Krisenintervention und andere Hindernisse

24. – 25. Mai 2018

Wir sitzen wieder in dem großen, schlicht möblierten Büro auf der Genueser Polizeibehörde, wo Eva und ich das erste Mal nach sechs Jahren, neun Monaten und sechs Tagen Lisa wiederbegegnet sind. Während ich am Vortag nur Augen für meine Schwester hatte, fallen mir heute Details des Raumes auf: der zerschlissene PVC-Boden, die vergilbten Wände, das verschrammte alte Mobiliar. Ich denke spontan an die Büros aus den Commissario-Brunetti-Filmen. Dieses hier kommt mir wie ein billiger, aber realistischer Abklatsch davon vor.

Auf einem der Schreibtische steht ein Computer – eindeutig nicht das neueste Modell, auf dem anderen sogar eine Schreibmaschine. Auf einem Sideboard ruht ein Faxgerät mit Papierrolle. Die Zeit scheint in dieser Behörde stehen geblieben zu sein.

Die Luft hier drinnen riecht abgestanden, obgleich das Fenster wie am Tag zuvor halb offen steht. Straßenlärm dringt gedämmt an unsere Ohren. Irgendwo hupt ein Auto.

Hinter dem dritten Schreibtisch vor einem Notebook, das in dieser Atmosphäre fast schon futuristisch wirkt, sitzt Rossi. Wir reihen uns davor auf wackeligen Plastikstühlen. Mein Vater hat kaum Platz genommen, da springt er auch schon wieder auf, lässt seinen Blick durch den Raum schweifen und sagt: »Wo ist meine Tochter? – Ich will Lisa sehen! Deshalb sind wir doch hier!« Seine straffen Schultern, sein vorgerecktes Kinn und die Hände, die er jetzt in die Hüften stemmt, sind mir unangenehm. Er führt sich auf, als wäre er hier der Chef und Rossi ein Mitarbeiter, dessen Arbeitsleistung hinkt.

Rossi lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Erst zwirbelt er seinen kleinen Schnurrbart, dann klopft er irgendetwas in die Tastatur seines Notebooks, wobei er meinen Vater völlig ignoriert. Lombardi, der jüngere Kollege, sitzt neben ihm und wirkt ratlos. Ich bin nicht sicher, ob er überhaupt Deutsch kann. Am Vortag hat er nur Italienisch gesprochen.

Eva berührt meinen Vater am Arm. Eine besänftigende Geste, die nicht ihre Wirkung verfehlt. Zwar schüttelt er ihre Hand ab wie ein lästiges Insekt, lässt sich aber erneut auf dem Plastikstuhl nieder.

Eva wirkt plötzlich wieder angespannt. Die gute Stimmung, die sie auf dem Weg ins Kommissariat begleitet hatte, ist verflogen. Ihr jetziger Zustand ist mir allerdings lieber als diese unfassbare Euphorie, die sie seit gestern vor sich hertrug.

Ich bezweifle, dass meine Schwester über Nacht der Blitz der Erkenntnis getroffen hat. Aus meiner Sicht gibt es keinen Grund, anderes zu erwarten. Die Jahre haben Lisas Erinnerung an uns ausgelöscht.

»Wo ist Lisa jetzt?«, drängt nun auch Eva, weil Rossi noch immer mit seinem Notebook beschäftigt ist.

»Alessandra Ferraro«, sagt er. Mehr nicht.

Stattdessen sieht er uns an, als müsse seine Aussage irgendetwas in uns bewirken.

Mein Vater hebt die Schultern.

»Alessandra … wer?«, fragt Eva schließlich verwirrt. »Sollten wir sie kennen?«

»Der Name Ihrer Tochter lautet Alessandra Ferraro«, klärt der Beamte uns auf. »Geboren am 24. Dezember 2005 in Genua.«

»Was soll der Unsinn?« Mein Vater klingt ungehalten. »Sie wissen, wie unsere Tochter heißt! Lisa Dah…«

»Es ist wichtig, dass Sie verstehen, wer dieses Kind jetzt ist«, fährt Rossi ihm hart ins Wort, ohne dabei jedoch seine stoische Gelassenheit zu verlieren. »Wer sie früher war, spielt kaum eine Rolle. Sie war vier Jahre alt, kann sich nicht erinnern. Ich habe Sie noch einmal hergebeten, damit Sie erfahren, wer Alessandra Ferraro ist – damit Sie eine Grundlage haben, um sie kennenzulernen.«

»Sie haben uns herbestellt, damit wir unser Kind abholen können«, hielt ihm mein Vater entgegen. »Ich habe nicht ewig Zeit! Ich habe einen vollen Terminkalender! Wenn ohnehin klar ist, dass es sich bei dem Mädchen um Lisa handelt, verstehe ich nicht, warum Sie uns unnötig aufhalten. Es ist höchste Zeit, dass Lisa nach Hause kommt zu ihrer Familie!«

Rossis verstecktes Schmunzeln entgeht mir nicht.

