Opfer oder Täter?

Malia, 18. – 20. August 2011

»Und Sie sind sich sicher, dass Ihr Kind mit am Strand war?«

Eva, die leichenblass und mit gefalteten Händen auf dem Doppelbett des Hotelzimmers saß, starrte den griechischen Polizeibeamten in Zivil aus ihren großen blauen Augen ungläubig an. Der breitschultrige Hüne, auf dessen Glatze sich die Lichter der Deckenlampe spiegelten, hatte sich vor ihr aufgebaut wie ein Richter über Leben und Tod. Vor zwanzig Minuten war er mit fünf grimmig dreinblickenden Kollegen, die wie seine Klone wirkten, aber in blauen Uniformen steckten, ins Hotelzimmer gestapft. Der Mann hatte sich knapp mit Dienstgrad und Namen – »Neo…«-irgendwas – vorgestellt und war mir spontan unsympathisch gewesen.

Mehr als ein Tag war inzwischen vergangen, seit wir meine Schwester als vermisst gemeldet hatten. Es war gegen 21 Uhr. Draußen auf den Straßen von Malia pulsierte das Leben, als sei nichts geschehen. Das Hotel hatte uns geholfen, einen Steckbrief auf Englisch, Deutsch und Griechisch mit einer Kurzbeschreibung und einem Foto von Lisa auszudrucken. Das Papier hing jetzt beinahe in jedem Hotelfoyer, an jeder Minimarktkasse und an vielen Bankomaten. Als wir mit den Zetteln in der Hand heute verzweifelt den Strand abgewandert waren, hatten viele Touristen und nahezu alle Einheimischen bereits erfahren, dass dieses kleine deutsche Mädchen fort war und die Polizei nach ihr suchte.

Der kretische Polizeichef hatte unsere Vermisstenanzeige aufgenommen und sofort veranlasst, dass die ganze Insel nach Lisa abgesucht, das Meer und sämtliche Häfen kontrolliert wurden. Er und sein Team waren von Anfang an fürsorglich, nett und hilfsbereit gewesen – so, wie alle Menschen, die bisher vom Verschwinden erfahren hatten.

Dass dieser Neo und seine Begleiter sich darin unterschieden, war von Anfang an zu spüren. Man hatte uns gesagt, dass er irgendeine Spezialeinheit leitete. Er kam extra aus Athen, hatte das Auftreten eines Mannes, der, wenn erforderlich, über Leichen ging, und sprach fließend Deutsch mit leichtem Ruhrpott-Akzent. Es lag auf der Hand, dass er dort aufgewachsen sein musste. Bisher hatte er nur kurz zusammengefasst, was wir der örtlichen Polizei schon zu Protokoll gegeben hatten: dass Lisa mir unbemerkt nachgelaufen und seither verschwunden war. Dann hatte Neo meinen Vater vor die Tür geleiten lassen, um mit Eva zu sprechen. Dass ich mit verheulten Augen im Polstersessel hockte, kümmerte ihn wohl nicht sonderlich.

Die seltsame Frage, die er Eva nun stellte, riss mich abrupt aus dem Strudel von Selbstvorwürfen.

»Wie … wie meinen Sie das? Natürlich bin ich sicher, dass Lisa mit uns am Strand war!« Eva blinzelte verwirrt. Sie wirkte müde und erschöpft. Ich wusste, dass sie nachts genauso wenig ein Auge zugetan hatte wie ich. Gegen zwei Uhr waren wir auf unsere Zimmer gegangen. Doch als ich einen Blick aus dem Fenster warf, hatte ich die beiden nochmals mit einem Stapel dieser Steckbriefe in den Händen das Hotel verlassen sehen.

»Und wann genau sind Sie an den Strand gegangen?«

»Nach dem Frühstück. Gegen zehn Uhr, glaube ich …«

Einer der Uniformierten, offensichtlich des Deutschen ebenso mächtig wie sein Vorgesetzter, machte sich im Hintergrund Notizen.

»Glauben Sie«, wiederholte Neo, und seine Stimme klang keineswegs freundlich. »Wissen tun Sie es nicht?«

»Na ja … ähm …« Eva warf mir einen verwirrten Blick zu. Dann erklärte sie mit fester Stimme: »Doch. Es war zwischen zehn und halb elf.«

»Und bei welchen Schirmen haben Sie sich niedergelassen? Bei den rot-weißen?«

Wieder sah sie mich an. »War der Schirm rot-weiß?«

Ich wusste genauso wenig wie sie, worauf Neo hinaus wollte, aber zumindest erinnerte ich mich noch an die Farbe.

»Grün«, sagte ich leise. »Die Schirme waren grün.«

Neo übersetzte es einem der Uniformierten. Der antwortete, ohne eine Miene zu verziehen.

»Die grünen Schirme gehören zur Taverna Kamiros«, erklärte Neo uns steif. »Die rot-weißen Schirme zum Hotel. Sie sind gratis. Warum haben Sie an diesem Tag bewusst einen anderen Strandabschnitt genommen und für Liegebetten und Schirme bezahlt, obwohl das Hotel Ihnen welche zur Verfügung stellt?«

Wieder sah Eva mich hilfesuchend an, und wieder fühlte ich mich gezwungen zu antworten, obwohl ich mich am liebsten einfach nur verkrochen hätte.

»Papa hat gezahlt. Du hast gerade gelesen und das wahrscheinlich nicht so mitgekriegt.«

Noch im selben Augenblick wusste ich, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Eva dagegen nickte nur.

»Sie haben das also nicht so mitgekriegt, Frau Dahlen. Weil Sie gelesen haben, richtig?«

»Ja … kann schon sein.«

Evas Erwiderung kam zögerlich. Ich sah ihr an, dass sie versuchte, aus den seltsamen Fragen schlau zu werden, doch offenbar blockierte die Angst um Lisa ihren Verstand.

»Was haben Sie noch gemacht an diesem Badetag? – Angenommen, Sie waren um halb elf am Strand. Dann bleiben mehr als drei Stunden, bis Ihre Tochter verschwand.«

»Also, wir lagen in der Sonne, haben gebadet, miteinander geredet, gelesen … was man am Strand eben so macht«, sagte Eva. »Warum fragen Sie das?«

»Es ist für die Ermittlungen wichtig«, ließ Neo sie wissen. »Beantworten Sie meine Frage genauer: Wie haben Sie diese drei Stunden verbracht?«

»Ich lag auf der Liege und … ja, ich habe gelesen.«

»Drei Stunden«, sagte Neo nüchtern und wandte sich wieder seinen Kollegen zu. Ich konnte kein Wort Griechisch außer Kalimera, verstand aber trotzdem, dass keiner dieser Beamten nachvollziehen konnte, wie eine Mutter von zwei Kindern drei Stunden am Strand in der Sonne liegen und nichts anderes tun konnte, als zu lesen. Bei den griechischen Familien, die erst am späteren Nachmittag an den Strand drängten, ging es anders zu. Die Frauen nahmen meist ein kurzes Bad, dann saßen sie auf einer Decke, tratschten, aßen und stopften auch ihre Kinder und Männer mit mitgebrachtem Essen voll, wenn diese gerade einmal nicht im Wasser planschten. Selten sah ich ein einzelnes Paar mit Kindern. Meist kamen sie als ganzes Rudel. Und wenn das letzte Melonenstück und der letzte Bissen Moussaka aus der Tupperware vertilgt waren, verschwanden sie wieder so laut und lärmend, wie sie zwei Stunden zuvor gekommen waren. Nie hatte ich eine der Frauen lesen sehen. Nie!

»Mein Mann … also, er war mit Lisa im Wasser. Und hat mit ihr eine Sandburg gebaut.« Allmählich schien meiner Stiefmutter zu dämmern, wie dieser Kahlkopf ihre Aussagen wertete.

»Ihr Mann interessiert im Augenblick nicht. Ich spreche mit Ihnen. Verstanden?«

»Ja, aber ich begreife nicht, was …«

Er ließ Eva nicht ausreden.

»Nun erklären Sie mir bitte noch einmal, warum Sie nicht die Hotelliegen genommen haben.«

»Ich … ich weiß es nicht!« Eva klang nun ungehalten. »Vielleicht, weil der Hotelbereich schon besetzt war.«

»Um halb elf?« Neo runzelt die Stirn.

»Ja was weiß ich!« Eva macht eine verzweifelte Geste. »Vielleicht wollte ich … mehr Privatsphäre! Nicht immer diese Leute im Rücken haben, mit denen ich schon am Frühstücksbuffet stehe, deshalb!«

Ich verstand, was Eva meinte. Die Touristin, die in der Taverne um ein Autogramm gebeten hatte, war uns morgens im Hotel wieder begegnet. Sie hatte an einem der Toaster am Buffet gestanden und Eva mit einem aufdringlichen Lächeln begafft. Danach hörte ich, wie sie ihren Partner und ein weiteres Ehepaar am Tisch lautstark darüber informierte, dass das doch die Dahlen aus dem Fernsehen wäre.

»Ich bin … also, in Deutschland bin ich bekannt«, versuchte Eva Neos offensichtliches Unverständnis zu beseitigen. »Ich arbeite beim Fernsehen, und die Leute erkennen mich. Ich möchte das im Urlaub nicht, verstehen Sie? – Und da war diese Frau bei den Hotelliegen, die mich schon am Vorabend bedrängt hat … und ich bat meinen Mann, dass wir uns nicht in ihrer Nähe niederlassen. Daher die anderen Sonnenliegen.«

Neo verzog keine Miene. »Sie hätten auch im Hotelgelände wechseln können«, er ließ nicht locker.

