch hat große Fortschritte gemacht seit dem Abend, an dem Jakob das erste Mal hier war und sie sich dazu gezwungen sah, in ihrer Muttersprache zu sprechen. Auch wir sind viel konsequenter als früher.
Lisa lernt anders Deutsch als Kinder, die keine Grundlage haben. Mir kommt es vor, als seien Grammatik und Wortschatz in den Tiefen ihres Unterbewusstseins abgelagert und müssten nur nach und nach aktiviert werden. Gelegentlich greift sie jedoch mit einem Ausdruck daneben.
»Es schneit«, kommentiere ich die dicken Flocken, die vom Himmel fallen. »Komm! Stell dich nicht so an! Ich bin extra aus Wien hergekommen, um mit dir Schlitten zu fahren!«
»Ich bin nicht stupida!« Lisa schüttelt entrüstet den Kopf. »Jakob muss arbeiten, deshalb bist du da! Sonst bist du fast nie mehr hier.« Es klingt vorwurfsvoll.
Immerhin vermisst sie mich. Und das, wo ich nicht einmal wirklich ausgezogen bin. Das gibt mir fast schon Genugtuung, denn seit ein paar Wochen gibt sich Lisa in jeder Lebenslage total cool. Ermahnungen pariert sie mit schnippischen Antworten; Türen fliegen scheppernd, und irgendwelche Bands, die keiner von uns je zuvor gehört hat, dröhnen durchs Haus.
Damit, dass Lisa uns noch immer nicht als ihre Familie akzeptieren will, hat das nichts zu tun. Es ist einfach nur so, dass sie quasi über Nacht vom aufmüpfigen Kind zum pubertierenden Teenie wurde. Sie ist gewachsen, inzwischen fast so groß wie ich. Unter ihren engen Pullis und Shirts zeichnet sich sogar schon ein kleiner Busen ab, den sie stolz zur Schau trägt.
Auch, wenn sie uns gegenüber nicht müde wird zu behaupten, wie blöd die Burschen in ihrer Klasse doch allesamt wären, hat ein gewisser Max es ihr doch angetan. Während ich in ihrem Alter an sowas wie Liebe oder Sex noch gar nicht gedacht hatte, schreibt Lisa ihm, aber auch anderen Zettel, auf denen Fragen gekritzelt sind wie »Willst du mit mir gehen? O Ja O Nein (bitte ankreuzen)« oder »Do you have experience in French kissing?«
Da ich keine englischsprachige Privatschule besuchte, musste ich »French kissing« erst einmal nachschlagen und brauchte dann einen Moment, um zu verkraften, dass diese Babys über Zungenküsse reden!
An die Zettel bin ich nur gekommen, weil sie Lisa aus der Jackentasche fielen. Sie wurde richtig giftig, als ich sie aufhob, und ließ mir nicht die Zeit, noch alle anderen Botschaften zu studieren. Dass ihr Schwarm Max heißt, weiß ich, weil ihr der Name schon ein paarmal herausgerutscht ist und sie dann immer rot wird.
Lisa ist dabei, eine echte Schönheit zu werden, und sie ist sich dessen voll und ganz bewusst. Da besteht für mich kein Zweifel. Ihre Gestik, ihre Mimik, ihr Lächeln – alles wird inzwischen von dieser gewissen Koketterie begleitet, um die ich die hippen Mädchen aus meiner Klasse immer beneidet habe.
Meinen Eltern ist der Wandel auch schon aufgefallen. Die erwartete Bestürzung blieb aus. Seit unserem Aufenthalt in der Schweiz ist Eva ein anderer Mensch geworden. Wenn ich sage, sie ist wieder wie früher, wäre das nicht ganz korrekt. Denn die Eva von früher war immer unzufrieden und unsicher, ob sie den Erwartungen anderer entsprach, und richtete ihren Ehrgeiz auf Sachen, die sie eigentlich gar nicht glücklich machten.
Die neue Eva dagegen wirkt mit sich in einer Weise im Reinen, die ich nicht für möglich gehalten habe. Sie hat ein paar Kilo zugenommen, was ihr steht und sie in der Hektik, die sie manchmal an den Tag legte, offensichtlich entschleunigt. Statt Lisa zwangszubespaßen, in der Vergangenheit zu schwelgen oder die Superhausfrau zu spielen, widmet sie sich nun Tag für Tag einem neuen Projekt, das ihr Freude macht: Noch vor Weihnachten hat sie damit begonnen, einen Roman zu schreiben. Es geht um eine Familie, deren Sohn bei einem Stadtspaziergang entführt wird und die alles tut, um ihn wiederzufinden. Das Ende ihrer angeblich fiktiven Geschichte, deren autobiographische Züge selbst für Blinde erkennbar sind, will sie nicht verraten …
Papa ist nach Weihnachten wieder bei uns eingezogen, auch wenn er die Dienstwohnung nicht kündigt. Erst dachte ich, er wolle sich einen Unterschlupf sichern, wenn es mit Eva schiefging. Dann aber begriff ich, dass er die Wohnung als Rückzugsort zum Arbeiten behält, wenn Lisa es allzu wild treibt und ihre Anlage aufdreht. Sich zurückzuziehen, fällt ihm offensichtlich leichter, als ihr gegenüber ein Machtwort zu sprechen.