»Nach Hause«, wiederholt er mit seinem Akzent und schaut für ein paar Sekunden konzentriert in sein Notebook. »Also, Sie haben 2011 in München gewohnt, richtig? Aber jetzt sehe ich hier eine andere Adresse hinterlegt … Modling. Österreich. Richtig?«

»Ja, und? – Wir sind umgezogen.«

Lombardi macht eine kurze Bemerkung auf Italienisch, die Rossi gilt.

»Es gibt zwei Kontaktadressen, hat mich der Kollege informiert. Eine in Wien, die andere in Modling.«

Modling statt Mödling. Mit dem »ö« hat der Commissario Probleme; mit seinem Kombinationsvermögen jedoch nicht.

»Sie leben getrennt?«

Eva und mein Vater wechseln einen Blick. Sie wirken in diesem Moment wie ertappte Kinder. Dann greift mein Vater nach Evas Hand. »Nur vorübergehend«, sagt er und verschweigt, dass vorübergehend schon mehrere Jahre dauert. »Es ist jobbedingt«, fügt er hinzu. »Ich leite die österreichische Niederlassung eines Chemiekonzerns und bin auch noch für Osteuropa verantwortlich. Ich reise viel; brauche die Nähe zum Flughafen. Es ist sozusagen … meine Dienstwohnung.«

Ich kann nur hoffen, dass Rossi nicht weiß, wo der Flughafen Schwechat liegt – eine halbe Stunde Autofahrt von unserem Haus in Mödling entfernt, eine halbe Stunde Autofahrt von der angeblichen Dienstwohnung meines Vaters in Wien-Josefstadt.

»Hören Sie«, fährt Rossi mit schief gelegtem Kopf fort. »Es ist mir egal, ob sie beide zusammenwohnen oder getrennt, ob Sie vier Geliebte haben oder zwanzig oder zweihundert Mitarbeiter. Ich möchte nur, dass Sie sich der Realität stellen. Und die ist anders als vor fast sieben Jahren – für Sie, aber ganz besonders für Ihre Tochter. Und daher sollten Sie zuhören, was ich Ihnen über Alessandra zu sagen habe.«

»Woher wollen Sie eigentlich wissen, dass es sich wirklich um meine Tochter handelt?« Mein Vater gibt sich plötzlich angriffslustig. Es ist lange her, dass ihn jemand so unverblümt gemaßregelt hat. Er kann das nicht auf sich sitzen lassen. »Der DNA-Test liegt doch noch gar nicht vor!«

»Aber du hast sie doch gesehen. Auf diesem Foto …«

Eva sieht ihn ungläubig an.

»Wenn schon. Irgendein Mädchen, das dir ähnlich sieht.« Mein Vater lacht trocken. »Angeblich hat doch jeder fünf bis sechs Doppelgänger!«

»Das Ergebnis des DNA-Tests kommt spätestens morgen«, lässt uns Rossi unbeeindruckt wissen. »Sie hat dieses Muttermal an der Schulter, und das fehlende Puzzle-Teil sind die Umstände. Es passt alles zusammen.«

Dass Lisa ein kleines, sichelförmiges Muttermal hat, hatten wir damals zu Protokoll gegeben, als ihr Suchprofil bei Interpol angelegt wurde.

»Welche Umstände?«, will Eva wissen. »Ich dachte, Sie haben sie hier in Genua entdeckt …«

»Wir sind auf sie aufmerksam geworden, weil die Frau, die sie für ihre Mutter hält, einen Unfall hatte«, berichtet Rossi. »Das brachte den Stein ins Rollen. Das Jugendamt ist auf Ungereimtheiten gestoßen, und so sind wir ins Spiel gekommen.«

»Ich hoffe, Sie haben diese Frau gleich verhaftet«, bemerkt mein Vater trocken. »Der soll schleunigst der Prozess gemacht werden, damit sie hinter Gitter wandert!«

Mir kommt es so vor, als müsse Rossi ein Seufzen unterdrücken.

»Signor Dahlen, der Prozess wird ihr gemacht werden, aber womöglich nicht vor einem irdischen Gericht. Signora Ferraro liegt im Koma und ringt mit dem Tod.«

»Und da soll ich jetzt Mitleid haben oder was?«

Selbst Eva zuckt bei diesen Worten zusammen. Sie schickt den Polizeibeamten einen entschuldigenden Blick.

»Nein, Mitleid haben müssen Sie nicht«, bestätigt Rossi. »Aber zuhören, das müssen Sie schon, signor Dahlen!«

*

Das graue, vierstöckige Gebäude liegt an einer Ausfahrtsstraße in Richtung La Spezia. Fast wären wir daran vorbeigefahren. Wer vermutet in diesem Betonklotz schon ein Kinderheim?

Wir quetschen uns mit unserem geliehenen Lancia auf den letzten freien Parkplatz zwischen zwei kleine Fiats und gehen an überquellenden Mülltonnen vorbei zum Hauseingang. Unkraut sprießt zwischen den Waschbetonplatten.

