Sechs Jahre, neun Monate
und sechs Tage

23. Mai 2018

Lisa trägt Shorts und ein billiges grünes Trägerhemd mit Mickymaus-Aufdruck. Sie sitzt auf einem Holzstuhl, die Hände vor der Brust verschränkt, und starrt uns aus kalten, blauen Augen unverwandt an. Mit diesem Blick, dem ovalen Gesicht und seinen weichen, kindlichen Zügen sieht sie aus wie das sehr junge Ebenbild von Eva. Sie ist schlank, feingliedrig und relativ groß für eine Elfjährige. Das blonde Haar fällt ihr offen und in leichten Wellen über die Schultern.

Auch Eva hat ihr Haar lang getragen, damals, als Papa, Lisa, sie und ich noch eine Familie waren. Sechs Jahre, neun Monate und sechs Tage hat Eva darauf gewartet, dass ihre Tochter wiedergefunden wird. All diese zermürbenden Jahre über hat sie die Hoffnung nicht aufgegeben. Ganz im Gegensatz zu meinem Vater, der Lisa gedanklich längst begraben hatte. Während er sich nur mehr auf seine Karriere konzentrierte, hat meine Stiefmutter Eva allein der feste Glaube an ein Wiedersehen davon abgehalten, sich ihrer Verzweiflung völlig zu ergeben.

Jetzt steht Eva angespannt neben mir. Trotz der hohen Absätze wirkt sie wie ein Sprinter am Start. Ihre Augen sind starr auf das Mädchen gerichtet. Da ich dicht neben ihr stehe, kann ich ihre Nervosität fühlen. Sie wartet auf das Zeichen, auf irgendeine Anweisung, eine Reaktion.

Doch nichts passiert.

Die zwei italienischen Polizeibeamten in Zivil scheinen angesichts der Szene, die sich ihnen in diesem Genueser Büro bietet, überfordert. Auf der einen Seite die elegante Frau Mitte vierzig, die ein geblümtes Sommerkleid trägt und mit leicht zitternden Händen das Ende ihres Chiffonschals knetet – auf der anderen dieses Mädchen, das ihr so frappierend ähnlich sieht und unruhig auf dem Stuhl herumrutscht. Es fühlt sich sichtlich unwohl und schaut Eva an wie eine Fremde, von der es nichts Gutes erwartet.

»Lisa … Liebling«, bricht es nun aus Eva hervor. Sie macht einen schüchternen Schritt auf das Mädchen zu. Feindseligkeit flackert im Blick der Kleinen auf. Wie angewurzelt bleibt Eva stehen. Hilflos sieht sie mich an, als erwarte sie von mir eine Lösung. Ich wünsche mir in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als dass mein Vater bald zu uns stößt. Natürlich hatten wir ihn sofort benachrichtigt, als das Amt anrief, bei der unser Fall aktenkundig ist.

Wie immer bei Anrufen dieser Art buchte Eva den schnellstmöglichen Flug. Und wie bei den Malen zuvor blockierte die Skepsis jede Erwartung in mir. Auch dieses Mädchen würde wieder nicht meine Schwester sein.

Vor rund einer Stunde sind wir in Genua gelandet und fuhren sofort auf das Inspektorat, zu dem man uns bestellt hatte. Mein Vater konnte seine Anreise nicht so zügig organisieren – als der Anruf kam, saß er gerade in einem internationalen Meeting in der Nähe von New York. Zudem rechnet sicherlich auch er diesmal wieder mit einer Enttäuschung.

Während er inzwischen bestenfalls im Flieger sitzt, weiß Eva bereits: Diesmal ist es wirklich Lisa. Sie weiß es. Das Mädchen dort auf dem Stuhl ist ihre Tochter und nicht irgendein anderes verschwundenes und wiedergefundenes Kind.

Eine Enttäuschung gibt es trotzdem: Lisa hat uns vergessen. Der Schock und die Desillusion, dass die Elfjährige nicht aufspringt und ihr vor Wiedersehensfreude um den Hals fällt, steht Eva ins Gesicht geschrieben. Sie sucht nach meiner Hand. Als sie mich berührt, fühle ich den kalten Schweiß auf ihrer Handfläche. Die naive Hoffnung, dass mein Vater in der nächsten Sekunde dieses Zimmer betritt, in dem die Luft trotz des leise surrenden Deckenventilators beinahe steht, wird drängender – auch wenn ich vor ein paar Wochen einundzwanzig geworden bin.