Dass er und Eva wieder miteinander schlafen, weiß ich von meiner naseweisen Schwester, der anscheinend nichts verborgen bleibt. Zumindest nichts, was mit Sex zu tun hat. Das ist ein Thema, das sie im Übrigen sehr zu beschäftigen scheint. Wenn ich nach ihr den Computer benutze, sehe ich, dass sie keineswegs die behaupteten »Sachen für die Schule« gegoogelt hat, sondern auf Seiten herumsurfte, in denen Pubertierende ihre »First Love«-Problematiken durchdiskutierten. Nach kurzem Überfliegen einiger Postings nahm ich mir vor, mit Lisa gelegentlich in Ruhe darüber zu sprechen, dass Analsex nicht zum normalen Repertoire gehört.
»Seid ihr noch immer nicht draußen?« Eva kommt in die Küche, um Teewasser aufzusetzen.
»Lisa will nicht.«
Ich klinge wie eine Petze, was meine Schwester prompt dazu bewegt, mir ihrerseits den Ellbogen in die Seite zu stoßen.
»Au!«, quietsche ich, denn im Gegensatz zu mir legt sie in Sachen Krafteinsatz keine Zurückhaltung an den Tag.
»Mensch, Lisa! Seit Freitagnachmittag warst du nicht mehr an der frischen Luft!« Eva seufzt. »Das ist echt nicht gesund! Komm, geh mit Lea raus. Und wenn es nur für eine Stunde ist!«
Es tut gut, aus ihrem Mund zu hören, dass wir etwas unternehmen sollen. Ohne sie, ohne genau zu sagen, wohin wir gehen. Vor einem halben Jahr wäre dies noch undenkbar gewesen.
Übellaunig folgt mir Lisa in die Garderobe.
Ich will ihr gerade die Jacke reichen, als mir auffällt, wie dünn diese doch ist.
»Hast du keinen Anorak?«
Lisa zuckt mit den Schultern. »Mama will mit mir einen kaufen. Wir haben das dann«, sie sucht nach den richtigen Worten, wählt die einfachste Variante, »vergessen. Oder so.«
Kein Wunder, dass sie draußen immer friert, denke ich und hänge die Softshelljacke zurück an den Haken.
»Oben im Speicher ist noch ein alter Anorak von mir. Der ist zwar nicht sehr hübsch, aber auf jeden Fall wärmer.«
Unser Dachboden ist so niedrig, dass nicht einmal ich dort aufrecht stehen kann, und nur mit einer in der Decke verankerten Leiter begehbar. Da ich nicht besonders wild darauf bin, dort herumzukriechen, schicke ich Lisa hinauf und gebe ihr mit auf den Weg, wo sich der Karton mit den alten Klamotten befinden muss. Bald schon höre ich sie oberhalb von mir poltern und Dinge verschieben.
Plötzlich wird es still.
In der Annahme, dass sie die Kiste gefunden hat, warte ich geduldig ab. Doch Lisa kommt nicht. Und es bleibt still. Eigenartig still.
»Lisa?«
Keine Reaktion.
»Hast du den Anorak gefunden?«
Kein Laut.
Mit einem leisen Seufzer erklimme ich die Leiter. Ich stehe auf einer der oberen Sprossen, als ich sie sehe: Sie sitzt reglos vor einer offenen Kiste, den Blick auf etwas gerichtet, was in ihrem Schoß ruht. Als ich erkenne, um was es sich handelt, bin ich ganz schnell oben. Ich knie mich neben sie, nehme meine alten Flipflops mit den Flamingos an mich, von deren Existenz ich nicht einmal mehr wusste. Sie sieht mich an, die Augen voller Tränen.
Ein einziger Blick, der mir verrät, dass sie sich erinnert: an den Tag am Strand, an unseren kleinen Disput wegen der Schuhe, an die Frau, die sie auf offener Straße entführte und sie in den Jahren danach zu ihrer Tochter machte.