Kaum betreten wir die Einrichtung, sind wir positiv überrascht. Es riecht nach frisch gebackenem Kuchen. An bunt gestrichenen Wänden hängen Kinderzeichnungen. Von irgendwoher dringt fröhliches Lachen.

»La famiglia Dahlen?«

Eine schmächtige Frau in einem schlecht sitzenden Hosenanzug ist aufgetaucht. Begleitet wird sie von einer quirligen Dunkelhaarigen, die nur ein paar Jahre älter sein kann als ich selbst. Ich erkenne in der Frau im Hosenanzug Maria DiGreco wieder, die Dame von der Krisenintervention. Sie hat gestern kurz mit uns gesprochen, ohne wirklich etwas zu sagen – eine Kunst, die Leute wie sie nach meinen Erfahrungen der letzten Jahre hervorragend beherrschen.

Die Jüngere stellt sich als Francesca Capelli und Leiterin des Kinderheims vor. Als sie mir die Hand reicht, bleibt ihr Blick kurz an meinen Unterarmen hängen. In ihren Augen steht, dass sie genau weiß, woher die zahlreichen kleinen Narben stammen, die meine Haut vom Handgelenk bis zum Ellbogen verunstalten. Sie sagt nichts, doch ich zupfe automatisch an den Ärmeln meines T-Shirts und bin froh, dass meine lange Hose den Blick auf meine Oberschenkel verdeckt, die noch schlimmer aussehen als meine Unterarme.

Ich bin nicht stolz auf diese Sache, im Gegenteil. Doch weder Reue noch Einsicht lassen Narben verschwinden. Zum Glück werden sie allmählich etwas blasser.

Wir werden in ein Zimmer im ersten Stock gebeten und dürfen auf einem gelben Sofa Platz nehmen. Dann serviert Francesca Capelli ungefragt Kaffee und Biscotti.

»Sehr nett von Ihnen, aber ich möchte endlich meine Tochter sehen!«, drängelt mein Vater. »Deshalb sind wir doch hier!«

Die Dame von der Krisenintervention lächelt nachsichtig.

»Das werden Sie, Herr Dahlen. Bald.«

»Warum nicht jetzt?«

Er platzt schier vor Ungeduld, und ein bisschen kann ich ihn verstehen. Im Gegensatz zu Eva und mir hat er Lisa noch immer nicht zu Gesicht bekommen.

»Wir denken, Sie sollten erst einmal möglichst viel über Ihre Tochter erfahren.« Maria DiGreco hat ihr nachsichtiges Lächeln nicht verloren.

»Commissario Rossi hat uns schon alles erzählt«, hält ihr mein Vater entgegen. »Was gibt es da noch immer zu bequatschen? – Wir haben bald sieben Jahre darauf gewartet, dass sie wieder zurückkehrt!«

Das ist zumindest in seinem Fall eine aalglatte Lüge. Er war schließlich die ganze Zeit felsenfest vom Gegenteil überzeugt.

»Alles? Commissario Rossi hat Ihnen wirklich alles erzählt?«

Höre nur ich den leisen Spott in der Stimme der Dame von der Krisenintervention?

»Was hat er Ihnen denn erzählt?«, erkundigt sich nun Francesca Capelli vom Kinderheim. Ihr Akzent ist noch stärker als bei Maria DiGreco. Dennoch reicht ihr Deutsch völlig, um sich verständlich zu machen.

»Nun … dass dieses Ehepaar Ferraro Lisa in Malia entführt und als seine verstorbene Tochter ausgegeben hat. Dass die Ferraros daher ungehindert ausreisen konnten und keiner Verdacht schöpfte«, fasst Eva die Kernaussagen Rossis zusammen. »Dass es ihr all die Jahre offenbar gutging. Dass sie in Genua eine Privatschule besucht. Und dass es nach dem Unfall der Mutter keine Verwandten gab, die sie hätten aufnehmen können. Weshalb sie in staatliche Obsorge kam. – Und dann haben Sie ja diesen Routinebluttest machen lassen, bei dem auffiel, dass die Blutgruppe nicht mit der übereinstimmt, die im Vorsorgepass steht … so wurde uns gesagt?«

Das Fragezeichen am Ende von Evas kleiner Rede ist nicht zu überhören. Sie scheint plötzlich selbst unsicher, ob das, was uns Rossi erzählt hat, die ganze Wahrheit ist.

Die beiden Frauen wechseln ein paar Worte auf Italienisch.

»Es war kein Routinetest«, erklärt Maria DiGreco schließlich unverblümt. »Seit Alessandra wieder in Italien ist, werden ihre Blutwerte regelmäßig kontrolliert. Um eine Infizierung auszuschließen. Selbstverständlich haben wir in den fünf Wochen, in denen sie hier ist, die Kontrollen fortgesetzt. Aber keine Sorge – bisher gibt es keinen Hinweis darauf, dass sie betroffen ist.«

»Bitte, was?« Mein Vater starrt erst Maria DiGreco an, dann Eva. »Womit infiziert? Wovon betroffen? Und sie ist schon seit fünf Wochen in diesem Heim? Warum, Herrgott, informieren Sie uns dann erst jetzt?!«

Dass der Unfall von Sonia Ferraro länger zurückliegt, hat uns Rossi schon mitgeteilt, aber kein Datum. Und von irgendeiner Infektion und Untersuchungen war bisher nicht die Rede.