»Signora Dahlen, bitte kommen Sie nach nebenan.«

Das Deutsch des älteren der beiden Beamten ist gut, wenngleich er mit unverkennbar italienischem Akzent spricht. Tomaso Rossi. Ja, das war sein Name. Er macht eine ausladende Geste in Richtung des Nebenzimmers.

»Nein, nein!«

Panik flackert in Evas Augen auf. Ich kenne sie gut genug, um zu wissen, welche irrationale Furcht in ihr aufkeimt: Kaum hat sie Lisa gefunden, wird sie auch schon wieder von ihr getrennt! Sie kann in diesem Moment nicht klar denken, will die Ablehnung in den blauen Kinderaugen nicht wahrhaben. Eilig huscht sie hinüber, schlingt ihre Arme um das Mädchen und lässt einen heftigen Wortschwall auf es niederprasseln.

»Liebes, Lisa … mein Engel! Ich bin’s … Mama! … Mäuschen! Alles wird gut …«

»No!«

Eine Kinderhand fährt ihr ins Gesicht. Reflexartig weicht sie zurück, aber da haben die Fingernägel des Mädchens schon blutige Striemen an ihrer linken Wange hinterlassen. Tränen glitzern in Evas Augen, doch der Schmerz hat nichts mit den Kratzern zu tun. Ich sehe ihr an, dass sie versucht, ihn zu unterdrücken. Vor Fremden Emotionen zuzulassen, fällt ihr seit jeher schwer. Die Mutter mit dem Herz aus Eis, hatten die Medien sie deshalb zeitweise genannt.

Während Eva mit einem Taschentuch ihre Augen abtupft und Tomaso Rossi offenbar nach den richtigen Worten sucht, springt das Mädchen auf und rennt an uns vorbei zur Tür. Der jüngere Beamte begreift ihr Vorhaben, stellt sich ihr in den Weg. Er hält das Kind an den Schultern fest, während es heftig um sich schlägt und aufgebracht schreit.

Unser Italienisch ist alles andere als perfekt, reicht aber aus, um zu begreifen, dass das Mädchen weder Deutsch spricht noch irgendwelche Sympathien für uns hegt.

»Voglio andare dalla mia mamma!«, wiederholt die Kleine stetig, und allen in diesem Raum ist klar, dass damit nicht Eva gemeint ist. Sie ist die fremde Frau, die verschwinden soll.

Da verliert Eva die Fassung. Das Gesicht in den Händen verborgen, weint sie hemmungslos.

Das Mädchen hat sich auf den abgewetzten Linoleumboden sinken lassen und schluchzt ebenfalls herzzerreißend. Der zierliche Körper bebt. Ein Geräusch lässt meinen Blick zum offenen Fenster wandern. Eine Taube ist herangeflattert, stakst auf dürren Beinchen übers Fensterbrett und linst neugierig ins Zimmer. Tomaso Rossi macht einen Schritt in ihre Richtung und verscheucht sie mit einer radikalen Handbewegung.

Ich sehe sie davonfliegen und wäre gern an ihrer Stelle.

Dann spüre ich, dass Rossi mich ansieht, und ich hebe den Kopf. Zunächst will ich es gar nicht glauben, denn auf seinen breiten Lippen zeichnet sich ein Lächeln ab. Mitten in dieser todtraurigen Szene steht dieser italienische Beamte da und amüsiert sich! Als er meine Irritation bemerkt, deutet er mit dem Kinn zunächst auf die weinende Eva, dann auf das Kind.

»Sehen Sie.«

Und dann sehe ich es wirklich: Die Kleine hält ihr Gesicht in derselben Art und Weise vergraben wie Eva – mit grotesk abgewinkelten, schlanken Fingern. Meine letzten Zweifel treten den Rückzug an. Es ist Lisa. Muss Lisa sein. Nach sechs Jahren, vier Monaten und dreiundzwanzig Tagen ist sie wieder da.

Ich sollte glücklich sein.

Doch stattdessen fühle ich nichts außer Leere.

*

Die dunklen Augenringe meines Vaters verraten mir, dass er auf der mehrstündigen Flugreise von New York nach Genua nicht geschlafen hat. Einmal hat er umsteigen müssen, mit zwei Stunden Aufenthalt. Er wirkt erschöpft und angespannt, strahlt weder Hoffnung noch Freude aus, allenfalls diese resignierte Gleichgültigkeit, die ihm seit Jahren wie ein Schatten folgt.