Eva sah aus, als würde sie ihm gleich an die Kehle springen.

»Mein Kind ist verschwunden!«, fuhr sie ihn mühsam beherrscht an. »Und während wir hier über Sonnenliegen diskutieren, wird Lisa vielleicht misshandelt, gequält und womöglich umgebracht!« Ihre Stimme überschlug sich fast. »Tun Sie endlich was, anstatt sich mit Banalitäten aufzuhalten!«

»Wovon halte ich Sie ab, Frau Dahlen? Vom Lesen?«

Puh, das saß! Es dauerte etwas, bis seine Worte bei Eva durchsickerten. Dann aber erhob sie sich und bedachte ihn mit einem eisigen Blick. »Ich lasse mir das nicht länger bieten! Auf dieser Ebene rede ich nicht mit Ihnen! Was Sie mir hier unterstellen wollen, ist eine bodenlose Frechheit! Damit wollen Sie nur davon ablenken, dass Sie und Ihre Leute Ihren Job nicht machen!«

»Setzen Sie sich wieder!«

Neos Stimme zerschnitt die dicke Luft, die im Zimmer lag, wie ein Messer. Zwei seiner Leute blockierten jetzt die Türe. Einen Moment lang schien Eva mit sich zu ringen, ob sie schreien, kämpfen oder klein beigeben sollte. Sie entschied sich für letzteres. Ich drückte mich ängstlich in die Polster.

Kaum hatte sie wieder auf der Kante des Bettes Platz genommen, legte Neo los: »Wir haben mit Zeugen gesprochen, Frau Dahlen. Zeugen, die uns glaubhaft erklärt haben, dass Sie sich während der gesamten drei Stunden keine fünf Minuten um ihre Tochter gekümmert haben. Sie waren die ganze Zeit in Illustrierte vertieft oder haben mit Ihrem Mann diskutiert, während Ihre Tochter unbeaufsichtigt im Meer spielte. Und ohne Schwimmflügel! Das Mädchen hat laut unseren Zeugen auch mehrmals über Hunger geklagt, und Sie haben sich nicht darum gekümmert.«

»So ein Unsinn!« Eva spuckte ihm die Worte regelrecht vor die Füße. »Lisa hatte ein reichhaltiges Frühstück, außerdem hatten wir Obst und Kekse dabei! – Wagen Sie es bloß nicht, mich als schlechte Mutter hinzustellen! Ich liebe mein Kind!«

»Sie wollte unbedingt ein Eis haben«, traute ich mich zu sagen. »Wenn sie sich was in den Kopf gesetzt hat, war sie nicht davon abzubringen.«

»Hat? War?«, echote der Mann. Als er sich mir zuwandte, wurde mein Brustkorb ganz eng. Ich fühlte mich sowieso schon elend vor lauter Schuldgefühlen, und mich überkommt generell ein ungutes Gefühl, wenn mir fremde Erwachsene zu viel Aufmerksamkeit schenken. Dass ich nun ausgerechnet für diesen Fiesling sichtbar geworden war, ließ mich unwillkürlich zittern. Ich schrumpfte in mich zusammen, als seine harten, dunklen Augen sich auf mich richteten.

Ich musste das mit mir und meinem Abgang noch einmal ganz genau berichten und brauchte fünf Anläufe, um den Kloß in meiner Kehle zu überwinden. Stotternd und voller Angst, wieder irgendeinen Fehler zu machen, der mich, Papa oder Eva schlecht dastehen ließe, erzählte ich, was schon so viele Leute vor ihm hatten wissen wollen: dass ich schnurstracks zum Hotel marschiert war, ohne mich noch einmal nach Lisa umzudrehen, und rund zwanzig Minuten auf dem Zimmer blieb, ehe ich wieder zurück an den Strand ging.

»Warum hast du sie denn nicht mitnehmen wollen?«

Neos Tonfall war nun ganz anders als im Gespräch mit Eva: freundlich, nachsichtig, milde. Trotzdem traute ich ihm nicht über den Weg.

»Ich wollte einfach allein sein«, erwiderte ich, ohne ihn anzusehen. Lieber fiele ich augenblicklich tot um, als diesem Kerl von der blutigen Binde zu erzählen!

»Kleine Schwestern können ganz schön nerven, nicht wahr?«

Neo schob ein verständnisvolles Lächeln hinterher.

Mein Herz raste. Ich begann zu schwitzen, obwohl die Klimaanlage auf Hochtouren lief.

»Zehn Jahre Altersunterschied ist nicht gerade wenig«, fuhr er fort. »Da warst du zehn Jahre ein Einzelkind, und plötzlich ist da so ein Kleines, das die ganze Aufmerksamkeit von Mama und Papa einfordert. Ich bin mit zwei jüngeren Brüdern aufgewachsen; ich weiß, wie das ist.«

Ein Schweißtropfen lief unter meinem T-Shirt die Rippen entlang. Meine Kehle war ganz trocken. Zugleich erfasste mich ein heftiges Bedürfnis, etwas klarzustellen. Dieser Mann sollte bloß nichts Falsches annehmen!

»Nein, so war das nicht.« Meine Stimme hörte sich ganz fremd an. »Weil ich … also, ich bin nicht Evas echte Tochter. Ich bin nur ihre Stieftochter.«

»Und?«

Neo schien doch nicht so clever zu sein, wie er sich vorkam. Ich überhörte Evas gequälten Seufzer im Hintergrund und sagte, was gesagt werden musste. »Na ja, meine Mutter ist gestorben, und Papa liebt jetzt Eva. Ist doch klar, dass die beiden ihr gemeinsames Kind viel lieber haben als mich. Ihnen ist Lisa wichtiger, da hat es gar keinen Sinn, eifersüchtig zu sein. Falls Sie jetzt denken, ich hätte meine Schwester aus Eifersucht umgebracht oder so, dann ist das jedenfalls Blödsinn!«

Während Eva einen undefinierbaren Laut ausstieß, wurde mir nun so heiß und schwindelig, dass ich das Gefühl hatte, von innen her zu verbrennen. Ich wollte kaltes Wasser auf meiner Haut und nichts wie raus aus diesem Zimmer.

Doch als ich aufstand, um ins Bad zu flüchten, wurde mir schwarz vor Augen.

*

Papa tobte. Auch er war zum Einzelgespräch gebeten worden. Die beiden Männer waren so lautstark aneinander geraten, dass sich die ersten Gäste wegen des Lärms beschwerten. Papa war schon immer schnell auf hundertachtzig und ließ sich ungern was sagen. Letztendlich hatte er jedoch bei Neo, der als Chefermittler eindeutig am längeren Hebel saß, klein beigeben und dessen Fragen beantworten müssen. Mit langen Schritten und hochrotem Kopf ging er jetzt, da die griechische Spezialeinheit wieder abgezogen war, im Hotelzimmer auf und ab.

»Die wollen uns etwas anhängen!«, schimpfte er. »Uns, den Eltern eines verschwundenen Kindes! Die wollen das so drehen, als hätten wir unsere Aufsichtspflicht vernachlässigt – und anstatt nach Lisa zu suchen, hungern sie womöglich nach Beweisen, dass wir unsere Tochter umgebracht haben!«

»Liebling – das glaube ich nicht«, warf Eva ein. »Vielleicht machen sie auch einfach nur ihre Arbeit.«

Auch sie war nicht überzeugt, dass Neo und seine Mannen es gut mit uns meinten. Ihr ging es nur darum, Papa zu besänftigen. Das Geschrei und die Aufmerksamkeit im Hotel waren ihr sehr unangenehm.

»Die haben mich allen Ernstes gefragt, ob Lisa ein Wunschkind war«, empörte sich Papa. »Kannst du dir das vorstellen?! Was ist das denn für eine unverschämte Frage, und was hat das mit ihrem Verschwinden zu tun? – Ich sag’s dir, die wollen daraus eine Geschichte machen wie: TV-Star und Chemiemanager töten Tochter in Klammern vier am Strand!«

»Was für ein Unsinn!«, begehrte Eva auf. »Natürlich war Lisa ein Wunschkind!«

»Mir musst du das nicht erklären.« Papa trat ans Fenster und blickte in die Gartenanlage. »Ich sag ja nur …« Nach ein paar Sekunden drehte er sich plötzlich abrupt um und richtete seine Augen auf mich. »Und was soll überhaupt dieser Blödsinn, dass wir dich weniger lieb haben als Lisa? – Mehr Öl ins Feuer kippen kannst du wohl nicht!«

Ich hatte in den vergangenen Stunden so viel geweint, dass ich glaubte, es kämen keine Tränen mehr. Doch Papas vorwurfsvoller Satz brachte mich direkt wieder zum Schluchzen. Nicht nur, dass Lisa verschwunden war – ich hatte einfach alles falsch gemacht!

»Jetzt mach ihr keinen Vorwurf«, beschwichtigte Eva. »Lea ist genauso fertig wie wir, und dieser Neokosmidis hat sie mit seinen Fragen eingeschüchtert und auch manipuliert.« Ernst sah sie mich an. »Lea, wie kommst du nur darauf, dass wir dich nicht genauso lieb haben wie Lisa? Sag so etwas nie wieder!«

Irgendwoher zauberte sie ein Taschentuch. Dankbar schniefte ich hinein. Trotzdem wollte ich mich noch immer am liebsten auflösen.