»Lisa …«, ich will ihr die Hand auf die Schulter legen. Doch sie drängt sich an mir vorbei und klettert eilig die Leiter nach unten. Als schließlich auch ich unten ankomme, sehe ich nur noch, wie die Tür zum Kinderzimmer zugeht. Ein paar Sekunden später lässt laute Musik das Haus erzittern.
»Wolltet ihr nicht rausgehen?«, höre ich Eva von unten rufen. »Ich will eigentlich schreiben!«
Sie tut sich schwer, den Lärm zu übertönen.
»Gleich!«, brülle ich durch das Stiegenhaus. »Ich muss nur noch was regeln!«
Was und wie, weiß ich selbst nicht ganz, als ich planlos Lisas Zimmer betrete und als erstes die Anlage leiser stelle. Meine Schwester liegt auf dem Bett und starrt an die Zimmerdecke.
Als ich mich neben sie setzen will, macht sie überraschend Platz und rückt zur Wand. Ich lege mich neben sie, streichle ihre noch tränenfeuchte Wange.
»Willst du es mir erzählen?«, frage ich leise.
»Was?«
»Alles. Wir kennen die Geschichte inzwischen von so vielen Seiten: von der Polizei. Aus Sicht der Medien. Sogar mit deiner … nun ja … Großmutter haben wir gesprochen. Aber was ich noch immer nicht weiß, ist, wie du das Ganze erlebt hast. Erinnern kannst du dich ja offenbar wieder, oder?«
Lisa antwortet nicht sofort.
»Nicht alles«, sagt sie dann dumpf. »Aber die Schuhe. Ich habe Wasser darüber gemacht. Mit eine rote … annaffiatoio. Du warst böse auf mich.«
»Ich war böse auf die ganze Welt«, stelle ich klar. »Nicht nur auf dich.«
»Ich wollte mit dir kommen.«
»Ich wusste nicht, dass du mir nachläufst.«
»Ich stand auf diese Straße. Hab dich nicht mehr gesehen. Da hatte ich Angst. La mamma mi ha trovato.«
Dann hat ihre Mama sie gefunden. Ich weiß, dass sie jetzt nicht von Eva spricht.
»Sie war zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht deine Mama«, werfe ich ein. »Du kanntest sie gar nicht!« Auch wenn ich ihr keinen Vorwurf machen will, so klingt meine Stimme leider danach. In Lisas Augen glitzern erneut Tränen.
»Ho avuto paura! Non ti ho più vista!«, wiederholt sie. »Sono stata sola per tutto quel tempo, und du … warst weg!«
»Was hat die Frau gemacht? – Ich weiß, dass sie an diesem Minimarkt stand …«
Sonia Ferraro hat ihr ein Cola gekauft, sie an der Hand genommen und ist mit ihr weggegangen.
»Aber warum bist du mit ihr mitgegangen?« Ich begreife es noch immer nicht. »Du kannst sie doch überhaupt nicht.«
»Mi ha comprato una Coca-Cola«, wiederholt Lisa mit starrem Gesichtsausdruck. »Tutto qui.«
Tutto qui. Die Geschichte einer Entführung. Wenig spektakulär und ohne Gewalteinwirkung.
»Und dann?«
Sie hat keine Ahnung. Auch wenn Lisa noch immer meinen Blick meidet, will ich ihr glauben. Sie war vier Jahre alt. Unmöglich, dass sie alles im Gedächtnis behalten hat, was dann geschah. Sicher dagegen, dass sie uns allmählich vergessen hatte. Etwas aber lässt mir dennoch keine Ruhe.
»Dein Fotoalbum«, sage ich. »Das, das du mir auf der Sea Star gezeigt hast. Ich habe dich neben ihnen auf den Fotos gesehen. Ist dir später eigentlich nie aufgefallen, dass du keinem von beiden ähnlich siehst? Sonia … war ein ganz anderer Typ!«
Jetzt dreht sie den Kopf zu mir.
»Ho sempre saputo di essere differente dagli altri!« Sie sei sich immer darüber bewusst gewesen, anders zu sein. Sie wusste, dass etwas nicht stimmt, aber ihr fehlte die Erinnerung.
Plötzlich habe ich den Eindruck, mit einer Erwachsenen zu sprechen, nicht mit einem Kind. Auch wenn sie unser Dialog sichtlich aufwühlt, klingt keiner ihrer Sätze unüberlegt. Ich zweifle keine Sekunde daran, dass sie sich tatsächlich viele Male den Kopf darüber zerbrochen hat, was an ihrem Leben nicht ganz im Lot ist, während sie von den Wellen in ihrer kleinen Kabine auf der Sea Star in den Schlaf geschaukelt wurde.