»Maurizio Ferraro, der Mann, der sich jahrelang als Alessandras Vater ausgab, ist Anfang März nahe Haiti an Organversagen in Folge einer Wurminfektion gestorben«, erfahren wir nun. »In der Wohnung von Sonia Ferraro waren Unterlagen, die auch zeigen, Mutter und Tochter haben sich seit ihrer Rückkehr regelmäßig untersuchen lassen. Die beiden wollten sichergehen, dass sie nicht infiziert sind. Wir haben diese Tests dann bei Lisa fortsetzen lassen. Die Blutgruppenbestimmung wurde vom Labor routinemäßig mitgemacht. Und dabei fiel Francesca … also, signora Capelli auf, dass in dem Vorsorgeheft von Alessandra Ferraro eine andere Blutgruppe stand: Nach der Geburt hatte sie Blutgruppe A, jetzt laut Unterlagen plötzlich Null.«

»Lisa hat Blutgruppe Null«, sagt Eva.

»Ja, Lisa … aber nicht Alessandra, die leibliche Tochter von Maurizio und Sonia Ferraro. Denn bei Sonia ist die Blutgruppe AB vermerkt. Und als ihr Mann Maurizio vor Jahren in Australien wegen einer Haiattacke eine Bluttransfusion bekam, stellte man die Blutgruppe A bei ihm fest.«

»Haiattacke«, wiederholt mein Vater, und seine Stirn liegt noch mehr in Falten als zuvor.

»Wir haben uns gefragt, wie kann das sein«, schaltet sich nun Francesca ein. »Haben Test wiederholt: selbes Ergebnis. Und dann noch die Sache mit die Alter … passte alles nicht.« Wieder sagt sie etwas zu Maria DiGreco; es klingt wie eine nüchterne Feststellung.

»Die Alessandra, die hier im Heim aufgenommen wurde, ist nicht altersgemäß entwickelt, wenn man das Geburtsdatum sieht, das im Reisepass und in den Unterlagen steht«, führt die Mitarbeiterin der Krisenintervention aus. »Zwischen den Geburtstagen der Mädchen liegen fast eineinhalb Jahre. Die richtige Alessandra wäre jetzt zwölfeinhalb, Ihre Tochter wird demnächst elf. In dieser Zeit tut sich entwicklungsbedingt viel.«

»Ich verstehe nicht, dass das niemandem vorher aufgefallen ist. Ich meine, offenbar ist Lisa doch jahrelang als Alessandra durchgegangen! Ich meine, gerade in der Schule … da hätte das doch auffallen müssen!« Eva schüttelt verstört den Kopf.

»Ihre Tochter ist groß«, sagt Francesca. »Und Schule, da war nix Schule!«

»Wie bitte?«, entfährt es meinem Vater, und Eva macht große Augen.

»Lisa hat auf einem Schiff gelebt, Sonia Ferraro gab ihr wohl Unterricht«, informiert uns Maria DiGreco. »Zur Schule ging sie erst, seit sie ihren Wohnsitz nach Italien verlagert haben.« Sie wirft einen Blick in die Unterlagen, die vor ihr ausgebreitet auf dem kleinen Couchtisch liegen. »Erst seit Mitte März.«

»Sie hat viele … wie sagt man?«, wirft Francesca ein.

»Defizite«, ergänzt ihre Kollegin. »Schulisch hinkt sie hinterher, und sozial hapert es auch. Auf ihrer Reise um die Welt hatte sie kaum Umgang mit anderen Kindern. Hier im Heimalltag fällt einfach auf, dass sie manchmal einfach nicht weiß, wie sie sich verhalten soll.«

»Welche Weltreise?«, bohrt mein Vater nach. »Schiff? Haiattacke? Insel vor Haiti? Sie sprechen in Rätseln!«

»Ach, hat man Ihnen das denn nicht gesagt? Obwohl Ihnen Commissario Rossi doch angeblich schon alles erzählt hat?« Maria DiGreco zieht in gespielter Überraschung ihre schmalen, dunklen Augenbrauen nach oben. »Die Ferraros haben seit über zehn Jahren nichts anderes gemacht, als die Welt zu umsegeln. Maurizio Ferraro war ein sehr bekannter italienischer Segler … mit einer Olympiamedaille und vielen Titeln. Der Name ist noch immer eine Legende. Nach Ende seiner sportlichen Karriere hat er das Textilunternehmen seiner Familie verkauft, und sie gingen auf Weltreise. Sonia Ferraro hat hin und wieder einen Bericht in einem Reisemagazin veröffentlicht. Ansonsten waren die Ferraros aber aus der Öffentlichkeit verschwunden.«

»Kein Wunder, wenn sie nebenbei noch unser Kind geklaut haben«, bemerkt mein Vater mit Verbitterung.

