Ausgerissen

27. – 29. Mai 2018

Es ist Sonntag, und mein Vater hat die Idee, unser tägliches Treffen mit Lisa diesmal außerhalb des Kinderheims abzuhalten. Francesca Capelli gibt sofort grünes Licht. Denn Lisa hat sich auch am Vortag wieder recht kooperativ verhalten. Sie antwortet höflich auf Fragen, wenn auch distanziert, und zeigt keinerlei aggressives Verhalten.

Ich habe trotzdem meine Zweifel, dass sie uns allmählich als ihre Familie akzeptiert. Manchmal liegt etwas in ihrem Blick, das mir verrät, wie sehr sie diese erzwungenen Zusammenkünfte hasst. Wenn sie uns zum Abschied mit den in Italien üblichen Wangenküssen verabschiedet, wird ihr Körper ganz steif, sobald jemand von uns sie dabei enger umarmen möchte.

Allerdings klappt die Verständigung inzwischen tatsächlich auch ohne Übersetzerin, da uns Lisa mit ziemlich guten Englischkenntnissen überrascht hat. Nur an ihrer Aussprache hapert es. Manchmal klingt es wie ein sonderbares Italienisch. Die meiste Zeit mischt sie ohnehin beide Sprachen. Es reicht für eine Unterhaltung, die aber immer von uns ausgeht. Von ihr kommt nie eine Frage, auch nichts wirklich Persönliches. So langsam drehen sich unsere Gespräche im Kreis.

Wenn Lisa spricht, dann meistens über Erlebnisse auf dem Segelboot oder auf irgendwelchen fernen Inseln. In ihrem englisch-italienischen Kauderwelsch erzählt sie witzige, manchmal auch absurde Geschichten, bei denen unklar bleibt, ob sie ihrer Phantasie entspringen oder wirklich passiert sind. Glaubt man ihren Berichten, ist sie bereits x-mal mit Delfinen geschwommen, hat ein Walbaby gestreichelt, ein Stachelschwein mit einer Lanze erlegt, ein Boot aus Bambus gebaut und einen Pinguin gezähmt. Das sind die schönen Dinge, die man glauben möchte. Doch Lisa kann auch mit Gruselgeschichten aufwarten – dann, wenn sie von einem Piratenangriff erzählt, von dem Hai, der ihren Papa in den Arm gebissen hat, von Menschenknochen, die überall an einem Strand lagen, oder halbverhungerten Kindern, die ihre Mutter – also Sonia Ferraro – mit Zwieback fütterte und die am nächsten Tag trotzdem tot waren.

Wir reagieren auf Lisas Geschichten mit der Hilflosigkeit von Leuten, deren letzter Pauschalurlaub in Griechenland fast sieben Jahre zurückliegt. Wenn Lisa von Tod und Verderben berichtet, macht Eva ein betretenes Gesicht, und mein Vater lenkt auf irgendein schönes Thema über wie das sonnige Wetter oder irgendeinen hübschen Vogel, den er angeblich im Baum entdeckt hat. Lisa ist dieses Ausweichen nicht entgangen. Ich unterstelle ihr mittlerweile ein diebisches Vergnügen darin, uns absichtlich ihre schlimmsten Reiseerlebnisse zu erzählen.

Auch jetzt, da wir in einer Eisdiele nahe der Kathedrale San Lorenzo sitzen und ihr Blick auf ein etwas molliges Mädchen fällt, das mit seinem weißen Vater und der dunkelhäutigen Mutter an einem der Nachbartische sitzt und den Löffel in einem riesengroßen Früchteeisbecher versenkt.

»Soon she will marry … sposare – an old and hugely man!« Lisa verzieht den Mund, als hätte sie Mitleid, doch ihre Augen verraten mir, dass sie lediglich darauf brennt, uns eine weitere Horrorstory zu erzählen. Und schon kommt sie.

»In Africa … we were at a wedding. La ragazza … she was twelf years old and was locked in a cage for … tre mesi! She has … had to eat and to drink … latte di cammello. After that, she married an old man and«, sie breitet ihre Arme zu einer theatralischen Geste aus, »next day, lei è morta!«

Ich erinnere mich, einmal über dem grausamen mauretanischen Brauch, Mädchen vor und in der Pubertät mit Kamelmilch zu mästen, gelesen zu haben.