»Als wir uns in Italien das erste Mal sahen, da hast du nicht mehr gewusst, wer wir sind …«
Meine Feststellung zieht einen geräuschvollen Schnaufer ihrerseits nach sich. »Non prendermi per stupida!«
Sie wusste also sofort, wer wir sind! »Aber …«, beginne ich überrascht, mich an ihre abwehrende Haltung erinnernd.
»Io non ho chiesto niente di tutto questo!«, kommt es prompt zurück. Sie hat um all das nicht gebeten. »Voglio una vita normale!«
Trotz der Ernsthaftigkeit unseres Gesprächs muss ich schmunzeln. »Und was ist das genau, deiner Ansicht nach? Ein Leben auf einem Schiff? Ohne Schule? Ohne Freunde? Immer wieder irgendwo anders? Heute hier, morgen dort, übermorgen am Ende der Welt?«
Ihre Antwort kommt ohne zu zögern.
»Voglio vivere al mare. Ich will leben am Meer! Und ich geh nicht raus per quella neve schifosa! Wenn ich schaue in den Garten, mir ist schon kalt!«
Wie um mir zu beweisen, wie ernst es ihr ist, wühlt sie sich jetzt unter die Bettdecke und zieht sie sich bis zum Kinn.
»Okay. Dann mache ich uns einen Kakao, und wir können für den Rest des Tages in deinem Bett herumkugeln und diese schreckliche Musik hören. Zufrieden?«
»No!« Lisa springt aus dem Bett, plötzlich wieder voller Elan und ohne den Schwermut der vergangenen Minuten. »Ho un’idea migliore: andiamo a guardare la TV! Papa hat mich aufgenommen neue Germany’s Next Topmodel!«
Das Grauen vor dem, was mir in den nächsten neunzig Minuten bevorsteht, lässt mich über Lisas Grammatikfehler geflissentlich hinwegsehen.
*
Der Winter vergeht, und mit ihm die dreizehnte Staffel jener makabren Volksbelustigung, die durch Lisa Einzug in mein Leben erhalten hat. Lisa sieht sich als Anwärterin für Staffel siebzehn bis achtzehn und übt in unserem Wohnzimmer regelmäßig den Catwalk – in Evas High Heels, die ihr nach dem letzten Wachstumsschub fast schon passen. Jakob lässt keine Gelegenheit aus, um sie wegen ihrer Modelattitüden aufzuziehen. Papa schießt Fotos mit dem Handy, wenn Lisa als künftiger Superstar in Evas Klamotten posiert, was ihren Ehrgeiz zusätzlich befeuert. Eva tut das Ganze als Phase ab, und ich wundere mich, wo das kleine Mädchen geblieben ist, das null Interesse hatte, neu eingekleidet zu werden.
Anfang März tippt Eva das Wort »Ende« unter ihr fast vierhundert Seiten langes Skript über den entführten Jungen, der, ganz wie von mir erwartet, in den Schoß der Familie zurückkehrt. Schon Ende April hat sie die Zusage von einem Verlag, der das Buch herausbringen will und mit ihr eine mehrwöchige Lesetour plant. Eva schwebt wie auf Wolken, organisiert und plant.
Ich verbringe inzwischen so viel Zeit bei Jakob, dass ich mir in meinem Elternhaus nur noch wie ein Gast vorkomme. Überhaupt ist hier inzwischen alles anders geworden: Die Türen stehen offen, wir haben viel Besuch. Lisa schleppt immer wieder neue Leute aus ihrer Schule an. Auch der Kontakt zur Nachbarschaft ist inzwischen enger. Neulich haben meine Eltern mit den Wintersteigers von nebenan doch tatsächlich abends zusammengesessen und Wein getrunken.
Für die Sommerferien ist Lisa am Neusiedler See zum Segelkurs angemeldet. Diesmal soll kein gebrochener Arm das Vorhaben zerstören. Während sie in aufgeregter Vorfreude badet, mache ich den Bachelor in Publizistik. Die vielen Semester sollen nicht ganz umsonst sein. Das sieht nicht nur mein Vater so, der meinen Studienwechsel dank Evas sorgsamer Vorbereitung relativ gelassen hingenommen hat, sondern auch ich selbst. Am Tag meiner letzten Prüfung bewerbe ich mich an der Fachakademie für Sozialpädagogik. Zwei Wochen später habe ich die Zusage und bin außer mir vor Freude.
Alles ist gut.
Alles ist normal.
So, wie es sein soll, denke ich, als ich eines Nachmittags von der Bushaltestelle kommend in unsere Gasse einbiege. Jakob muss spontan für einen erkrankten Kollegen die Nachtschicht übernehmen. Eine gute Gelegenheit, mich mal wieder daheim blicken zu lassen. Dass Papas Dienstwagen vor der Tür steht, macht mich stutzig: Warum ist er schon so früh daheim?