»Jetzt lass uns das noch einmal rational durchgehen«, sagte Papa. »Als du vom Strand weggegangen bist, Lea, wer genau ist dir da auf der Straße aufgefallen?«

Es war das gefühlt hundertste Mal, dass er mir diese Frage stellte. Ich konnte ihm nichts anderes sagen als die neunundneunzig Male zuvor.

»Da war nur dieser Laster, voll mit Melonen, und eine Frau, die ihr Baby aus dem Wagen geholt hat.«

»Und du kannst dich wirklich nicht an das Gesicht des Fahrers erinnern?«

»Nein! Der Wagen ist ja auch nur vorbeigefahren, der hat nicht angehalten.«

»Das hat gar nichts zu bedeuten. Der kann auch hundert Meter weiter rechts rangefahren sein, als du schon im Hotel warst.«

Und wie hätte ich das dann wissen sollen?

»Fest steht ja wohl, dass Lisa auf dem Weg vom Strand zum Hotel verschwunden ist«, hielt Papa nochmal fest. Er hatte dunkle Schatten unter den Augen und wirkte völlig ausgelaugt. Seine Flucht in Rationalisierungen half ihm wohl, seinen Sorgen und seinem Kummer wenig Raum zu geben. »Wer diese Frau mit Kind war, hat die Polizei inzwischen festgestellt – irgendeine Griechin, deren Mann in einer Taverne arbeitet. Und die hat nichts gesehen, wie sollte es auch anders sein! Bleibt also nur noch der Melonenmann. Wenn die Polizei nur endlich ihre Arbeit täte, anstatt uns unter die Lupe zu nehmen, dann wüsste man längst, wer diesen Wagen gefahren hat!«

»Ich muss ständig daran denken, wo Lea wohl jetzt ist«, sagte Eva mit brüchiger Stimme. »Und ob sie leidet …« Dann brach sie in Tränen aus. Papa setzte sich neben sie und zog sie in seine Arme, und ich fühlte mich ganz elend und einsam.

Warum nur hatte ich nicht über die Schulter geschaut?

Weshalb hatte ich so lange auf dem Bett gelegen und mir den Kopf über die Burschen in meiner Klasse zerbrochen?

Was, wenn ich nur kurz auf der Toilette gewesen wäre? Hätte ich Lisa dann noch auf der Straße entdeckt und wieder mit zu unserem Liegeplatz nehmen können?

Der Gedanke, dass der unbekannte Melonenmann Dinge mit meiner Schwester tat, die ich nicht einmal in Worte fassen konnte, machte mich schier verrückt.

»Vielleicht war’s der Fahrer ja gar nicht«, versuchte ich mich selbst zu beruhigen. »Sondern jemand aus dem Supermarkt, den ich nicht gesehen habe!«

»Aus dem Minimarkt?« Mein Papa runzelte die Stirn. »Der hat doch über Mittag geschlossen; die machen erst um vier wieder auf!«

»Nein, die hatten offen. Die Frau hat doch Cola gekauft!«

»Welche Frau?«

Eva sah mich mit Tränen verhangenen Augen an.

Ich wurde unsicher. Hatte ich die Frau nicht schon erwähnt?

»Da stand eine Frau in kurzen Shorts, die ein Cola gekauft hat«, erinnerte ich mich. »Zumindest hatte sie eine Coladose in der Hand, und ich dachte …«

»Warum erzählst du uns das erst jetzt?«

Papa klang ungehalten.

»Ich … ich habe das doch schon gesagt!«

»Nein, hast du nicht!«

»Hört auf! Das führt doch zu nichts!« Eva zog die Nase hoch und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Was war das für eine Frau, Lea? – Beschreib sie bitte mal!«

»Sie war schon älter – ungefähr vierzig oder so. Blondes strähniges Haar, schulterlang. Sie trug eine abgeschnittene Jeans …«

Ich verstummte, versuchte, mir das Aussehen dieser Frau, die ich nur flüchtig wahrgenommen hatte, vor Augen zu rufen.

»Und?«, hakte mein Papa ungeduldig nach.

»Und … weiß nicht.« Hilflos hob ich die Schultern. »Ich habe sie doch nicht so genau angeschaut!«

»Trotzdem. Wir brauchen diese Frau!« Papa griff zu seinem Handy. »Ich rufe bei der Polizei an! Die sollen der Sache nachgehen!«

»Um diese Uhrzeit?«, warf Eva zaghaft ein. Es war inzwischen kurz vor 23 Uhr. Papa überging ihren Einwand. Augenblicke später hatte er den Leiter der örtlichen Polizei am Telefon, der ihm mitteilte, dass die Zuständigkeit für unseren Fall jetzt bei Neokosmidis lag. Er werde ihm Bescheid geben, aber wir sollten in dieser Nacht nicht mehr mit ihm rechnen.

*

»Der Minimarkt war zu«, informierte Neo meine Eltern steif, nachdem er eine Dreiviertelstunde zuvor meine dürftige Beschreibung von der Frau in Shorts entgegengenommen hatte. »Ihre Tochter hat sich geirrt.«

Seine Aussage war wie eine Ohrfeige für mich. Ich konnte mich vielleicht nicht an Details erinnern, was die Frau betraf, doch ich wusste mit Sicherheit, dass das Rollgitter oben gewesen war und sie sich eine Dose aus dem Getränkekühlschrank geholt hatte.

»Sind Sie denn da wirklich sicher? Ich meine, haben Sie das auch richtig überprüft?«

Das Muskelzucken in Neos sonnengebräuntem Gesicht verriet deutlich, was er von der Frage meines Vaters hielt. Trotzdem antwortete er: »Die Besitzerin des Ladens war zu dieser Zeit bei ihrer Cousine in Heraklion. Sonst hat keiner einen Schlüssel.«

Mein Vater war kurz davor zu explodieren. Das sah ich ihm an. Ich konnte das diesmal sogar nachvollziehen – das Märchen von dem einzigen Schlüssel war ein echter Witz.

»Sonst niemand, ja? Das glauben –«, setzte Papa an.

»Wir haben Ihren Leihwagen konfisziert«, schnitt ihm Neo hart das Wort ab.

»Wie bitte? Warum?«

»Zu Untersuchungszwecken«, sagte der Grieche knapp.

»Aber … Hören Sie, was soll das? – Wir brauchen den Wagen! Wir wollen weitersuchen!«

Tatsächlich hatten Papa und Eva geplant, nachher die Küste entlangzufahren und Lisas Steckbrief zu verteilen.

»Dann mieten Sie sich einen neuen«, konterte Neo unbarmherzig. »Außerdem ist die Suche nach der Vermissten Sache der Polizei, nicht Ihre.«

»Sie waren ja bisher sehr erfolgreich darin, meine Tochter wiederzufinden!«

»Genauso erfolgreich wie Sie, als es darum ging, auf das Kind aufzupassen.« Neo bedachte ihn mit einem abschätzigen Blick, dann zog er mit seinen Mannen wieder ab.

*

»… hat Lisa genau beschrieben! Das ist die erste heiße Spur!«

Eva und Papa platzten gegen 16 Uhr ins Hotelzimmer. Sie hatten sich tatsächlich einen neuen Mietwagen geliehen und ihr Vorhaben, weitere Steckbriefe unter den Leuten am Strand zu verteilen, in die Tat umgesetzt. Mich hatten sie im Hotel zurückgelassen, ich war einfach fix und fertig und mein Kreislauf schwächelte. Außerdem sei es gut, wenn jemand von der Familie in Malia bliebe, falls Lisa plötzlich wieder auftauchen sollte, hatte Eva noch gesagt, ehe sie ins Auto gestiegen war.

Ich war mir nicht sicher, ob sie selbst daran glaubte. Dass Lisa einfach plötzlich im Hotelfoyer stand, war doch völlig absurd.

Ich war vor dem tonlos laufenden Fernseher im Polstersessel eingenickt und schreckte durch das Eintreten der beiden aus meinem Dämmerschlaf hoch.

»Wir hätten weiter die Hotels abklappern sollen!«, fuhr Eva fort. »Im Hinterland gibt es ja noch Pensionen, vielleicht …«

»Das bringt doch nichts, Schatz! Du hast ja gehört, wie sie sich in den Hotels herausgewunden haben, als wir nach Lisa fragten und ihr Foto zeigten: Niemand will was gesehen haben. Und niemand gibt uns Auskunft darüber, ob bei ihnen neuerdings ein deutschsprachiges Mädchen einquartiert ist! Plötzlich ist ihnen der Datenschutz wichtig. Da muss die Polizei nachhaken. Außerdem ist ja überhaupt nicht gesagt, dass dieser Wirt wirklich unsere Tochter gesehen hat!«

Papa schien Evas Aktionsdrang nicht zu teilen. Die Ringe unter seinen Augen schienen noch dunkler geworden zu sein. Trotz seiner Bräune war er aschfahl. Sein kurzärmliges Hemd mit dem Karo-Muster war völlig durchgeschwitzt, die Haut an Armen und Beinen leuchtete rot. Anscheinend hatte er die Sonnencreme vergessen.