»Rossi sagte uns, dass die Ferraros am 17. August 2011 in Kreta vor Anker lagen«, erklärt Eva. »Und dass Sonia Ferraro Lisa entführt hat – ihr leibliches Kind war wohl auf dem Boot ums Leben gekommen. Ob sie Lisa schon länger beobachtet und nur auf eine Gelegenheit gewartet hat, mit ihr abzuhauen, lässt sich nicht mehr ausmachen, sagt Rossi. Laut den Ermittlungen sind die Ferraros mit ihrer Segeljacht ausgelaufen, noch ehe die kretische Polizei über Lisas Verschwinden informiert war.«

»Ja, und dann wurden sie ja in der Türkei kontrolliert«, fuhr mein Vater fort. »Nur sechs Tage nach ihrem Verschwinden hätten wir unsere Tochter wiedergehabt, wenn die türkische Polizei damals nicht geschlampt hätte!« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Ich meine, das merkt doch ein Trottel, ob ein Kind vier ist oder fünfeinhalb! – Da werden Sie mir als Pädagogin wohl recht geben, oder?«

Er sieht die dunkellockige Francesca an, die dem Wortschwall nicht hat folgen können und etwas ratlos den Blick von Maria DiGreco sucht.

Ich dagegen weiß, dass er sich an den Tag erinnert, an dem wir von der griechischen Polizei informiert worden waren, dass ein blondes Mädchen im türkischen Urlaubsort Side gesichtet worden sei von Leuten, die ihr Bild in den Medien gesehen hatten. Wir waren damals voller Hoffnung – bis die Meldung der türkischen Polizei kam, dass es sich bei dem kleinen Mädchen um eine Italienerin handelte.

Nachdem das Foto von Lisa erst einmal verbreitet und unsere ganze Familie ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt worden war, glaubte die ganze Welt, Lisa irgendwo gesehen zu haben: in Ägypten. In Marokko. In Rumänien. In New York. In Costa Rica. In Brasilien. Doch während wir bei den ersten Rückmeldungen noch hoffnungsvolles Herzflattern hatten, schlich sich mit den Jahren mehr und mehr Skepsis ein, wenn wir wieder einmal hörten, dass Lisa angeblich irgendwo aufgetaucht war.

Von allen Meldungen dieser Art war jene in der Türkei die einzige, die so konkret war, dass die Polizei das Paar mit dem kleinen Mädchen kontrollierte und die Personalien in einem Aktenvermerk festhielt. Rossi hatte uns bestätigt, dass es sich bei dem Schiff in Side um die Sea Star und bei dem italienischen Paar um Maurizio und Sonia Ferraro gehandelt hatte – mit unserer Lisa unter Alessandras Identität. Über dieses illustre Paar hatte er uns aber nichts weiter gesagt und überhaupt gegen Ende des Gespräches im Kommissariat den Eindruck erweckt, dass er uns nur noch loshaben wollte. Seine Geduld mit meinem Vater war wohl aufgebraucht gewesen, weshalb er uns dann zum Kinderheim weitergeschickt hatte – nicht ohne vorher Maria DiGreco zu informieren. Vermutlich wollte er Francesca die Dahlens nicht ohne mentale Verstärkung zumuten.

»Nun, es ist, wie es ist, signor Dahlen«, sagt Maria DiGreco nun nüchtern. »Ob bei den Ermittlungen damals Fehler gemacht worden sind oder nicht, fest steht: Sie ist wieder da und Sie, Ihre Frau und Ihre ältere Tochter sollten alle Energien darauf verwenden, Lisa bei ihrer Rückführung in die Familie zur Seite zu stehen.«

»Dann will ich sie jetzt endlich sehen!«, verlangt mein Vater – und fügt in milderem Tonfall hinzu: »Bitte.«

»Kommen Sie.« Francesca erhebt sich und geht zu dem großen Fenster links. Wir folgen ihr.

In einem gepflasterten Innenhof mit drei schattenspendenden Bäumen spielen ein paar Kinder mit einem Ball. Ich erkenne in einem der Mädchen Lisa. Sie trägt dasselbe billige Trägerhemd wie gestern, allerdings statt der blauen Shorts eine kurze Jeans. Ihr welliges Haar ist zu einem Pferdeschwanz gebunden.

Gerade hat sie den Ball gefangen und läuft damit zu einem Korb an einem Eisenpfahl am Ende des Hofes. Statt ihn zu dribbeln, presst sie ihn aber einfach mit beiden Händen an den Bauch. Durch das gekippte Fenster höre ich das empörte Geschrei der anderen.

Ein dunkelhaariger Junge stellt sich ihr in den Weg. Er ist einen Kopf größer als sie und korpulent, wirkt aber nicht aggressiv, im Gegenteil: Ganz ruhig sagt er etwas zu ihr, streckt die Hand jedoch gleichzeitig nach dem Ball aus.

Lisa reagiert blitzschnell. Ehe wir richtig realisieren können, krümmt sich der Bursche vor Schmerz. Sie hat ihn tatsächlich mitten in die Eier getreten!