Stille schlägt mir entgegen, als ich das Haus betrete – ungewöhnlich, seit Lisa ihre Vorliebe für Musik entdeckt hat. Dann höre ich aus dem Wohnbereich gedämpfte Stimmen.
»… nicht damit gerechnet.« Eva klingt resigniert. »Es lief doch recht gut so, wie es war.«
»Vertraglich sind mir die Hände gebunden. Die können quasi machen, was sie wollen. Lehne ich ab, bin ich weg vom Fenster.«
Ich weiß nicht, wovon Papa spricht, aber Begeisterung hört sich anders an. Eine Weile scheinen sie sich anzuschweigen. Ich presse mein Ohr gegen die Tür, um mehr herauszufinden.
»Ich könnte alles hinschmeißen«, sagt Papa jetzt. »Mir etwas Neues suchen.« Als Eva nichts erwidert, fügt er hinzu: »Leicht wird es sicher nicht. Ich war viel zu lange bei ein und derselben Firma. Die Headhunter werden sich nicht gerade um mich reißen. Und wenn doch, bin ich mit meiner langjährigen Osteuropa-Erfahrung wahrscheinlich nur für dieses Feld interessant.«
»Du willst das Angebot annehmen«, stellt Eva sachlich fest. »Sag es doch gleich und erspare uns allen dieses Herumeiern!«
»Ja, aber –«, beginnt mein Vater, doch sie lässt ihn nicht zu Wort kommen. Ihre Stimme verrät, dass sie bereit ist, die fragile Beziehung endgültig zerbrechen zu lassen: »So, wie ich das sehe, gibt es da nur ja oder nein. Ohne aber. Wenn du nach Costa Rica gehen willst, werde ich dich nicht aufhalten!«
Costa Rica?! Wie bitte?! Bei mir schrillen sämtliche Alarmglocken. Warum sollte Papa nach Südamerika wollen?
Das Idyll der langersehnten Normalität – meine ganze Familie vereint – zerfällt in tausend Stücke.
Beherzt trete ich ein.
»Lea!«
Sie zucken zusammen wie Kinder, die bei einer konspirativen Verschwörung erwischt worden sind. Eva lehnt am Küchenkasten, Papa steht an der kleinen Frühstückstheke.
Lisa, die bisher keinen Mucks von sich gegeben hat, kauert mit ernster Miene auf dem Sofa und hat das Gespräch offenbar von Anfang an aufmerksam verfolgt.
»Was ist das mit Costa Rica?«, frage ich mit belegter Stimme. »Schickt dich deine Firma etwa dorthin?«
»Noch ist nichts entschieden«, erwidert Papa, macht dabei aber ein Gesicht wie jemand, der sich dafür schämt, dass ihm die Sache im Grunde gefällt.
Eva legt mir den Arm um die Schultern, zieht mich zu sich heran.
»Alles gut, Lea. Selbst wenn dein Vater die Position als Geschäftsführer der Niederlassung in Costa Rica annimmt, wird sich wenig ändern. Lisa und ich bleiben ja hier in Mödling.«
Alles gut? Nichts ist gut! Es ist ein Alptraum! Costa Rica, das ist keine Dienstwohnung im 8. Bezirk. Costa Rica ist das Aus. Meine Familie zerfällt erneut, und ich kann nichts dagegen tun. Tränen schießen mir in die Augen.
»Du kämest also wirklich nicht mit?« Papa begreift anscheinend erst jetzt den Ernst der Lage: Ginge er nach Südamerika, wäre es das Ende seiner Ehe.
Eva sieht ihn einfach nur an – verwirrt, wie mir vorkommt.
Was haben die beiden eigentlich diskutiert, wenn nicht darüber, wie es mit ihnen als Paar weitergehen soll?
»Dieter! Du hast bis jetzt mit keiner Silbe gesagt, dass es dir wichtig ist, ob ich mitkomme!« Sie wirkt fassungslos. »Du redest die ganze Zeit nur davon, dass Costa Rica eine Chance für dich ist, und schiebst Panik, dass es dich die Karriere kostet, wenn du ablehnst! Davon, dass ich, dass wir dabei irgendeine Rolle spielen, war gar keine Rede!«
»Herrgott!« Papa schlägt mit der flachen Hand auf die Theke. »Warum machst du eigentlich alles so kompliziert? Worum, glaubst du, geht es denn die ganze Zeit? Warum diskutiere ich das denn hier? Natürlich geht es um uns. Wenn du denkst, dass dieser Job in Costa Rica unsere Familie zerstört, dann sage ich ihn natürlich ab, hoffe auf einen Golden Handshake und mache hier den Hausmann! Und sobald dein Buch ein Erfolg ist, versuche ich mich als dein Manager … ich werde deine Talkshowauftritte koordinieren, Lesungen organisieren, mich um die Verfilmung kümmern …«
In die Ernsthaftigkeit, mit der Papa seine kleine Ansprache begann, hat sich ein leicht ironischer Unterton geschlichen. Eva steht mit verschränkten Armen da und muss ungewollt grinsen.