Er ging an mir vorbei zur Minibar und öffnete sich eine Dose Bier. Eva hockte sich auf die Bettkante. Gemessen an dem niedergeschmetterten Zustand, in dem sie das Hotel am Vormittag verlassen hatte, wirkte sie regelrecht aufgekratzt.

»Er hat sie genau beschrieben! Sogar das Muttermal an der Schulter hat er erwähnt! Und sie hat den ganzen Abend in der Taverne herumgequengelt und geweint – als wolle sie gar nicht bei diesem Paar am Tisch sitzen!«

»Eva, das beweist doch gar nichts.« Papa nahm einen Schluck Bier aus der Dose und schüttelte resigniert den Kopf.

»Wir müssen diesen Neokosmidis informieren!«, hielt Eva dagegen. »Dass der mit seinen Leuten sofort nach Kavros fährt und die Gegend durchkämmt!«

»Ja, natürlich«, sagte mein Vater und zückte gehorsam sein Handy. Ich wurde den Eindruck nicht los, dass er tief in seinem Inneren überzeugt war, dass der Plan sinnlos war.

»Was ist denn passiert?«, erkundigte ich mich vorsichtig, während Papa zum Telefonieren ins Zimmer nebenan wechselte, in dem Lisa und ich ein Doppelbett geteilt hatten.

»Lisa ist in Kavros gesichtet worden«, berichtete Eva. »Der Wirt einer Strandbar hat sie auf unserem Foto erkannt. Sie ist wohl dort irgendwo einquartiert, er hat sie mittlerweile schon zweimal gesehen.«

»Wo ist Kavros?«

»Rund hundertfünfzig Kilometer weiter, etwa zwei Stunden Autofahrt von hier entfernt. Ein Küstenort mit vielen Hotels, Shops und Tavernen. Wir haben heute alles dort abgesucht und überall gefragt – um dann beim zweiten Gespräch mit dem Wirt zu erfahren, dass das Paar, das Lisa bei sich hat, wohl für heute einen Tagsausflug plante!« Eva griff sich an die Stirn. »Kannst du dir das vorstellen, Lea? – Wir bangen hier um Lisas Leben, und diese Leute machen mit meiner Tochter Ausflüge!«

Allmählich verstand ich, warum sich Papa so zurückhaltend gab. Dass irgendein Paar Lisa entführte, sich dann in einem Hotel einquartierte und mit ihr Ausflüge unternahm, war einfach zu abgedreht. Es konnte nur auf Evas Verzweiflung zurückzuführen sein, dass sie sich so in dieser Vorstellung verbiss.

»Neokosmidis ist auf dem Weg zu uns.« Papa kam aus dem Nebenzimmer zurück. »In zehn Minuten ist er hier, sagt er, und er hat auch die Dame von der deutschen Botschaft dabei.«

»Ja, aber wieso auf dem Weg zu uns?« Eva runzelte die Stirn. »Er soll doch nach Kavros! Hast du ihm das denn nicht gesagt?«

»Ich kam gar nicht dazu. Der hat gleich davon geredet, dass er kommt, und die Dame von der Botschaft erwähnt.«

»Ich weiß gar nicht, warum wir uns überhaupt mit ihr treffen sollen … kann die denn irgendetwas bewirken?« Eva sah Papa aus ihren großen Augen an und wirkte hilflos und verletzlich zugleich. »Kann sie der griechischen Polizei vielleicht Druck machen? Wenn ja, ist es gut, dass sie mitkommt; ich weiß sowieso nicht, was ich von diesem Neokosmidis halten soll.«

Papa legte ihr die Hand auf die Schulter.

»Lass ihn reden. Wir haben uns nichts vorzuwerfen. Irgendein verdammter Irrer hat sich unsere Tochter geschnappt – und das hätten wir nicht verhindern können!«

Eva begann heftig zu schluchzen. In ihrem Kopf entstand vermutlich dasselbe Bild wie in meinem: ein perverser Pädophiler, der auf einer panisch weinenden Lisa lag und alles Erdenkliche mit ihr anstellte.

»Liebling, das … war ungeschickt formuliert. Ich meine, es ist alles möglich, vielleicht ist sie –«, begann Papa, unterbrach sich aber und starrte auf den Fernseher. Ich sah, wie er blass wurde, und drehte mich augenblicklich zum Bildschirm. Eine in Rosa gekleidete Nachrichtensprecherin bewegte die Lippen, während im Hintergrund Lisa eingeblendet wurde, das Foto, das meine Eltern der Polizei überlassen hatten. Papa griff nach der Fernbedienung und drehte den Ton an. Die Nachrichtensprecherin sprach griechisch, nur das Wort »Dellen« konnten wir verstehen – und es als unseren Nachnamen identifizieren.

»Oh mein Gott!« Eva griff sich an die Brust. »Wieso hat uns die Polizei nicht gesagt, dass sie jetzt die Medien einschalten?«

»Weil dieser hirnlose Muskelprotz nicht mit uns kooperieren, sondern sich selbst ein Denkmal setzen will«, presste Papa hervor. »So ein Idiot!«

»Aber es ist doch gut, wenn Lisas Foto auf diese Weise in ganz Griechenland verbreitet wird«, wandte ich ein. »Vielleicht ist sie ja längst nicht mehr auf Kreta, und dann …«

Im selben Augenblick klopfte es an die Tür. Neokosmidis betrat in Begleitung zweier Uniformierter das Zimmer, dicht gefolgt von einer Frau mit fülliger Figur und graublondem Oma-Haarschnitt. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm und blickdichte Nylonstrümpfe, bei denen ich mich sofort fragte, wie man es darin im Sommer aushielt. Dann fiel mir ein Bild aus dem Geschichtsunterricht ein und ich wusste: Sie sah aus wie die frühere amerikanische Außenministerin Madeleine Albright.

»Margarete Stretenfeld«, stellte die Frau sich meinen Eltern per Handschlag vor. »Deutsche Botschaft. Tut mir leid, dass wir uns erst jetzt einschalten, aber die Personaldecke ist zu Ferienzeiten recht dünn.«

Ihre Stimme war dunkel und voll. Dem Akzent nach kam sie aus Norddeutschland.

Unaufgefordert nahm sie auf der Sofaecke Platz, zu der auch der Polstersessel gehörte, in dem ich noch immer herumhockte.

»Das ist also Ihre ältere Tochter?«, wandte sie sich an meine Eltern, die sich nun zu uns stellten. »Die, der die Kleine verloren ging?«

Das elende Gefühl von Beschämung, das ich seit Lisas Verschwinden mit mir herumschleppte, wurde unerträglich. Wo war das Loch, in das ich mich stürzen konnte?!

»Ja, das ist Lea«, sagte Eva leise, während sie sich neben dem Albright-Verschnitt niederließ. »Sie hat nicht bemerkt, dass Lisa ihr folgt.«

Jetzt, da Fremde im Zimmer waren, hatte sie sich wieder völlig im Griff.

»Es gibt zwei gute und eine schlechte Nachricht.« Margarete Stretenfeld lehnte sich leicht vor. »Die schlechte ist, dass ihre Tochter noch nicht gefunden wurde. Die guten: Es wurde aber auch kein Leichenfund gemeldet, was bedeutet, dass sie noch am Leben sein kann. Und: Bei Sonderermittler Neokosmidis sind Sie in den besten Händen. Er ist Spezialist für Entführungsfälle.«

»Entführungsfälle?« Papa runzelte die Stirn. »Ist Lisa denn entführt worden? Ich meine: im klassischen Sinn?«

»Ich weiß nicht, was Sie mit im klassischen Sinn meinen, aber offensichtlich ist Ihre Tochter ja verschwunden. Da eine Vierjährige in der Regel nicht einfach durchbrennt, ist eine Entführung die wahrscheinlichste Erklärung.« Die Dame von der Botschaft nahm eine Mappe aus ihrer ledernen Aktentasche.

»Wir müssen einige Punkte durchgehen. Manches sind Sie vielleicht schon von der Polizei gefragt worden, aber wir müssen ein vollständiges Bild von der Situation bekommen, um Sie bestmöglich zu unterstützen.«

Während Papa und Eva alles zum x-ten Mal erzählten und sich die Frau Notizen machte, schlenderte Neo durchs Zimmer und beäugte alles, was nur irgendwie nach einem persönlichen Gegenstand aussah: Den Schminkkoffer auf dem weißen Tischchen vor dem Spiegel, das Buch auf Papas Nachttisch – irgendein Krimi –, Evas Sonnenbrille und sogar ihre Schuhe, die ordentlich aufgereiht unter dem Schminktisch standen. Dann bemerkte er die offene Verbindungstüre zu dem Zimmer, in dem ich mit Lisa geschlafen hatte, und verschwand darin.

»Wie hoch ist Ihr Haushaltsnettoeinkommen?«, hörte ich die Stretenfeld nun fragen, während ich zunehmend unruhiger wurde. Was genau machte dieser Typ dort nebenan?

Während meine Eltern zögernd ihre Vermögensverhältnisse darlegten, wuchs mein Unbehagen. Ich stellte mir vor, wie der Mann die Schranktüren öffnete, wie er meine BHs entdeckte und insgeheim über die dicken Push-up-Polster schmunzelte, die mich altergemäß entwickelt aussehen ließen. Schon allein die Vorstellung trieb mir die Röte ins Gesicht.