»Ich glaube nicht, dass dieses Mädchen bald heiraten wird«, sagt Eva schließlich auf Englisch. »Sie ist in deinem Alter und ich höre, dass sie mit ihren Eltern Englisch spricht. Vermutlich sind das amerikanische Touristen.«

»Ho ragione! I do not lie!« Lisa springt wutentbrannt auf und stößt gegen den Kellner, der unsere Eisbecher bringt. Allein seinem routinierten Geschick ist zu verdanken, dass er das Tablett noch stabilisieren kann und sein Gleichgewicht wiederfindet. Die Köpfe der amerikanischen Touristen sowie ein paar andere drehen sich in unsere Richtung. Lisa wirft ihr Haar in den Nacken und lächelt kokett. Es ist eindeutig, dass sie die plötzliche Aufmerksamkeit genießt. Dann setzt sie sich hin, als wäre nichts geschehen, und taucht ihren Eislöffel in den Sahneberg, der vor ihr steht.

Wir löffeln schweigend unser Eis. Einen Moment lang kommt es mir vor, als wären wir eine ganz normale Familie: Vater, Mutter, große Schwester, kleine Schwester auf Italien-Urlaub. Trotzdem beschäftigt mich die Frage, was in Lisas Innerem wohl vor sich gehen mag. Obwohl sie die Leute, die sie jahrelang für ihre Eltern hielt, nicht mehr erwähnt hat, kann ich mir schwer vorstellen, dass sie nicht mehr an sie denkt und die Situation so akzeptiert, wie sie ist.

Eva und sie sitzen nebeneinander. Auch wenn Evas Haar kurzgeschnitten ist und Lisas lang, die Gesichtszüge lassen keinen Zweifel zu, dass es sich um Mutter und Tochter handelt. Obendrein tragen beide heute ein rotes Oberteil. Eva eine luftige teure Tunika, Lisa ein altes, ausgewaschenes T-Shirt. Ob diese Klamotten wohl vom Kinderheim stammen?

Ich frage ich mich auch, ob Lisa sich dessen bewusst ist. Hat sie sich in der Vergangenheit nie gewundert, dass ihre sogenannten Eltern ganz anders aussahen? Oder hatte sie vielleicht sogar vermeintliche Ähnlichkeiten entdeckt?

Ich habe Maurizio Ferraro, den Segler, inzwischen gegoogelt. Es gibt viele Fotos von dem sportlichen Mann mit dem hellbraunen Haar, wie er in Seglerkluft auf einem Sportboot Wind und Wellen trotzt. Auch ein YouTube-Video von ihm habe ich entdeckt, in dem er von einem italienischen Sportjournalisten zu irgendeinem Weltcup befragt wurde. Er wirkte ehrgeizig, aber gleichzeitig so sympathisch, dass ich mich fragte, wie ein Mann wie er so tief sinken und das Kind einer anderen Familie klauen konnte. Zugegeben, das Interview war vor 2011 aufgezeichnet worden, also ehe seine eigene Tochter ums Leben kam. Möglicherweise hat ihr Tod ihn so verändert.

Von Sonia Ferraro kenne ich nur einige Artikel, die auf diversen Online-Reisemagazinen zu finden waren. Ich habe nach wie vor kein Bild von ihr vor Augen. Es gibt zu viele Sonia Ferraros im Netz.

Wie die beiden es angestellt hatten, Lisa zu entführen, wird wohl immer ein Rätsel bleiben. Maurizio Ferraro ist tot, seine Frau Sonia liegt im Koma, da kommen die Details nie ans Licht.

»Guardate la negra! Sta mangiando tutte le cialde!«

Lisas Eisbecher ist leer, und ihre Aufmerksamkeit gilt wieder ihrer amerikanischen Altersgenossin, die eine ganze Packung Waffeln auf einmal in ihrem Mund verschwinden lässt, ohne dass ihre Eltern eingreifen. Da Lisa jedoch lauthals durch das Lokal geschrien hat, gucken wieder alle in unsere Richtung. Die Amerikaner schauen irritiert. Man muss kein Italienisch können, um zumindest das negra zu verstehen.