»Ach, Dieter! Als ob du irgendeine Ahnung von PR hättest! Und wenn du den Hausmann gibst, kriegt Lisa wahrscheinlich über Wochen nur Schokopudding und Fertigpizza, so wie Lea damals, als ich noch fürs Fernsehen unterwegs war.«
»Ich suche ja nur nach Lösungen.« Papa dreht die Handflächen nach oben. »Aber«, er atmet tief durch, ringt mit sich, »irgendwas wird sich schon finden. Mit zweiundfünfzig ist man ja im besten Alter für neue Herausforderungen, oder?«
Eva sagt nichts. Sie hält die Arme noch immer vor der Brust verschränkt. Vielleicht ist es der weiblichen Solidarität geschuldet, dass ich im Gegensatz zu Papa genau weiß, worauf sie wartet.
»Jedenfalls … also klar gehe ich nicht nach Südamerika, wenn ihr das nicht wollt. Ihr seid mir wichtiger als jeder Job.« Langsam folgt Papa der Spur der Kekskrümel, die zu der Tür führen, die Eva zu öffnen bereit ist. »Wenn ihr … wenn du«, hilflos sucht er ihren Blick, »weiterhin … also …«
Er räuspert sich, sieht zur Seite. Selbst mir ist sein Gestammel allmählich peinlich. Kann er nicht einfach sagen, was er will? Endlich strafft er die Schultern. »Ich war mir nicht sicher, ob wir noch eine Ehe führen«, sagt er aufrichtig. »Oder ob es sich nur so … ergeben hat, wie es im Moment ist. Daher habe ich nicht gedacht, dass es dir noch wichtig wäre, ob ich da bin.«
Oh je. Fremdschämen bekommt eine neue Dimension.
Sogar Lisa auf dem Sofa stößt einen gequälten Seufzer aus.
Es ist Eva, die dem Ganzen ein Ende macht. Sie geht auf Papa zu, schlingt die Arme um ihn und gibt ihm einen Kuss, den er nach kurzem Stutzen gerne erwidert. Es ist das erste Mal seit sehr, sehr langer Zeit, dass ich die beiden sich küssen sehe.
»Igitt, finito!«, ertönt es gequält aus dem Hintergrund. Und dann, als die beiden die Umarmung lösen: »Allora, wir gehen jetzt alle nach Costa Rica? Wann?«
Lisa sieht aus, als würde nur ein einziges Fingerschnippen genügen, um sie sofort die Umzugskisten packen zu lassen.
»So schnell geht das nun auch wieder nicht«, bremst Eva sie. »Wir müssten ja erst checken, ob es da entsprechende Schulen gibt, und Lea will ja eine Ausbildung machen … und dann müssten wir erst mal Spanisch lernen.«
Costa Rica. Spanisch lernen. Ich? Moment mal!
Ich öffne den Mund, um zu protestieren, doch da springt Lisa vom Sofa und tanzt übermütig durchs Zimmer.
»Costa Rica, Costa Rica! È bellissima!«
Vor ein paar Jahren war sie mal dort und findet das Land wunderschön … Sie hält kurz in ihrem Tanz inne und strahlt uns an. »Alla fine, ich werde wieder am Meer leben! Sono una donna che viene dai tropici, ich mag nicht Kälte und Schnee!«
Gerade hat es draußen über zwanzig Grad, aber die Erinnerung an den Winter, den sie tatsächlich meist frierend im Haus verbracht hat, sitzt offensichtlich tief.
»Ein Haus am Meer«, schwärmt Lisa weiter. »Mit ein Segelboot und ein Hund!«
»Einem Hund?« Eva runzelt die Stirn. Dieser Wunsch ist ihr genauso neu wie mir. Papa lacht und klopft ihr auf die Schulter.