»Haben Sie Feinde?«, wollte der Albright-Verschnitt währenddessen wissen.

Meine Eltern sahen sich an, und kurz war ich von Neo und seinem möglichen Tun in meinem Kleiderschrank abgelenkt.

»Nein«, sagte Papa dann. »Nicht, dass ich wüsste.«

Frau Stretenfeld richtete ihren Blick auf Eva, die scheinbar davon ausging, dass die Frage damit beantwortet war.

»Und Sie?«

»Nein … nein, ich habe auch keine Feinde.«

Die Frau sah noch einmal in ihre Unterlagen, blätterte darin herum. »Das ist wohl nicht ganz richtig«, ließ sie Eva dann sichtlich verstimmt wissen. »Uns liegen Informationen vor, dass Sie vor vier Monaten Anzeige gegen einen gewissen Paul Sandler erstattet haben. Und im vergangenen Jahr zwei Anzeigen gegen Unbekannt wegen Beleidigung.«

»Himmelherrgott!« Eva verdrehte genervt die Augen. »Wenn Sie so gut recherchiert haben, wissen Sie auch, weshalb: Dieser Sandler hat mich über Wochen gestalkt. Und was die anderen Anzeigen betrifft: Ich hab’s satt, mich auf diversen Internetforen als Hure und elende Schlampe bezeichnen zu lassen, nur weil irgendeinem Spinner nicht passt, welches Kleid ich vor der Kamera getragen oder welchen Witz ich gerissen habe!«

»Dann lassen Sie uns aber zumindest festhalten, dass es sehr wohl Menschen gibt, die Ihnen nicht wohlgesonnen sind.« Die Frau ließ sich durch Evas emotionales Aufbegehren nicht aus der Ruhe bringen.

»Ich bezweifle wirklich, dass mir einer von diesen Spinnern nach Kreta gefolgt ist, um mein Kind zu entführen!« Eva schüttelte den Kopf. »Sie wissen nicht, wie das ist, prominent zu sein. Alleine, dass Ihr Name in irgendwelchen Klatschkolumnen erwähnt wird, reicht aus, um eine Menge kranker Persönlichkeiten anzuziehen, deren einziges Hobby darin besteht, Leute zu stalken oder zu beleidigen!«

»Ehrlich gesagt: Wenn ich mich nicht kurz in diesen Fall eingelesen und Hintergründe recherchiert hätte, wüsste ich überhaupt nicht, dass Sie prominent sind.« Die Botschaftsfrau kräuselte nachdenklich die Lippen. »Tja. Vermutlich liegt das daran, dass ich keine deutschen Privatsender einschalte. Was da so ausgestrahlt wird, interessiert mich nun wirklich nicht.«

Eva sah aus, als hätte man ihr eben eine schallende Ohrfeige verpasst. Die Bemerkung hatte sie an einem sehr empfindlichen Punkt getroffen.

»Hören Sie … wenn wir schon von Prominenz reden«, ergriff Papa nun das Wort. »Könnten Sie nicht dafür sorgen, dass die griechische Polizei uns besser über ihr Vorgehen informiert? Beispielsweise die landesweite Suchmeldung – wir haben gerade durch Zufall mitbekommen, dass Lisas Verschwinden in den griechischen Nachrichten kam, und ich bin sicher, es vergehen keine vierundzwanzig Stunden, bis hier die ersten deutschen Medien anrufen oder aufkreuzen. Meine Frau ist vielleicht nicht Julia Roberts oder Angelina Jolie, aber sie hat im deutschsprachigen Raum durchaus eine große Bekanntheit. Wir müssen uns wappnen, verstehen Sie? Das Hotel muss sich wappnen, der Ort … und auch dieser Ermittler. Es wäre sicher gut, ihm jemanden zur Seite zu stellen, der Erfahrung im Umgang mit der Presse hat.«

»Welche Vorkehrungen die griechische Polizei trifft, ist nicht meine Angelegenheit. Das müssten Sie mit Herrn Neokosmidis besprechen. Ich bin hier, um Sie zu unterstützen, sollten Sie etwas brauchen – einen Rechtsbeistand beispielsweise.«

»Wofür sollten wir denn –«, begann Eva, doch in diesem Moment kam Neo von seiner Erkundungstour zurück. In den Händen hielt er Lisas aufgeschlagenes Malbuch.

Er legte es vor uns auf den Tisch.

Wir alle – auch die Stretenfeld – schauten auf die Doppelseite: eine Frau mit gelben Haaren, ein Mann mit wenigen dunklen Haaren, ein kleines, gelbhaariges Mädchen an der Hand der blonden Frau. Etwas abseits davon stand ein größeres Mädchen mit schlammfarbener Struwwelpeterfrisur, einer großen Brille und überdimensionierten Klauenfingern. Ein senkrechter Strich trennte das Mädchen von der Familie. Doch das war nicht alles. Das auffälligste war die andere Zeichnung, mit dickem schwarzen Filzstift über das Bild von der Familie geschmiert: ein Galgen, an dem ein kleines Strichmännchen baumelte, unter dem unmissverständlich ein Name prangte: LISA. Im unteren Seitenrand des Blattes klaffte ein großer Riss.

»Das darf nicht wahr sein!« Eva starrte mich entsetzt an. »Hast du das etwa gemalt, Lea?«

Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit wünschte ich, unsichtbar zu werden. Tränen der Scham stiegen mir in die Augen.

»Ja«, gestand ich, was nun mal nicht zu leugnen war. »Aber doch nur, weil sie mich so geärgert hat!«

»Wie geärgert?«, erkundigte sich Neo.

Ich verbarg mein Gesicht in den Händen.

»Lea, beantworte Herrn Neokosmidis die Frage«, herrschte Papa mich an.

»Sie … hat gesagt, ich gehöre nicht zur Familie!«, platzte es aus mir heraus, in Erinnerung an den Moment, an dem mir Lisa ihr ach-so-tolles Bild unter die Nase gehalten und verkündet hatte: Das sind Mama, Papa und ich. Und dass da drüben hinter der Mauer bist du, weil du eine andere Mama hast als ich!

»Und wie kommt der Riss ins Bild?«, hakte der Ermittler nach.

»Ich hab es ihr weggenommen«, stammelte ich unter Tränen. Jetzt dachte Neo bestimmt, ich hätte Lisa um die Ecke gebracht! »Ja, ich habe den Galgen da reingemalt! Aber das heißt doch nicht, dass ich sie nicht lieb habe! Ich war einfach nur wütend!«

»Ein Streit unter Geschwistern«, kam mir Papa zur Hilfe, doch ich sah ihm an, wie nervös er war. »So was kommt ja öfter mal vor. Lea und Lisa sind da keine Ausnahmen. Leider.«

»Wann kam es denn zu eurem Streit?«

»Am Abend – bevor sie verschwand.« Ich senkte den Kopf. »Aber es hat wirklich nichts zu bedeuten.«

»Wirst du öfter mal so wütend?«

Neo klang interessiert, fast verständnisvoll. Trotzdem war mir klar, was seine Frage bezweckte. »Ich habe ihr nichts getan«, flüsterte ich. »Ehrlich nicht! Sie war doch meine Schwester!«

»War?«

Ich hatte wieder in der Vergangenheitsform gesprochen! Mir wurde heiß. Mein Peiniger ging vor mir in die Hocke und zwang mich, ihn direkt anzusehen.

»Manchmal tun wir Dinge, die wir nicht tun wollen«, sagte er langsam. »Einfach, weil wir wütend oder gekränkt sind. Es passiert im Affekt. Danach tut es uns leid, aber da ist es eben schon geschehen. Und in solchen Fällen ist es immer besser, wenn wir offen darüber reden. – Also, Lea: Was genau ist da zwischen euch passiert, als du mit Lisa am siebzehnten August alleine im Zimmer warst und eure Eltern am Strand lagen?«

»Nichts!« Ich schaute verzweifelt zu Papa, der mit fassungslosem Gesichtsausdruck unseren Dialog verfolgte. »Ich hab doch schon gesagt, dass sie nicht da war! Dass ich alleine vom Strand zum Hotel gegangen bin!«

»Ja, und dann hat Lisa an die Tür geklopft, weil sie dir gefolgt ist, und …«

»Jetzt machen Sie mal halblang!«, ging mein Vater endlich dazwischen. »Lea hat nichts mit Lisas Verschwinden zu tun!«

Neo richtete sich auf und durchbohrte ihn mit einem eisernen Blick. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch da meldete sich Lady Albright wieder zu Wort.

»Ich denke, wir sollten uns jetzt alle auf die wesentlichen Dinge konzentrieren«, sagte sie kühl, und zum ersten Mal fand ich sie zumindest ein bisschen sympathisch. »Zum Beispiel, wie wir mit der Medien-Causa umgehen werden.«

In knappen Worten setzte sie Neokosmidis davon in Kenntnis, was im schlimmsten Fall zu erwarten war, wenn deutsche Medien vom Verschwinden der Tochter einer deutschen Fernseh-Moderatorin erfahren würden. Ich stand auf und verzog mich nach nebenan, wo ich mich auf das Bett warf und meinen Tränen freien Lauf ließ.

Wie hatte ich nur diesen Galgen dort hinkrakeln können?!