Ein flaches »Hallo« kommt ihm dabei über die Lippen, als er sich mit Trolley und Laptoptasche an mir vorbei in die Suite des Altstadt-Hotels drängt. »Wo ist Eva?«

Er stellt das Gepäck auf dem Parkettboden ab und entledigt sich seines dunklen Sakkos. Achtlos wirft er es über die Lehne des ausladenden Polstersessels im Wohnbereich der Suite.

»Eva liegt nebenan im Bett«, kläre ich ihn auf, als er sich suchend umblickt – fast so, als vermute er sie unter dem Ledersofa oder hinter der altmodischen Stehlampe. »Sie hat Schlafmittel genommen. Ich glaube nicht, dass …«

»Also wieder ein Fehlschlag«, zieht mein Vater seine eigenen Schlussfolgerungen. Er sinkt in das Sofa. Sein hellblaues Hemd hat Schweißflecken. Während er die Krawatte lockert, fährt er mit unüberhörbarem Sarkasmus fort: »Ist ja alles kein Problem. So ein Vertriebsmeeting mit hundertfünfzig Topmanagern ist ja nicht so wichtig, das kann jederzeit neu organisiert werden. Und es macht ja auch den besten Eindruck, wenn man ständig wegen irgendwelchem Familienkram fehlt!«

Er hätte mich ausreden lassen sollen. Dann wüsste er jetzt, dass es Lisa ist! Dass Eva diesmal nicht aus Gewohnheit ihre Schlaftabletten eingeworfen hat, sondern weil in ihr die Ungeduld tobt! Sie will ihr Kind mitnehmen, jetzt und sofort, und hält es kaum aus, dass man ihr genau dies untersagt hat.

Ich könnte ihm ein Foto seiner Tochter zeigen und von dem Gespräch mit der Dame von der Kriseninterventionsstelle berichten, die von den italienischen Behörden zur Betreuung unseres Falles hinzugezogen wurde. Doch so sitzt der Mann, der früher mit uns Sandburgen gebaut hat und ausgelassen in einem Baumhaus herumgetobt ist, mit grimmigem Gesichtsausdruck vor mir und ist gedanklich noch immer bei seinem Meeting.

»Wegen nichts breche ich also diese Konferenz ab und schicke die ganzen Topmanager nach Hause! Noch so eine Aktion, und der Konzern wird mich nach Kasachstan versetzen! Ich habe eure Hirngespinste allmählich satt«, sagt er schließlich, ohne mich anzusehen. »Lisa ist tot, begreift das doch endlich!«

Dass er mir nicht zuhört, kränkt mich. Noch schlimmer finde ich aber, dass er mich immerzu mit Eva in einen Topf wirft. Nur weil ich mich all die Jahre nicht hinter ihn gestellt und lautstark in die Welt hinausgeblasen habe, Lisa sei tot, sieht er mich automatisch auf Evas Seite.

»Papa, Lisa lebt! Diesmal ist sie es wirklich!«

Meine Stimme zittert leicht; ich weiß nicht einmal, wieso. Erst als ich mit der Hand durch meine störrischen Locken fahre, wird mir bewusst, wie nervös ich bin. Die Erlebnisse des Tages haben mich wohl doch mehr mitgenommen, als ich mir eingestehen will.

»Unsinn, Lea!« Mein Vater macht eine abfällige Handbewegung. »Woher wollt ihr das wissen? Gab es schon einen DNA-Test? Wenn nicht, interessiert es mich nicht. Dann sind das nichts als unbewiesene Behauptungen!«

»Der DNA-Test ist in Auswertung.« Ich stehe noch immer vor ihm und merke, wie abweisend er ist. »Aber glaube mir, auch ohne Test …«

»Ich will Tatsachen, bewiesene Tatsachen. Ich habe genug von allem anderen!« Sein Gesicht verfärbt sich. In letzter Zeit zeigt sich dieses ungesunde Rot sehr oft – wenn er einen seiner Mitarbeiter über das Telefon maßregelt, beispielsweise, oder wenn er an der Tankstelle warten muss.