Eine zarte Röte überzieht Evas Gesicht. Sie schickt ein entschuldigendes Lächeln in Richtung der Touristen.

Mein Vater runzelt die Stirn und blickt Lisa mahnend an. Für sie ist das Ansporn genug, um mit einem bösen Grinsen im Gesicht weiterzureden.

»She has to get fat for her marriage! I was right!«

Auch diesmal hat sie nicht an Lautstärke gespart. Eva sieht aus, als würde sie am liebsten gleich im Boden versinken.

»Sei endlich still!«, zischt mein Vater – auf Deutsch, was Lisa mit leisem Grinsen erwidern lässt: »Non capisco niente!« Dann springt sie so heftig auf, dass sie dabei gegen das Tischbein stößt. Das Glas Wasser, das Eva mitbestellt hat, fällt prompt um, der Inhalt läuft über die Tischplatte und tropft auf Evas Kleidung.

»Lisa! It’s enough!«, platzt meinem Vater der Kragen, doch sie kümmert das wenig.

Sie müsse mal, lässt sie uns frech wissen und wählt dabei absichtlich eine derbe Ausdrucksweise. Schon marschiert sie los. Der Restauranteingang liegt links von uns, doch ich sehe, dass Lisa eher nach rechts in Richtung Straße tendiert. Von einer dunklen Vorahnung ergriffen, springe ich auf, laufe ihr nach und eskortiere sie zu den Toiletten. Nahezu erleichtert stelle ich fest, dass Lisa ihrem Bedürfnis freien Lauf lässt.

Als wir zum Tisch zurückkehren, haben meine Eltern schon gezahlt.

»Halb vier«, stellt Eva mit einem Blick auf ihre kleine goldene Uhr fest. »Es bleiben uns noch eineinhalb Stunden, ehe wir Lisa wieder abliefern müssen.«

»Also, mir ist das herzlich egal, was diese Francesca sagt«, entgegnet mein Vater. »Es ist unser Kind. Und wenn wir erst um sechs mit ihr zurückkommen, ist das allein unsere Sache.«

»Ach, Dieter.« Eva verzieht unwillig das Gesicht. »Wir haben das zugesichert. Dieses Heim hat eben auch seine Regeln. Ich will da nicht die Abläufe stören und Ärger machen.«

»Du kennst meine Meinung: Wenn es nach mir ginge, würde ich sie einfach mitnehmen und ab nach Hause! Hier in Italien rumsitzen, damit sie uns allmählich kennenlernen kann, das bringt gar nichts! Solange sie in ihrem gewohnten Umfeld ist, sieht sie doch überhaupt keine Notwendigkeit, sich anzupassen!«

Wir gehen die Via San Lorenzo entlang: Lisa forschen Schrittes vorneweg, dann meine Eltern. Ich bilde das Schlusslicht.

»Du weißt doch, was die DiGreco gesagt hat. Lisa braucht Zeit, um die Dinge zu begreifen!«, ruft ihm Eva in Erinnerung. »Und auch wenn es mir im Herzen wehtut: Laut Francesca fragt Lisa jeden Tag nach der Frau, die sie für ihre Mutter hält.«

»Wenn schon«, knurrt mein Vater. »Diese Frau ist eine Kidnapperin und Betrügerin, und je schneller Lisa das schnallt, umso besser!«

»Du musst es ja wissen«, erwidert Eva bissig, und mir wird wieder klar, dass es Gründe hat, weshalb die beiden getrennt leben. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sie sich jetzt in Genua ein Doppelzimmer teilen.

Plötzlich stehen wir auf einem Marktplatz mit zahlreichen Ständen, es gibt italienische Backwaren, Salami, Käse und Wein, aber auch Lederwaren, Spielzeug und Kleidung. Außerdem eine Bühne, auf der jemand schmalzige Songs ins Mikro haucht.

Lisa ist vor einem Wasserbecken stehen geblieben und betrachtet fasziniert, wie mehrere batteriebetriebene Barbie-Imitate mit Meerjungfrauflossen darin ihre Kreise drehen. Sie ist nicht die Einzige: Auch ein paar andere Mädchen drängen sich um das Becken herum.