Die Zeichnung war so primitiv und so dumm, dass ich mich schon allein dafür in Grund und Boden schämte. Dazu noch Lisas Namen unter das aufgehängte Strichmännchen zu schreiben, war der Gipfel! Auch wenn sie noch gar nicht lesen konnte. Der Schaden, der entstanden war, als ich ihr das Malbuch mit Gewalt abnahm, wäre Strafe genug gewesen. Sie hatte laut losgeheult, als ihr schönes Bild einriss.

Ich konnte jetzt selbst nicht mehr verstehen, warum ich so heftig reagiert hatte. Womöglich hatte sie nicht einmal verstanden, dass ihre Zeichnung mich kränkt, sondern einfach nur verarbeitet, was unsere Eltern ihr erst vor Kurzem erklärt hatten: dass nur sie in Evas Bauch war.

Mein tränenverhangener Blick fiel auf Mimi, Lisas kleine blaue Schmusekatze, die verwaist auf dem Bett lag. Ich griff sie mir und drückte sie eng an mich. Das Stofftier roch nach Lisas süßem Erdbeerduschgel, was mich erneut heftig aufschluchzen ließ.

Irgendwann jedoch versiegten meine Tränen. Resigniert starrte ich zur Zimmerdecke, während ich nebenan gedämpft die Stimmen der Erwachsenen hörte. Anscheinend waren sie gerade im Begriff, sich voneinander zu verabschieden. Ob die Leute nun endlich verschwinden würden? Ich stand auf und öffnete die Türe einen kleinen Spalt.

Alle hatten sich vom Sofa erhoben. Die Frau von der Botschaft reichte Papa gerade die Hand.

»Melden Sie sich, wenn Sie Unterstützung brauchen«, hörte ich sie sagen. »Und denken Sie an meine Worte: Solange keine Leiche gefunden wurde, gibt es noch Hoffnung.«

Im Trost spenden bräuchte sie dringend mal Nachhilfe.

Als sie weg war, standen Neo und seine uniformierten Begleiter noch immer im Zimmer.

»Wann werden Sie denn nun nach Kavros fahren und sich dort umschauen?«, wollte Eva wissen. »Am besten jetzt gleich! Wie ich schon sagte, der Tavernenwirt war sich wirklich sicher! Sie muss dort irgendwo untergebracht sein!«

»Ich schicke noch heute meine Leute dorthin. Ansonsten warten wir ab, ob Hinweise bei uns eingehen, jetzt, wo das Foto Ihrer Tochter landesweit ausgestrahlt wurde.«

»Und wann kriegen wir unseren Leihwagen wieder? – Die Mietwagenfirma hat schon nachgefragt«, fragte mein Vater.

»Im Moment laufen unsere Untersuchungen noch. Wir regeln das mit der Mietwagenfirma.«

»Ja. Aber ich verstehe nicht, wofür Sie unseren Wagen benötigen. Wir sind bisher nur zweimal darin gefahren und …«

»Wir werden Sie informieren, sobald er wieder freigegeben ist.« Der Ermittler und seine Begleiter gingen zur Tür.

»Das Malbuch.« Eva streckte zaghaft die Hand danach aus.

»Ist vorläufig konfisziert und Gegenstand der Untersuchungen«, ließ Neo sie wissen. Dann ging er.

*

»Du musst essen«, sagte mein Vater zu Eva. »Lass mich wenigstens etwas beim Room Service bestellen … irgendeine Kleinigkeit!«

»Ich will nichts.« Eva lag in Embryonalhaltung auf dem Bett. Blonde lange Strähnen hatten sich aus ihrem Haarknoten gelöst und fielen ihr ins Gesicht. »Ich kriege nichts runter, solange Lisa nicht wieder hier ist.«

»Schatz …« Papa setzte sich zu ihr ans Bett. »Du musst wirklich etwas essen. Es hilft Lisa gar nichts, wenn sie wieder zurückkommt und ihre Mutter dann nur noch aus Haut und Knochen besteht! Du musst bei Kräften bleiben!«

»Mir wird schon schlecht, wenn ich an Essen denke.« Eva sah ihn aus glasigen Augen an. »Geh du mit Lea in irgendein Bistro. Ich will einfach nur schlafen. Ich bin total kaputt.«

Auch wenn wir bezweifelten, dass sie ein Auge zubringen würde, verließen wir zehn Minuten später das Hotel. Papa wählte eine abgelegene Taverne am Ortsrand. Ich verstand, dass er für einen Moment nicht mit irgendwelchen Touristen über sein verschwundenes Kind reden wollte.

»Sie wissen jetzt, wer der Melonenfahrer ist«, durchbrach er das Schweigen, während wir auf die Souflaki und mit Fetakäse überbackenen Auberginen warteten. »Zumindest das hat Neokosmidis inzwischen herausgefunden.«

»Und?«

»Irgendein Albaner, der seit zwanzig Jahren in Griechenland lebt. Hat eine Frau und sieben Kinder.«

»Und vermutlich nichts gesehen«, setzte ich resigniert hinzu.

»Er ist vorbestraft wegen sexuellen Missbrauchs.«

»Was?« Ich starrte meinen Vater entsetzt an.

Papa seufzte.

»Die Polizei informiert uns ja nicht wirklich. Die haben ihn wohl verhört, sagen uns aber nichts Genaueres.« Er sah mich prüfend an. »Du erzählst Eva nichts davon, okay? – Wenn sie das hört, flippt sie aus!«

Ich hatte nicht vor, Eva in noch größere Panik zu versetzen. Gleichzeitig fragte ich mich, warum er es mir erzählte. Brauchte er jemanden zum Reden? – Unvermittelt stieg in mir ein Glücksgefühl auf: Papa vertraute mir etwas an wie einer Erwachsenen, und nicht Eva! Zeitgleich schämte ich mich für diese Freude, wo die neue Information doch so erschreckend war.

»Die Albaner sind doch bekannt für Mädchenhandel, oder? Ich habe neulich einen Artikel gelesen, da hat ein Albaner Mädchen aus Serbien und Mazedonien nach Frankreich geholt und von dort aus in Bordelle in ganz Europa verkauft.«

Papa starrte gedankenverloren durch sein Bierglas hindurch. Hatte er mir überhaupt zugehört?

»Das ist etwas anderes, Lea«, sagte er dann plötzlich. »Im Übrigen mag ich es nicht, wenn du Vorurteile wiederkäust. Nur, weil du so einen Artikel gelesen hast, heißt das nicht, dass alle Albaner Mädchenhändler sind.«

»Hab ich ja auch nicht gesagt.«

Jetzt starrte ich in mein Glas. Irgendwie machte ich in Papas Augen wohl nichts richtig.

»Du solltest im Allgemeinen mehr darauf achten, was du sagst und tust«, fuhr er fort. »Erst behauptest du, wir hätten dich weniger lieb als Lisa, dann kritzelst du so eine dumme Zeichnung in ihr Malbuch! – Weißt du eigentlich, wie das bei Außenstehenden ankommt? Als ob du stockeifersüchtig auf deine kleine Schwester bist! Du bist zehn Jahre älter! Ihr habt doch kein Konkurrenzverhältnis, verdammt!«

»Ich habe Lisa nichts getan!«, verteidigte ich mich. »Ich hab sie doch lieb! Ehrlich!«

»Dann erzähle nicht immer so einen Blödsinn – vor allem nicht einem Polizisten, der uns aus irgendwelchen Gründen sowieso einen Strick drehen will. Und natürlich hast du Lisa nichts getan. Wir wissen das. Aber hättest du dich einfach nur ein einziges Mal umgedreht …!«

Die nächsten Minuten saßen wir stumm. Mein Magen rebellierte. Ich war sicher, dass ich nichts essen könnte. Doch als die Auberginen vor mir standen und mir ihr verführerischer Duft in die Nase stieg, kam unerwartet mein Appetit zurück.

Das Essen verlief schweigsam. Papa kaute an seinem Souflaki, kämpfte tapfer mit seinen Pommes und spülte alles mit viel Rotwein herunter. Sein Teller war schließlich sogar leer, doch er war so blass, dass ich Angst hatte, er würde sich gleich übergeben. Den Ouzo, der ihm mit der Rechnung gereicht wurde, trank er mit einem Schluck. Danach kehrte das Blut in seine Wangen zurück.

Auf dem Weg zurück zum Hotel ertappte ich mich dabei, wie ich unter den Menschen, die uns entgegenspazierten, nach Lisa Ausschau hielt. Immer wenn ich ein kleines blondes Mädchen entdeckte, zuckte ich unwillkürlich zusammen.

An der Hotelzimmertür angekommen, brauchte mein Vater drei Versuche, um die Schlüsselkarte in den Schlitz zu schieben. Ihm zitterte die Hand, und er schien Probleme zu haben, seine Bewegungen zu koordinieren. Drinnen ließ er sich erschöpft auf das Bett sinken und schloss die Augen. Sekunden später hörte ich ihn auch schon schnarchen. Offenbar hatte der Alkohol geholfen, seine Sorge um Lisa einen Moment lang zur Seite zu schieben.

Evas Betthälfte war leer.

Ich hörte ihre Stimme hinter der geschlossenen Tür zu meinem Zimmer. Als ich eintrat, fand ich sie auf dem Bett. Sie hatte Lisas blaue Katze Mimi an sich gedrückt und schluchzte ins Handy. Was ich an Wortfetzen mitbekam, reichte aus, um zu wissen, dass sie mit Oma Betty telefonierte. Betty Sartorius war selbst erst aus den USA zurückgekehrt, wo sie mit einem ihrer Lover in Miami Golf gespielt hatte, und da Evas Verhältnis zu ihrer Mutter eher von Distanz geprägt war, hatte sie sie nicht sofort über die Geschehnisse in Kreta informiert.