Eva neben mir stößt einen erschrockenen Laut aus. Mein Vater grunzt überrascht. Und Francesca Capelli sagt: »Genau das meinte ich vorher mit … äh … Defizit!«

Im Hof ist nun eine Erwachsene zur Stelle und nimmt Lisa mit erhobenem Zeigefinger zur Seite. Die sieht trotzig zu Boden, während der Bursche heult. Seine Freunde haben sich zu ihm gestellt und mustern Lisa böse. Ein hellblonder Bub schwingt drohend die Faust. Lisa scheint das gar nicht zu bemerken. Sie schaut eingeschnappt und wendet sich ohne ein Wort der Entschuldigung ab.

»Also … das ist ja kein Defizit«, stellt mein Vater klar. »Sie kann sich wehren. Ist doch toll, oder?«

Er sieht erst mich an, dann Eva, doch keine von uns beiden gibt ihm die gewünschte Bestätigung. Auch Maria DiGreco und Francesca sind anscheinend um Worte verlegen.

»Kann ich zumindest einmal mit ihr reden?«, durchbricht er die Stille, die über dem Raum liegt.

Die Heimleiterin antwortet erst nach einigem Zögern.

»Aber nicht zu viel erwarten, bitte!«

»Jaja«, winkt mein Vater ab, während wir den beiden Italienerinnen durchs Treppenhaus nach unten folgen. »Meine Frau hat schon erzählt, dass das Wiedersehen gestern holprig verlief. Aber – vielleicht erkennt sie mich? Immerhin habe ich ihr damals ein Baumhaus gebaut und sie auf meinen Schultern getragen!«

Er lacht ein wenig über seine eigenen Worte, während Evas Nasenlöcher sich fast unmerklich blähen. Ihre blauen Augen blicken eisern nach vorne.

»Sie war gestern total überrumpelt«, klärt uns Maria DiGreco auf, als wir in Parterre angekommen sind. »Darum ist es nicht gut gelaufen. Niemand hatte sie richtig darauf vorbereitet. Ich bin erst knapp vorher eingeschaltet worden – eigentlich, um Ihnen beizustehen. Aber inzwischen haben Francesca und ich auch mit Lisa gesprochen.«

»Es ist nicht leicht, eine Kind Situation wie diese zu erklären«, fügt Francesca Capelli hinzu. »Aber irgendwo man muss anfangen. Man kann sie nicht lügen und hoffen, dass dann alles benissimo, Sie verstehen? – Problem ist: Ali will nicht akzeptieren, wie Realität ist. Für sie ihr Papa ist tot, die Mamma im Krankenhaus – und Sie komische fremde Leute. Aber sie hat versprochen, dass sie nicht mehr … na … come si dice …?«

Sie fährt ihre Krallen aus und fletscht die Zähne. Fast muss ich lachen, weil sie mich für ein paar Sekunden tatsächlich an meine wildgewordene Schwester erinnert.

»Warten Sie hier.« Die Heimleiterin weist auf eine Sitznische mit Polstermöbeln. »Ich hole sie.«

Eva und ich teilen uns das Sofa. Mein Vater überlässt Maria DiGreco den Polstersessel und wartet im Stehen mit angespanntem Gesicht.

Dann kommt Francesca mit meiner Schwester an der Hand zurück. Das Haarband hat sich gelockert. Strähnen ihres hellen Haares fallen Lisa ins Gesicht. In ihren Augen steht etwas Unberechenbares. Trotzdem streckt sie Eva brav die Hand entgegen.

»Buon giorno.«

Es klingt so artig, als hätte sie die Szene üben müssen.

Nacheinander reicht sie uns allen die Hand. Ihr Druck ist schwach, sie zieht sie schon nach wenigen Augenblicken zurück.

Mein Vater lächelt sie an. Lisa schaut zu Boden.

»Ali, abbiamo parlato stamattina«, sagt Francesca und gibt ihr einen leichten Schubs. »Cos’è che volevi dire alla signora?«

Erst sieht es so aus, als würde Lisa lieber davonlaufen als irgendetwas anderes tun, doch dann reicht sie Eva nochmals die Hand und sagt in brüchigem Deutsch: »Tut mir leid.«

Eva berührt kurz die Kratzer, die trotz Make-up noch immer leicht sichtbar sind. »Ach … schon vergessen.« Dann zögert sie und scheint nicht zu wissen, wie sie reagieren soll.

»Das ist deine Schwester«, fährt Francesca auf Italienisch fort und lächelt mich an. Ich bin überrascht, dass mich überhaupt jemand wahrgenommen hat. Bisher bin ich mir eher wie Evas Schatten vorgekommen. »Si chiama Lea.«

Lisa sieht Francesca fragend an. Dann schüttelt sie energisch den Kopf.

»Aber ja!« Die Pädagogin gibt sich unbeeindruckt. »Lea ist deine Schwester, signora Eva deine mamma, signor …«

Sie stockt, weil ihr der Vorname nicht einfällt.

»Dieter«, kommt Maria DiGreco zur Hilfe, die offenbar unsere Akte inzwischen recht genau studiert hat.