»Willst du eine haben?«, fragt Eva auf Englisch und hat schon den Geldbeutel gezückt. Wenig später marschiert Lisa mit einer blonden Meerjungfrau im durchsichtigen Plastiksack vor uns her.

Weit kommen wir nicht. Diesmal ist es Eva, die stehen bleibt. Ein weißes Kleid mit Lochstickerei hat ihre Aufmerksamkeit geweckt. Obwohl es der Größe nach eindeutig für Kinder in Lisas Alter gedacht ist, sieht es aus wie ein Cocktailkleid.

»Lisa – ti piace?«, fragt Eva, und Lisa, im ersten Augenblick sichtlich überrascht über die Frage, nickt. Schon ist eine eifrige Standverkäuferin zur Stelle, die das Kleid vom Haken nimmt und Eva und Lisa in den hinteren Teil des mobilen Kleidungsgeschäfts begleitet, damit meine Schwester es hinter einem Vorhang anprobieren kann.

Das Kleid passt wie angegossen. Lisa dreht sich vor dem Spiegel wie eine Prinzessin. Zum ersten Mal an diesem Tag wirkt sie wie ein Mädchen, das sich wirklich freut. Auch Eva macht ein glückliches Gesicht und kommt gleich mit einem zweiten Kleid an, einem blau-weiß gestreiften Baumwollkleid. Auch dieses passt.

Ich kann regelrecht fühlen, wie Lisa auf den Geschmack kommt. In dem blau-weißen Kleid, das ihr Eva sowieso auch kaufen will, schlendert sie nun selber durch die Reihen. Mit zwei T-Shirts, kurzen Hosen und Röcken kommt sie zur Umkleide zurück. Sogar die Verkäuferin macht große Augen.

Nur Eva strahlt. Die verwaschenen Billigklamotten waren ihr schon von der ersten Begegnung an ein Dorn im Auge.

Leider ist der Geschmack von Mutter und Tochter nicht derselbe. Während Eva, Tochter aus gutem Hause und Frau von Welt, dezente Farben und Schnitte bevorzugt, beweist Lisa ein Faible für T-Shirts in Neontönen mit Aufdruck. Ein riesengroßes gelbes Smiley auf leuchtend grünem Hintergrund ist dabei noch eines der geschmackvolleren Motive, die sie gewählt hat.

Eva versucht es mit Gegenvorschlägen. Das dunkelblaue Trägertop mit den weißen Sternen anstatt des pinken, bis zum Bauchnabel reichenden Shirts mit der Aufschrift Che cazzo! Das fliederfarbene mit Rüschen statt des Oberteils in Neonrosa, auf dem ein überdimensionaler schwarzer Hasenkopf prangt. Dass Lisa den Hasen kennt, bezweifle ich. Eva kennt ihn aber, und somit kommt das Stück für sie nicht in Frage.

Ausgerechnet an diesem Oberteil beißt sich Lisa vehement fest. »È bello!«, beharrt sie und presst es an sich.

»Mein Gott, dann kauf es ihr halt!« Mein Vater, der die Einkaufsorgie bisher mit verschränkten Armen aus dem Hintergrund verfolgt hat, verliert allmählich die Geduld. Für Shopping hatte er noch nie was übrig. Was er braucht, bestellt er online.

»Sicher nicht!«, protestiert Eva. »Ich lasse sie doch nicht mit dem Logo eines sexistischen Pornomagazins herumlaufen!«

»Ach, gibt es auch eines, das nicht sexistisch ist?« Statt auf sie einzugehen, flüchtet sich mein Vater in Sarkasmus. »Für sie ist das doch nur ein Hase! Es gibt Duschgels, Parfums und Deos mit dem Playboy-Logo. Alles nichts mit Porno! Das ist nur in deinem Kopf so verankert – dieser ganze feministische Kram, mit dem sie euch an der Uni gehirngewaschen haben!«

Mit euch meint er wohl Eva und meine Mutter.