Je länger ich zuhörte, desto besser konnte ich Evas Entscheidung nachvollziehen. Auch wenn ich nicht hörte, was Oma Betty von sich gab, war klar, dass sie sich ebenso gut auf das Trösten verstand wie die Frau von der Botschaft.

Ich wollte gerade verschwinden, um zu duschen, als ich Eva sagen hörte: »Wir dachten doch, dass Lisa bei Lea in guten Händen ist. Normalerweise ist Lea ja sehr verantwortungsbewusst. Aber diesmal hat sie einfach nicht genug achtgegeben!«

Ihrer Aussage folgte ein neuerlicher Weinanfall.

Ich hatte genug gehört. Ich schloss die Türe hinter mir und verzog mich ins Badezimmer. Das lauwarme Wasser lief über meinen Körper und vermischte sich mit meinen Tränen.

Ich war die, die sich nicht um Lisa gekümmert hatte!

Ich war die, die sich auf dem Weg zum Hotel nicht umgedreht hatte!

Die Schuld kroch wie Gift in meine Knochen und setzte sich darin genauso fest wie die Erkenntnis, dass nichts mehr gut werden würde.

*

Bummbummbumm.

Ein Geräusch ließ mich hochfahren. Es war dämmrig im Zimmer. Benommen richtete ich mich auf und erkannte, dass ich noch immer auf dem Sofa lag, auf dem ich mich ausgestreckt hatte, weil Eva mein Zimmer bis lange nach Mitternacht als Telefonzentrale missbraucht hatte. Anscheinend hatte sie nicht nur Oma Betty informiert, sondern auch einige Freundinnen und Kollegen. Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und griff nach meiner Brille, die auf dem Tisch lag.

Bummbummbumm.

»Herr und Frau Dahlen! Machen Sie sofort auf! Polizei.«

Jemand hämmerte gegen die Türe, und die Stimme verriet auch, um wen es sich handelte: Neo, der Sonderermittler.

Papa war mit einem Sprung aus dem Bett, beim Lichtschalter und mit ein paar Schritten am Eingang. Ehe er öffnete, trafen sich unsere Blicke. Ich las in seinen Augen, dass er dasselbe dachte wie ich: Sie würden uns gleich das Schlimmste sagen.

Neo rauschte mit vier Kerlen in Uniform in unser Zimmer, als wäre es mittlerweile sein zweites Zuhause. Ich war froh, dass ich gestern in Shorts und T-Shirt eingeschlafen war, nicht im Nachthemd. Dass mein Vater nur in Unterhose vor ihm stand, kümmerte ihn nicht.

»Wo ist Ihre Frau?«

»Nebenan. Sie schläft noch.«

»Dann wecken Sie sie.«

»Hören Sie, es ist noch nicht mal fünf Uhr früh! Vielleicht sollten wir erst mal alleine reden …«, begann Papa zaghaft. Ich wusste genau, dass er die Nachricht erst einmal für sich verdauen wollte, ehe er Eva trösten konnte, die sicher noch viel emotionaler reagieren würde als er.

»Holen Sie bitte Ihre Frau.«

Der Grieche hatte wieder diesen undurchdringlichen Gesichtsausdruck, der nicht zu erkennen gab, was in ihm vorging und was er im Schilde führte.

Papa ging nach nebenan. Ich hörte ihn mit Eva reden, während Neo sich im Zimmer umsah. »Lassen dich deine Eltern immer auf dem Sofa schlafen?«, fragte er mich.

Ich fühlte mich unwohl unter seinem stechenden Blick. Meine Kehle war ganz kratzig. Ich musste mich räuspern, doch ehe mir auch nur ein einziger Laut über die Lippen kommen wollte, kehrten meine Eltern zurück. Eva trug noch immer ihr geblümtes Sommerkleid vom Vortag.

»Setzen wir uns kurz«, sagte Neo und wies auf das Sofa.

»Einen Moment, ich ziehe mir schnell was über.«

Papa ging zum Schrank. Einer der Uniformierten folgte ihm, was ich seltsam fand. Noch seltsamer fand ich, dass er seinen Kopf tief in den Schrank steckte, als Papa die Türen öffnete.

Was ging hier vor sich?

»Bitte … sagen Sie es mir. Haben Sie sie gefunden?«

Evas Stimme zitterte.

»Setzen Sie sich!«

Die Aufforderung klang diesmal wie ein Befehl.

Wie aufgefädelt saßen wir Augenblicke später auf dem Sofa, während Neo im Sessel Platz nahm und die Beine übereinander schlug.

»Welche Blutgruppe hat Ihre Tochter?«

Eva wurde noch blasser, und mein Magen verkrampfte sich.

»Das haben wir Ihnen doch schon gesagt. Blutgruppe Null«, sagte Papa leise. »Haben Sie sie etwa …«

»Nein, aber wir werden sie bald finden.« Neo wirkte einen Moment lang sichtlich zufrieden. Dann wurden seine Gesichtszüge hart. »Und zwar dann, wenn Sie beide mir nun sagen, wo Sie die Leiche Ihrer Tochter haben verschwinden lassen!«

Meine Eltern wechselten einen völlig verstörten Blick.

»Wie meinen Sie das?«, fragte mein Vater nahezu tonlos.

»Es fanden sich Spuren von Blut im Kofferraum des Leihwagens«, bekam er zur Antwort. »Es ist eindeutig das Blut Ihrer Tochter Lisa.«

Papa sah so geschockt aus, dass nichts an ihm mehr an den Mann erinnerte, der in der Familie den Ton angab und in der Regel immer das letzte Wort haben wollte. Auf Evas Stirn hatten sich tiefe Falten gebildet.

»Das kann nicht sein«, sagte sie. »Ich meine, wie soll denn Blut von Lisa in den Kofferraum gekommen sein? Und überhaupt …« Allmählich schien ihr vollumfänglich zu dämmern, welchem Verdacht sie und Papa ausgesetzt waren. »Sie glauben doch nicht im Ernst, dass wir unsere eigene Tochter umgebracht haben und sie dann als vermisst melden? Warum, um Himmels willen, sollten wir das tun?«

»Ich sage ja nicht, dass es Absicht war.« Neo hob die Schultern, als teilte er uns irgendeine Banalität mit. »Aus unserer Sicht verlief die Sache so: Lisa ist Lea vom Strand zum Hotel gefolgt. Lea hat Lisa ins Hotelzimmer gelassen. Dabei sind die beiden aneinandergeraten. Lea wollte alleine sein, die Kleine hat genervt, es kam zu Gerangel …«

»Jetzt hören Sie aber auf!«, ging Papa dazwischen, während mir angesichts dieser Vorwürfe schon die Tränen in die Augen schossen. »Das ist doch nichts als Spekulation!«

»Ein Unfall – die Folge eines Streits unter Geschwistern, wovon die eine«, er wies mit seinem kantigen Kinn auf mich, »auf die andere eifersüchtig ist. Da war eben mehr Wut im Spiel, und ein Schlag fiel härter aus. Vielleicht ist Lisa so hart gegen die Bettkante gefallen, dass sie gleich tot war. Lea kam dann zu Ihnen an den Strand und hat alles gestanden. Um Ihre Älteste nicht auch noch zu verlieren – in dem Fall an eine Jugendstrafanstalt –, haben Sie Lisas Leiche verschwinden lassen. Sie haben sie in den Kofferraum gepackt und sind mit ihr an einen Ort gefahren, wo sie so schnell niemand findet. Und danach haben Sie dieses Theater mit der Vermisstenanzeige initiiert, um sich von jeglichem Verdacht reinzuwaschen. – Also, Herr Dahlen, wo haben Sie die Leiche hingebracht? Sie sparen uns eine Menge Zeit und Nerven, wenn Sie einfach gestehen!«

Das war zu viel für mich. »Aber so war es nicht!«, schluchzte ich auf und fing an zu weinen. »Das ist alles nicht wahr!«

Papa sagte nichts. Er starrte einfach nur auf die gläserne Tischplatte. Auch alle anderen ignorierten meinen Ausbruch – alle bis auf Neo, der mich argwöhnisch musterte.

»Hören Sie auf!«, stöhnte Eva. »Das ist doch völlig absurd! Lea wusste nicht, dass Lisa ihr nachkam, wie oft sollen wir Ihnen das noch sagen! Sie kam völlig gelassen an den Strand zurück. Erst als wir sie nach Lisa gefragt haben, kam Panik auf, und zwar bei uns allen! – Sie haben doch genug Zeugen, die alles mitbekommen haben. Fragen Sie sie einfach!«

»Möglicherweise hat Ihnen Ihr Mann ja nicht alles gesagt, Frau Dahlen?«

»Was soll das wieder heißen?!« Eva funkelte ihn wütend an. Einen Moment lang war der Kummer um Lisa Nebensache.