»… und signor Dieter ist dein Papa!«

Frau DiGreco erhebt sich und winkt Lisa zu uns. Sie sagt etwas zu ihr, was ich nicht verstehe, dann wendet sie sich an Eva. »Vielleicht möchten Sie sich ja ein bisschen beschnuppern? Sich kennenlernen?«

Lisa lässt sich auf der Armlehne des Polsterstuhls nieder. Ihre Körperhaltung verrät mir, dass sie das ganz sicher nicht will, aber es sich offenbar mit den beiden Damen nicht verscherzen will. Das Gespräch zwischen den Dreien muss sehr eindringlich gewesen sein.

Wir sitzen angespannt da und betreiben rund eine Viertelstunde eine mühsame, schleppende Konversation. Maria DiGreco übersetzt, wenn Evas Italienisch an seine Grenzen stößt, was ziemlich oft der Fall ist.

Mein Vater wendet sich mehrmals direkt an Lisa. Dass sie wirklich kein Deutsch versteht, kann er anscheinend gar nicht begreifen. Jeder seiner Sätze beginnt mit: »Erinnerst du dich«, und er führt alles an, was für ihn wichtig war. Das Baumhaus. Die große Sandburg. Das rosa Prinzessinnenkostüm, das er für Lisa zum Kinderfasching gekauft hat und das sie gar nicht mehr ausziehen wollte. Dass sie eine ganze Sammlung von My Little Pony daheim hatte, auf die sie immer besonders stolz war.

Doch Lisa schüttelt jedes Mal den Kopf, wenn Maria DiGreco übersetzt hat.

Mein Vater wirkt immer enttäuschter.

»Als du klein warst, hast du in jedem Restaurant, in das wir gingen, Spaghetti Bolognese bestellt«, fällt ihm schließlich noch ein. »Es war dein absolutes Lieblingsessen!«

Lisas Gesicht hellt sich auf, kaum dass sie die Worte auf Italienisch vernommen hat. Sie antwortet etwas. Maria DiGreco schmunzelt und sagt auf Deutsch: »Es ist auch heute noch ihr Lieblingsessen. Aber Scampi und Oktopus mag sie inzwischen auch sehr gern, sagt sie.«

Ungewöhnliche Vorlieben für ein Kind in ihrem Alter, geht mir durch den Kopf.

Wir erfahren an diesem Tag noch, dass sie gerne segelt, keine Angst davor hat, auf einen Mast zu klettern, dass sie zehn verschiedene Arten von Seemannsknoten beherrscht, angeblich schon einmal einen neun Kilo schweren Red Snapper geangelt hat und nie vor elf Uhr abends einschlafen kann, aber dafür in der Früh vor neun nur schwer aus den Federn kommt.

»Leider stimmt das«, bestätigt Francesca Capelli. »Sie hat keinen richtigen Rhythmus, unsere Ali.«

Eigentlich schon, denke ich, aber eben einen, der nicht zu dem Leben passt, das sie jetzt führen soll.

Dann wird Lisa wieder einsilbiger, starrt auf die Wand, stößt immer wieder mit ihren Füßen gegen den Polstersessel.

Wir spüren, dass es für diesmal genug ist.

»Können wir morgen wiederkommen?«, erkundigt sich Eva am Ausgang zum Parkplatz, und noch ehe Francesca Capelli oder Maria DiGreco antworten können, schießt mein Vater hinterher: »Aber natürlich! Wo kämen wir denn da hin, wenn wir unser eigenes Kind nicht sehen dürften?«

Wieder einmal könnte ich ihn ohrfeigen. Wieder einmal will ich wenigstens protestieren, kriege aber den Mund nicht auf.

»Natürlich können Sie wiederkommen«, erklärt Maria DiGreco betont freundlich. »Morgen kann ich allerdings nicht dabei sein; ich habe andere Termine.«

»Ja, aber … wer soll uns denn dann übersetzen?«

Mein Vater wirkt ungewohnt fassungslos.

»Sie werden das schon meistern.«

Zum Abschied schickt uns die Brünette ein Lächeln hinterher, doch als unser Auto bereits Richtung Ausfahrt rollt und ich einen Blick durch die Heckscheibe werfe, sehe ich, wie sie und Francesca die Köpfe zusammenstecken.

Ich kann mir vorstellen, worüber die beiden sich austauschen: dass die nette signora Dahlen wohl nichts zu melden hat, mein Vater ein dominanter, herrschsüchtiger Teutone ist und ich irgendwie seltsam drauf bin. Ich kann es ihnen nicht verdenken.

*

Seit zwei Stunden hat mein Vater sein Handy am Ohr, erteilt auf Deutsch und Englisch Anweisungen und verhandelt über Chemikalien, von denen ich eigentlich nichts wissen will. Dass er Kunstdünger und genmanipuliertes Saatgut verkauft, macht mich nicht wirklich stolz. Man sagt seinem Arbeitgeber nach, mit einem seiner Spritzmittel für das Bienensterben mitverantwortlich zu sein.