»Ich lasse Lisa so nicht herumlaufen«, wiederholt Eva stur. »Und wenn sie damit noch Babykleidung bedrucken!«

»Du lieber Himmel, sieh die Welt doch endlich mal entspannter! Sei doch froh, dass deine Tochter wieder da ist, und spar dir diese sinnlosen Moralpredigten für ein anderes Leben!« Was als harmloser Wortwechsel begonnen hatte, wächst sich allmählich zu einer Grundsatzdiskussion aus.

»Moralpredigten?« Eva schnaubt entrüstet. »Was soll das heißen? Ich habe hier niemand eine Moralpredigt gehalten! Ich habe einfach nur gesagt, dass ich Lisa nicht mit dem Logo eines Pornoheftes herumlaufen lasse, das nackte Frauenkörper als Objekte männlicher Befriedigung präsentiert! – Und überhaupt, was soll das heißen: meine Tochter? Es ist auch deine, oder hat sich daran in den letzten Jahren etwas geändert?«

Ein entrüsteter Schrei der Verkäuferin setzt dem Streit abrupt ein Ende. Unsere Aufmerksamkeit ist jetzt dort, wo sie schon die ganze Zeit hätte sein sollen: bei Lisa. Doch wir sehen nur noch ihr rotes T-Shirt, das draußen im Markttreiben verschwindet.

Mein Vater reagiert genauso schnell wie ich. Gemeinsam rennen wir los, bahnen uns einen Weg durch die Menge und verlieren uns bald darauf im Getümmel. Denn während er Lisa in den Standreihen links vermutet, bin ich mir sicher, dass ihr rotes Oberteil in der Nähe der Musikbühne aufgeblitzt ist.

Ich dränge mich durch die Leute in Richtung Bühne, wo der Schmusesänger inzwischen einer Popgruppe Platz gemacht hat. Das italienische Publikum johlt vor Begeisterung und klatscht in die Hände. Ein paar haben angefangen zu tanzen. Ich kassiere einige Rempler und bekomme Schimpfworte zu hören, die ich glücklicherweise nicht alle verstehe, ehe ich den Blondschopf im roten T-Shirt an der Schulter zu fassen kriege.

Das Mädchen schreit auf, fährt herum. Ein entsetztes Paar brauner Augen starrt mich an. Sofort lasse ich die Kleine los, eine Entschuldigung murmelnd. Sie sieht Lisa nicht einmal annähernd ähnlich, und das T-Shirt ist nicht einfarbig rot, sondern hat vorn ein Muster.

Verdammt!

Mit hängenden Schultern und klopfendem Herzen kehre ich zu dem Stand zurück, wo Eva starr wie eine Statue steht. »Tut mir leid«, stoße ich hervor, noch immer außer Atem. »Das war sie nicht. Aber Papa ist sicher gleich mit ihr zurück.«

Eva nickt benommen, doch ihre Augen verraten den Schock.

»Ich verstehe nicht, weshalb sie so etwas tut«, sagt sie leise.

»La pubertà è un periodo difficile«, schaltet sich die Verkäuferin verständnisvoll ein. Offenbar hält sie Lisa aufgrund ihrer Körpergröße für älter als elf.

Zehn Minuten vergehen, in denen wir hoffen, dass Lisa von selbst wieder den Weg an den Marktstand findet. Wer schließlich auftaucht, ist mein Vater – schnaufend, schwitzend und mit hochrotem Kopf, aber ohne Kind. In seiner rechten Hand hält er das neonrosa Tanktop mit dem Playboy-Bunny, das Lisa bei ihrer Flucht wohl irgendwann hat fallen lassen.

»Sie ist weg, verdammt! Einfach untergetaucht!«

»Was?« In Evas Gesicht steht helle Panik. »Das kann doch nicht sein! Warum hast du sie nicht festgehalten?!«

»Ich habe sie ja nicht mal erwischt! Außerdem bist du doch direkt neben der Kabine gestanden.«

»Aber du warst am Eingang! An dir hat sie sich ja wohl fast vorbeiquetschen müssen …«

»Schluss!« Mit ungeahnter Verve mache ich den gegenseitigen Schuldzuweisungen ein Ende. »Fakt ist: Lisa ist weggelaufen. Lasst uns überlegen, wohin sie unterwegs sein könnte. Vielleicht ins Kinderheim?«