»Mal langsam, Mausi. Es ist frühestens im September so weit. Bis dahin müssen wir noch vieles regeln. Und deine Mutter hat völlig recht: Spanisch solltet ihr lernen, auch wenn du dort sicher eine amerikanische oder deutschsprachige Schule besuchen wirst!« Er wendet sich an Eva. »Und der Lesetour für dein Buch soll ja auch nichts im Wege stehen. Von San José aus wäre das sicher schwieriger zu managen!«
Es scheint, als sei ihm eine Zentnerlast von den Schultern genommen. Eva hatte recht mit ihrer Einschätzung: Er sieht in der Position, die ihm da mit Nachdruck angeboten wurde, einen finalen Karrieresprung und zugleich eine Art Fluchtweg, um endlich seinem Arbeitsschwerpunkt Osteuropa zu entkommen. Papa ist gerne nach Kroatien, Slowenien, Tschechien und in die Slowakei gereist. Mit den Geschäftspartnern in Russland, Georgien oder Kasachstan hatte er jedoch so seine Probleme. Was er jahrelang in sich hineingefressen hatte, wurde in den vergangenen Monaten umso deutlicher, wenn er schon mit grimmiger Miene am Frühstückstisch saß und auf Evas Nachfrage irgendwann herausließ, wie sehr ihn der aggressive Tonfall in den Verhandlungen belastete.
Eva wirkt entspannt und auch geschmeichelt. Damit, dass Papa noch einmal ausdrücklich die geplante Lesetour erwähnte und ihre Anliegen nicht seinen unterordnete, hat er eindeutig Bonuspunkte gesammelt.
Nur ich stehe noch immer da wie vom Donner gerührt, während ich gleichzeitig das Gefühl habe, dass mir ganz langsam der Boden unter den Füßen weggezogen wird.
Nichts ist gut.
Nichts ist normal.
Die Familie zerbricht.
Trotzdem, es führt kein Weg daran vorbei, ich muss es sagen. Jetzt oder nie.
»Ich gehe nicht nach Costa Rica.«
»Was?« Papa, der gerade dabei war, sich ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen, fährt herum. Lisas Augen werden groß.
»Du willst nicht?«, fragt Eva bestürzt, doch ohne Vorwurf. »Wegen Jakob?«
Natürlich ist meine Liebe zu Jakob ein gewaltiger Grund, der gegen Costa Rica spricht. Doch das allein ist es nicht.
»Auch. Aber ich will hier an der FH meine Ausbildung machen. Ich habe hier jetzt Freunde, fühle mich wohl. Ich will nicht in einem Land wohnen, wo ich Angst haben muss, nach zehn Uhr alleine auf die Straße zu gehen.«
»Hey, die Costa Ricaner zählen sogar zu den glücklichsten Menschen der Welt! Costa Rica ist Südamerikas Vorzeigeland! Statt ins Militär hat die Regierung in den Naturschutz investiert. Und die Analphabetenquote gehört zu den niedrigsten der Region. Natürlich gibt es auch da ein paar No-Go-Areas und Verhaltensregeln, die man beachten sollte, aber es ist bei weitem nicht so gefährlich wie Kolumbien oder Nicaragua!«
Papa klingt schon wie Costa Ricas Tourismusminister. Es ist wieder einmal Eva, die genau hingehört hat, was ich gesagt habe.
»Du hast recht, Lea: Es würde einen großen Einschnitt bedeuten in alles, was dir wichtig geworden ist. Ich kann verstehen, wenn du andere Pläne hast.«
Sie nimmt meine Hand und drückt sie liebevoll.
»Du hast so viele Jahre Rücksicht genommen auf uns und immer wieder zurückgesteckt. Wenn du nicht mitwillst, werden wir eine andere Lösung finden. Letztendlich ist so eine Expat-Stelle ja nur für maximal vier Jahre gedacht, wenn ich richtig verstanden habe?«
Sie sieht Papa abwartend an. Der nickt – um jedoch gleich im Brustton der Überzeugung zu ergänzen: »Aber vier Jahre sind mir trotzdem zu lange, um sie ohne meine Frau und meine Kinder zu verbringen. Lea! Wir lassen dich ganz sicher nicht zurück!«
»Ganz sicher nicht!«, bekräftigt Lisa, ehe ich etwas erwidern kann. Sie schlingt beide Arme um mich und mir fällt unwillkürlich auf, dass sie schon wieder gewachsen ist. Inzwischen überragt sie mich bereits um ein paar Zentimeter. »Lieber ich friere weiter im Schnee, als du bleibst alleine!«
Eigentlich will ich klarstellen, dass ich erwachsen und in der Lage bin, eigene Wege zu gehen, doch ich sehe in ihre Gesichter und bringe keinen Ton über die Lippen. Sie stehen felsenfest hinter dem, was sie da sagen. Jeder ist bereit, seine eigenen Pläne zurückzustellen. Einzig und allein wegen mir!
Diese Erkenntnis frisst sich in mein Herz und treibt mir erneut die Tränen in die Augen. Diesmal kann ich sie nicht zurückhalten.