»Wir sind mit diesem Leihwagen nur zweimal gefahren«, mischte sich mein Vater in sachlichem Ton ein. »Einmal vom Flughafen zum Hotel und am nächsten Tag abends kurz in die Altstadt! Danach stand er nur am Parkplatz. Selbst wenn Ihre absurde Idee wahr wäre – wie, bitteschön, hätten wir eine Leiche ungesehen durchs Hotel bis zum Auto schleppen sollen?«

»Sie haben den Wagen nicht vor dem Hotel geparkt«, hielt ihm Neo entgegen. »Er stand auf einem unbeleuchteten öffentlichen Parkplatz dahinter. Sie haben ihn dort geparkt, weil Sie die Leiche so über den Keller und durch den Lieferantenausgang aus der Anlage hinausbringen konnten.«

Langsam beruhigte ich mich wieder und begann zu begreifen, was der Ermittler da behauptete. Allerdings hatte ich den Eindruck, dass er keine klare Vorstellung von den Abläufen hatte. Unser Ausflug nach Malia-Altstadt hatte am Abend vor Lisas Verschwinden stattgefunden. Wie hätte mein Vater da schon wissen können, dass er am nächsten Tag meine tote Schwester aus dem Hotelzimmer bugsieren müsste?

»Ich habe das Auto hinten geparkt, weil vor dem Hotel alles voll war und der Portier mich zu diesem Platz geschickt hat«, erläuterte Papa matt, was sowohl Eva als auch ich bestätigen konnten. Schließlich hatten wir mit ihm im Wagen gesessen.

Neo überging seine Erklärung.

»Wie auch immer. Sie, Herr Dahlen, werden uns auf das Kommissariat nach Heraklion begleiten.«

»Wieso?« Papa stand auf und stemmte die Hände in die Hüften. »Das lasse ich mir sicher nicht bieten! Wir sind hier die Opfer, verstehen Sie das?! Sie wollen sich die Arbeit leicht machen und den Fall schnell zu den Akten legen, weil Sie unfähig sind, meine Tochter zu finden!«

»Die Indizien sprechen im Moment gegen Sie«, erwiderte Neo knapp. »Es gibt eine Zeugin, die sie in der Nacht des siebzehnten August mit einem Gegenstand, der in eine Decke gewickelt war, durch den Keller zum Parkplatz gehen sah.«

»Was?! – So ein Schwachsinn!« In Papas Blick mischten sich Wut und Verzweiflung. »Das ist eine blanke Unterstellung! Meine Frau und ich waren die ganze Zeit zusammen, und wir sind nie durch den …«

»Doch«, fiel Eva ein. »Wir sind ja mit dem Auto herumgefahren, um nach Lisa zu suchen! Aber wir haben nichts in Händen getragen – außer meiner Handtasche.«

»Und da sind Sie durch den Keller gegangen«, stellte Neo nüchtern fest. »Also kannten Sie den Ausgang.«

»Der Portier hat uns das –«

Der Ermittler ließ Eva nicht ausreden. »Wir müssen jedenfalls jetzt Ihr Zimmer auf Spuren durchsuchen. Ihr Mann –«

»Sie müssen unser Hotelzimmer durchsuchen? Sind Sie noch ganz bei Trost?« Papa schnappte nach Luft.

»Durchaus. Ich bin ein Experte auf meinem Gebiet.« Neo öffnete die Türe. Sechs Gestalten in weißen Anzügen, wie ich sie bisher nur aus TV-Krimis kannte, fielen in unsere Familiensuite ein und begannen, Schränke, Betten, Kommoden und die ausgeräumten Koffer unter die Lupe zu nehmen.

»Das können Sie doch nicht machen«, sagte Eva hilflos.

»Doch, können wir.« Neo winkte zwei seiner Uniformierten herbei, die meinen Vater seitlich eskortierten, als sie mit ihm zur Tür hinaus verschwanden. Eva und ich saßen da wie gelähmt.

»Und Sie«, sagte Neo zu meiner Stiefmutter, als er schon auf der Schwelle stand, »warten am besten unten und lassen meine Männer ihre Arbeit tun. Abreise ist übrigens nicht drin. Ihre Tochter und Sie dürfen das Land nicht verlassen, ehe die Ermittlungen abgeschlossen sind.«

*

Margarete Stretenfeld trug dasselbe blaue Kostüm wie am Vortag. Sogar ihr Lidstrich war so schief wie gestern. Hatte sie überhaupt geschlafen?

»Jetzt beruhigen Sie sich erst einmal«, sagte sie zu Eva, die völlig aufgelöst war. »Selbstverständlich tun wir alles, um Sie und Ihre Familie zu unterstützen. Dafür sind wir von der Deutschen Botschaft ja da. Aber zeigen Sie sich bitte kooperativ, was die Zusammenarbeit mit der griechischen Polizei angeht, und stellen Sie deren Arbeit nicht in Frage. Die sind da nicht weniger empfindlich als deutsche Ermittler!«

Da in unserem Hotelzimmer noch immer die Spurensicherung herumgeisterte, hockten wir in der klimatisierten Hotelbar, die um diese Zeit – es war erst gegen sieben Uhr – eigentlich geschlossen hatte. Eine schlaksige junge Kellnerin stand hinter der Theke und sortierte Gläser ein, ohne uns weiter Aufmerksamkeit zu schenken.

»Die sind frühmorgens in unser Zimmer gestürmt, haben meinen Mann verhaftet und durchwühlen jetzt unsere Privatsachen!« Eva schüttelte fassungslos den Kopf. »Da fällt es wirklich schwer, höflich zu bleiben, Frau Stretenfeld!«

Margarete Stretenfeld tätschelte ihre Hand und ließ zum ersten Mal einen Hauch von Menschlichkeit erkennen.

»Ich verstehe, dass Sie aufgebracht sind. Aber die griechische Polizei tut nur ihre Arbeit. Glauben Sie mir.«

Als hätte sie unbeabsichtigt das Stichwort gegeben, richtete Eva nun die Augen hart auf ihr Gegenüber.

»Und glauben Sie mir bitte eines: Wir haben mit dem Verschwinden unserer Tochter nichts zu tun! Das ist lächerlich!«

»Herr Neokosmidis ist ein hervorragender Mann und wird sicher bald erkennen, was Sache ist«. Er hat einen exzellenten Ruf und ist sehr ehrgeizig.«

»Ich weiß nicht einmal, wonach die suchen!«

»Nach Blutspuren, nehme ich an«, erwiderte die Stretenfeld. »Wenn in Ihrem Leihwagen welche gefunden wurden, wird nun wohl überprüft, ob es im Zimmer auch welche gibt.«

Eva lachte bitter.

»Das wird ja immer absurder! – Mein Mann verhaftet …«

»Ihr Mann wurde nicht verhaftet, sondern zu einer Anhörung nach Heraklion gebracht. Ihm wird von Seiten der deutschen Botschaft selbstverständlich ein Anwalt zur Seite gestellt. – Glauben Sie mir, Frau Dahlen: wir kümmern uns um unsere Staatsbürger!«

Es klang, als hätte sie eine Schulung durchlaufen, bei der ihr dieser Satz als Notlösung eingebläut worden war, falls sie sonst nichts mehr zu sagen wusste. Im selben Moment klingelte ein Handy. Es war das von Frau Stretenfeld.

Sie sah kurz auf das Display des Geräts, das aussah, als käme es aus einem Museum. Dann stand sie auf und verließ die Bar. Als sie zurückkehrte, war ihr Gesicht wie versteinert.

»Aber damit wir uns kümmern können, müssen Sie auch ehrlich zu uns sein«, fuhr sie fort, als hätte es keine Unterbrechung in dem Gespräch gegeben. »Es ist nicht sinnvoll, wenn Sie uns etwas verschweigen.«

Eva blinzelte verwirrt.

»Ich habe Ihnen nichts verschwiegen.«

»Nun, gestern hatten wir über Ihre Vermögensverhältnisse gesprochen. Ich habe ein bisschen recherchiert. Ihre Angaben sind nicht ganz korrekt. Sie besitzen außerdem eine Villa mit über dreihundert Quadratmeter Wohnfläche am Starnberger See, inklusive Seezugang.«

»Die gehört meiner Mutter!«

Frau Stretenfeld sah Eva so tadelnd an, als sei sie ein Kind, das trotz teuren Nachhilfeunterrichts schon wieder eine schlechte Note mit nach Hause gebracht hat.

»Laut Grundbuch gehört sie Ihnen.«

»Ja, aber …« Eva atmete tief durch. »Mein Vater hat sie mir noch zu seinen Lebzeiten überschrieben – aus steuerlichen Gründen. Meine Mutter hat jedoch Wohnrecht auf Lebenszeit und kümmert sich um den Erhalt. Ich bin da schon lange ausgezogen und … tja, es weiß im Grunde keiner, dass die Villa auf mich überschrieben ist. Warum ist das überhaupt wichtig?«

»Schon einmal an Kidnapping gedacht? – Sie sind nicht nur eine Frau mit einem gewissen Bekanntheitsgrad, sondern auch sehr wohlhabend. Wenn es jemand darauf anlegt, findet er das genauso heraus wie ich. Ihr Kind zu entführen und Lösegeld zu erpressen, ist quasi der nächste Schritt.«

»Aber es gibt doch gar keine Lösegeldforderung!«, schaltete ich mich ein, weil Eva die Worte versiegten.

»Falsch.« Margarete Stretenfeld machte eine bedeutungsschwangere Pause, ehe sie hinzusetzte: »Ich wurde gerade informiert, dass es jetzt eine gibt.«