»Ich glaube kaum, dass sie dort hin will«, wendet Eva ein. Mein Vater runzelt die Stirn. »Dann wohl eher zu ihrer alten Wohnung!«

»Ja, und wo ist die?« Eva seufzt. »Das wissen wir nicht. Also müssen wir wohl Commissario Rossi anrufen.«

»Na, wunderbar!« Die Stimme meines Vaters trieft vor Ironie. »Das wirft ein hervorragendes Licht auf uns: Kaum sind wir mit ihr alleine, ist sie schon wieder weg!«

Als er das Bunny-Top zurückgeben will, besteht die Verkäuferin darauf, dass es bezahlt wird. Auf dem Oberteil sind nun neben dem Hasen noch zwei Fußabdrücke. Zähneknirschend zahlt mein Vater und zückt sein Handy, um Rossi anzurufen.

»Und?«, will Eva wissen, kaum dass er aufgelegt hat.

»Na ja, begeistert klang er nicht, allerdings auch nicht sonderlich überrascht. Er schickt hier gleich eine Streife vorbei, informiert die Capelli vom Kinderheim und gibt eine Suchmeldung raus. In knapp einer Stunde kann er selbst hier sein.«

»So spät erst?«

»So, wie es sich angehört hat, ist der gerade bei einer Gartenparty. – Himmel, Eva, es ist Sonntag! Das kann man ihm ja wohl nicht verübeln.«

»Tue ich auch gar nicht. Interpretiere nicht wieder etwas in meine harmlose Frage hinein!«

Eva hat wieder diesen bissigen Unterton in der Stimme. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie links und rechts Einkaufstüten trägt. Anscheinend hat sie den meisten Kram, den Lisa anprobiert hat, nun doch gekauft. Ich finde das angesichts des Umstands, dass meine Schwester gerade die Fliege gemacht hat, völlig falsch, aber meine Meinung ist ja eh egal.

Während die Streifenpolizisten, die ein paar Minuten später eintreffen, anhand unserer Beschreibung von Lisas tagesaktueller Kleidung den Marktplatz und die Umgebung durchkämmen, warten wir in einem nahen Café auf das Eintreffen von Rossi. Herumzusitzen kommt uns allen gefühlsmäßig falsch vor, andererseits wissen wir, dass wir sonst wenig tun können. Die Polizei kennt Genua weitaus besser als wir, und unser Italienisch reicht nicht, um die Leute nach Lisa zu fragen.

»Buon giorno«, begrüßt uns Rossi mit völliger Gelassenheit. Zum ersten Mal seit unserer Bekanntschaft sehen wir ihn in Jeans und T-Shirt. »Scheint, als wäre Ihr Tag nicht ganz so verlaufen wie gewünscht.«

»Wir sind außer uns vor Sorge!«, hält ihm Eva entgegen. »Unsere Tochter …«

»Si, si.« Rossi winkt müde ab. »Das hat Ihr Mann schon gesagt. – Ich glaube, Ihre Erwartungen liegen zu hoch.«

»Unsere Erwartungen? – Meine Tochter ist verschwunden! Sie ist wieder verschwunden! Das ist nicht der Augenblick, uns Vorwürfe zu machen!«, regt sich mein Vater auf. »Warum hocken wir hier noch? Wir sollten nach ihr suchen!«

Er will aufstehen, doch Rossi fährt ihn mit ungewohnter Autorität an: »Setzen Sie sich, Herr Dahlen! – Meine Leute suchen schon nach ihr, das wird genügen!«

»Sie ist erst elf«, wirft Eva mit belegter Stimme ein. »Stellen Sie sich vor, was da alles passieren kann! Kinderschänder! Drogen! Und dann ist ja hier auch noch die Mafia …«

»Ja, und die fressen täglich kleine blonde Mädchen.«

Ich kann Tomaso Rossi den Sarkasmus wirklich nicht verübeln. Evas Panik trägt nicht dazu bei, sie ernst zu nehmen.