*
»Costa Rica«, sagt Jakob am anderen Ende der Leitung, und es klingt aus seinem Mund wie die Aussicht auf ein einzigartiges Abenteuer. »Cool! Da wollte ich schon immer mal hin.«
»Aber ich nicht.« Ich liege im Bett, das Handy an meine tränennasse Wange gepresst, und fühle mich elend. Dass meine Familie wegen mir auf ihre Träume verzichtet, will ich auf keinen Fall. Dass sie wegziehen, allerdings auch nicht. Von Jakob fühle ich mich jetzt obendrein unverstanden. »Ich will da nicht wohnen!«, stelle ich klar und klinge ein bisschen wie Lisa, wenn sie eine trotzige Phase hat.
Jakob stutzt kurz.
»Wer redet denn von wohnen?«, hakt er nach. »Ich spreche von Urlaub machen. Ist doch toll, wenn wir dort eine Anlaufstelle hätten! Wir können uns bei deiner Family einquartieren und das Land zeigen lassen und müssen nur die Flüge zahlen. Auf diese Weise können wir das vielleicht auch zweimal im Jahr machen!«
Wir scheinen uns in zwei verschiedenen Universen zu bewegen. Er kapiert wirklich nicht, worum es geht.
»Papa will da nur hin, wenn die ganze Familie mitgeht«, präzisiere ich. »Und momentan scheitern seine Pläne an meinem Widerstand. Eva und Lisa gingen ja mit, aber sie und Papa wollen mich auf keinen Fall hier allein zurücklassen.«
»Aber das ist doch lächerlich!« Jakob lacht. »Na klar nimmt er die Stelle an! Logo gehen Eva und Lisa mit! Und natürlich bleibst du hier! Lea …« Ich kann hören, wie Jakob tief ein- und dann wieder ausatmet. »Erstens: du bist zweiundzwanzig. Erwachsen. Zweitens: du bist doch gar nicht alleine. Es gibt mich. Schon vergessen?«
»Ja, aber … wenn du es dir anders überlegst?«, wende ich zaghaft ein und verstehe selbst nicht, warum ich auf einmal so unsicher bin. Ich liebe Jakob und habe keinen Grund daran zu zweifeln, dass er mich auch liebt. Trotzdem, wir sind noch kein Jahr zusammen. Kann man da wirklich schon so tiefe Versprechungen machen wie Ich bin für dich da?
»Ich habe in letzter Zeit viel über uns nachgedacht«, sagt Jakob, und nur die Heiterkeit in seiner Stimme bewahrt mich davor, in Panik auszubrechen. »Und ich finde, es ist sowieso längst an der Zeit, was zu ändern.« Er senkt die Stimme. »Eigentlich wollte ich das in Ruhe besprechen und nicht am Telefon im Nachtdienst, aber egal: Nellie will im Sommer ausziehen. Ihr Zimmer wird also frei. Und ich dachte mir, es wäre einfach wunderbar, wenn du stattdessen bei mir wohnst. Willst du?«
Einen Moment lang bin ich nur perplex. Er will mit mir zusammenziehen? Andererseits – eigentlich wohne ich inzwischen sowieso mehr bei ihm als in Mödling. Im Grunde haben wir nichts zu verlieren.
»Also … was hältst du davon?«
Jakob wartet noch immer auf eine Antwort. Und ich gebe sie ihm nur allzu gerne.
»Ja, ich will!« Kaum ausgesprochen, muss ich lachen. Jakob stimmt in mein Gelächter ein.
Als ich aufgelegt habe, weine ich trotzdem noch ein bisschen in mein Kissen. Morgen werde ich meine Familie überreden, ohne mich nach Südamerika zu gehen. Aber schon heute weiß ich, wie sehr sie mir fehlen werden.
Vielleicht wird Papa nur ein paar Jahre in Costa Rica sein. Doch wenn sie zurückkommen, ist Lisa erwachsen. Und wieder werde ich entscheidende Jahre verpasst haben.
Als ich zum Handy greife, um ein letztes Gute-Nacht-SMS an Jakob zu schicken, sehe ich das Datum auf dem Display.
Es ist der dreiundzwanzigste Mai.
Plötzlich erfüllt mich ein tiefgehendes Gefühl von Frieden und Ruhe. Ein ganzes Jahr lang konnte ich meine Schwester um mich haben, mit ihr gemeinsam die Gitter eines unsichtbaren Gefängnisses sprengen, Grenzen überschreiten, unsere Welt ändern und Neues entdecken. Ein ganzes Jahr lang haben wir uns gegenseitig unterstützt, gelacht und geweint.
Wir sind beide nicht mehr dieselben. Es ist an der Zeit, neue Wege zu gehen.
Wohin auch immer sie uns führen werden, tief in meinem Herzen weiß ich: Wir werden uns nie verlieren.