»Ohne DNA-Test –«, setzt er erneut an und bricht ab, denn ich halte ihm das Foto unter die Nase, das die italienische Polizei von Lisa gemacht hat. Fassungslos starrt er das Bild an.

»Wo … wie … hat man sie gefunden?«

Seine Stimme klingt heiser. Langsam, ganz langsam, nimmt er den Blick von der Aufnahme und sieht mich an. Es kommt mir in diesem Moment vor, als würde er mich das erste Mal seit seiner Ankunft wirklich wahrnehmen.

»Es gab einen Autounfall auf einer Schnellstraße bei Genua. Eine Frau wurde dabei schwer verletzt. Über sie stieß man auf Lisa«, setzte ich ihn von dem in Kenntnis, was uns die italienische Polizei berichtet hatte. »Sie haben die Vermisstendatei durchsucht. Das Phantombild, wie Lisa jetzt aussehen könnte, hat es ziemlich genau getroffen. So kam der Stein ins Rollen.«

»Ist ihr … Ich meine, wurde sie … misshandelt?« Die Angst, dass Lisa Opfer eines Pädophilenrings geworden sein könnte, hat meine Eltern nie losgelassen.

»Nein, Papa. Es gibt keinen Hinweis darauf«, beruhige ich ihn. »Nichts Körperliches jedenfalls. Sie wirkt ganz normal … so, als wäre sie glücklich gewesen.«

»Glücklich?«

Ungläubigkeit und leichtes Entsetzen schlagen sich in seinen Gesichtszügen nieder. Er erhebt sich schwerfällig, geht zur Minibar. Mit einem Plop öffnet er eine Flasche Bier und kehrt damit zum Sofa zurück.

»Glücklich«, wiederholt er und nimmt einen tiefen Schluck. Dann stellt er sie abrupt auf den gläsernen Couchtisch. »Überhaupt – was ist das für eine unsinnige Geschichte? Eine Frau hatte einen Unfall, und über sie stieß man auf Lisa? Da fehlt jeder logische Zusammenhang!«

Bei seinem rüden Tonfall zucke ich unwillkürlich zusammen.

»Das war die Kurzversion«, verteidige ich mich und will zu einem längeren Bericht ansetzen, als sich die Türe zum Schlafzimmer öffnet. Eva kommt heraus, das Haar verdrückt, die Augen noch immer müde. Die langen, schlanken Beine unterm T-Shirt sind so blass wie das Gesicht. Seit Lisas Verschwinden hat sie immer die Sonne gemieden, fast so, als wolle sie sich die innere Kälte bewahren.

»Unser Kind ist wieder da«, sagt sie anstelle einer Begrüßung. Ein noch vom Schlafmittel sediertes Lächeln umspielt ihre schmalen Lippen.

Mein Vater erhebt sich, geht auf sie zu. Die beiden umarmen sich kurz. Das Küssen haben sie schon lange vor ihrer Trennung aufgegeben.

»Nun, hier im Hotel ist sie aber nicht. Wenn alles so eindeutig ist – warum, bitteschön, habt ihr sie nicht gleich mitgenommen?«

Evas Lächeln erlischt. Einen Moment lang fürchte ich, sie könnte wieder zu weinen anfangen, und verspüre den Drang, meinen Vater einfach an den Schultern zu packen und kräftig zu schütteln. Natürlich tue ich das nicht. Allein meine Statur – ich bin eins sechsundfünfzig groß und wiege siebenundvierzig Kilo – macht das unmöglich.

»Die wollen sie uns nicht mitgeben!«, platzt es währenddessen schon aus Eva heraus. »Sie sitzt in einem Kinderheim fest, und wir dürfen sie nur unter Aufsicht sehen!«

»Wie bitte?« Mein Vater runzelt die Stirn. »Da sollten wir besser gleich Harry einschalten.«

Schon zückt er das Handy. Ich höre, wie er Harald Zellweger, seinen Jugendfreund und Anwalt, über Lisas plötzliches Auftauchen informiert und um Beistand im Umgang mit den italienischen Behörden bittet. Danach informiert er Eva, wozu ihm Harry geraten hat.

Ich stehe dabei und komme mir wieder einmal vor wie eine Statistin. Warum fragt eigentlich nie jemand, was ich dazu meine? Ich gebe mir die Antwort selbst: weil ich quasi unsichtbar bin. Das war noch nie anders und wird sich auch nicht ändern.