Irgendwann hat er schließlich Harald Zellweger am Apparat, gibt ihm ein Update über die Geschehnisse und bittet ihn um juristischen Rat, wie er denn endlich diese lästigen Behörden ausschalten und Lisa nach Hause holen kann.

Eva und ich sitzen währenddessen auf dem Sofa – frisch geduscht, hungrig, ausgehfertig. Ehe mein Vater seine Telefonorgie startete, hatten wir vereinbart, gemeinsam in einem der Fischrestaurants am Hafen Abend zu essen.

Um das Warten zu überbrücken, lese ich Spiegel Online und Die Zeit, während Eva lustlos in dem italienischen Magazin blättert, das die Hotelkette in jedem Zimmer ausgelegt hat. Als Vater endlich irgendwann das Telefon wegsteckt, ist Eva längst zu einem emotionalen Eiszapfen geworden. In manchen Augenblicken wäre ich einfach froh, sie würde ihn einmal richtig anschreien und nicht die Wut, die sie doch genauso empfinden muss wie ich, hinter dieser kühlen, unnahbaren Maske verbergen.

Allerdings sind wir darin wohl beide Meisterinnen.

In dem Fischrestaurant, das uns das Hotel empfohlen hat, ist kein Platz mehr frei. Unsere Suche nach einem adäquaten Ersatz führt uns über Kopfsteinpflaster in ein rustikales Gasthaus.

»Nicht ganz das, was wir wollten, aber es hat wohl keinen Sinn, noch weiter herumzulaufen«, entscheidet mein Vater, der nun offenbar auch Hunger hat. So sitzen wir wenig später zu dritt an einem klobigen Ecktisch, der für mindestens acht Personen gedacht ist, und stecken unsere Köpfe in die überschaubare Speisekarte, während aus einem Lautsprecher direkt hinter mir italienische Schlager dröhnen. An den wenigen besetzten Tischen hocken italienische Handwerker in Arbeitskleidung und einige Leute in meinem Alter, offenbar Touristen mit wenig Geld. In der plärrenden Hintergrundmusik hören wir sie lautstark auf Englisch über gesalzene Preise diskutieren.

»Interessantes Publikum hier«, stellt Eva fest und klappt die Speisekarte zu. »Ich nehme die Muscheln.«

»Meine liebe Eva, wenn du mir gleich grünes Licht gegeben hättest, dass ich die Angelegenheit Harry überlasse, säßen wir längst mit Lisa zu Hause«, bemerkt mein Vater spitz. »Aber nein, du warst ja der Meinung, wir sollten erst mal abwarten.«

Nun weiß ich zumindest, worüber die beiden gestern Abend noch diskutiert haben, als ich mich in mein Bett verzog.

»Ich bin auch weiterhin dieser Meinung«, stellt Eva klar. »Du hast selber gesehen, dass Lisa alles andere als bereit ist, mit uns nach Österreich zu fahren.«

Der Kellner kommt und nimmt die Bestellung auf.

»Das liegt nur daran, dass sie in den Fängen dieses Jugendheims und der italienischen Behörden ist«, greift mein Vater den Faden wieder auf, als er sich entfernt hat. »Die machen doch gemeinsame Sache! Allein, dass die schon fünf Wochen brauchen, um uns überhaupt in Kenntnis davon zu setzen, dass möglicherweise unsere Tochter wieder aufgetaucht ist, spricht Bände!«

»Sie haben es uns doch erklärt«, widerspricht Eva vage. »Die Untersuchungen wegen der Wurminfektion. Und die Polizei wollte ja erst sichergehen.«

»Als ob sie diese Untersuchungen nicht auch in Wien machen könnte.« Mein Vater nimmt einen tiefen Schluck Wein. »Genauso wie eventuell notwendige Therapien. – Tut mir leid, Eva, aber das ist einfach nur Unsinn! Der wahre Grund, weshalb sie hier ist, ist der, dass die Polizei hier für alles ewig braucht, ermittlungstechnisch in der Steinzeit hängt und dieser Ferraro so was wie eine nationale Segellegende war – der hat mehrmals Gold für Italien geholt! So einen greift keiner gerne posthum an. Und was das Heim betrifft: Die kassieren einen netten Tagessatz pro Kind. Klar, dass die ihre Bude voll haben wollen, und das möglichst lange!«

»Ich weiß nicht.« Auch Eva trinkt von ihrem Wein. »Ich habe bisher alle sehr unterstützend erlebt. Diese Frau DiGreco von der Krisenintervention … die ist doch sehr bemüht.«

»Eine Handlangerin der Behörden ist das«, stellt mein Vater trocken fest. »Vertrau nicht zu sehr darauf, dass die nur das Beste für uns wollen! Erinnere dich, wie es damals war, als Lisa verschwunden ist! Es wäre nicht das erste Mal, dass uns Behörden in den Rücken fallen und aus Opfern Täter machen.«

Eva erwidert nichts.

Ausnahmsweise muss ich meinem Vater insgeheim recht geben. Die Erinnerung an alles, was wir damals mitgemacht haben, sitzt auch mir noch tief in den Knochen.