»Es ist nicht das erste Mal, dass sie abhaut.«

»Wie bitte?« Meine Eltern starren Rossi entsetzt an. »Aber warum haben Sie uns das nicht gesagt?«

Der Commissario hebt die Schultern. »Ich dachte, signora DiGreco hätte es erwähnt. Seit sie im Heim ist, ist sie insgesamt schon sechs Mal ausgerissen. Zweimal kam sie von selbst zurück, viermal wurde sie von meinen Leuten aufgegriffen.«

Daher rührt also seine Gelassenheit.

»Allem Anschein nach ist ihr nie etwas Schlimmes zugestoßen«, fährt er fort. »Maria DiGreco wusste im Übrigen nichts davon, dass Sie den heutigen Tag gemeinsam verbringen. Wir haben vorhin telefoniert, sie war regelrecht entsetzt, dass Francesca Capelli diesem Ausflug zugestimmt hat. Alessandra ist ein Risikokind und darf derzeit nicht das Gebäude verlassen.«

»Sie war ja nicht unbeaufsichtigt«, wendet mein Vater ein. »Schließlich ging sie mit uns. Ihren Eltern

Er betont das letzte Wort mit Nachdruck und artikuliert so wieder einmal sein Missfallen darüber, dass Lisa immer noch in der Obhut der italienischen Behörden ist und nicht in seiner.

»Sie haben ja recht.« Rossi sieht ihm offen in die Augen. »Ich kann mir nur vorstellen, wie schrecklich die vergangenen Jahre für Sie und Ihre Familie waren. In Wahrheit habe ich natürlich keine Ahnung, denn zum Glück war ich nie in Ihrer Situation. Und ich würde lügen, wenn ich Ihnen vormache, dass ich mit Fällen, in denen ein Mädchen nach so vielen Jahren wieder aufgetaucht ist, Erfahrung hätte. Dass ein verschwundenes Kind wiederkommt, ist die Ausnahme, nicht die Regel. Dann schlachten die Medien das gehörig aus. Aber nur selten berichten sie, wie es danach weitergeht. Mit welchen Schwierigkeiten wieder heimgekehrte Kinder und ihre Eltern zu kämpfen haben, weiß ich nur aus der Fachliteratur. Alles, worüber ich gelesen habe, bezog sich auf Kinder, die misshandelt und traumatisiert zurückkehrten. Eine Reintegration in das alte Familienleben war in keinem dieser Fälle wirklich möglich.«

»Aber Lisa wurde nicht missbraucht.« Mein Vater klingt jetzt fast zahm. Rossi hat es durch seine ruhige, sachliche Art geschafft, seine Wut verrauchen zu lassen.

»Ja, und deshalb sehe ich bei ihr gute Chancen, dass sie sich irgendwann in ihr neues Leben als Ihre Tochter einfindet«, sagt Rossi. »Sie haben allerdings ein Mädchen vor sich, das andere Erfahrungen gesammelt hat, andere Werte teilt, vieles anders betrachtet als Sie selbst. Sie müssen verstehen, dass Alessandra Ferraro nicht die kleine Lisa Dahlen ist.«

»Ich will doch nur, dass sie, also, dass sie … uns liebt«, sagt Eva mit einem Seufzen. »Von mir aus soll sie dieses blöde Bunny-Shirt haben, wegen dem sie weggerannt ist!«

Trotz unseres Kummers müssen wir alle lachen, sogar Eva.

Rossi wird als erster wieder ernst. »Warum sollte sie Sie denn lieben, signora Dahlen? – Sie erinnert sich nicht daran, dass Sie sie in Ihren Armen gehalten, in den Schlaf gesungen, ihr Geschichten erzählt haben.«

»Aber ich kann das einfach nicht glauben!«, hält ihm Eva verzweifelt entgegen. »An irgendetwas muss sie sich doch erinnern! Sie war doch schon vier!«

Da klingelt Rossis Handy. Er nimmt den Anruf entgegen, spricht ein paar Worte. Als er es wieder in seiner Jeanstasche verschwinden lässt, wirkt er sichtlich zufrieden.

»Sie können aufatmen, wir haben sie.«

»Oh mein Gott!« Eva entfährt ein neuer Seufzer, diesmal der Erleichterung. Mein Vater atmet tief durch. Ich springe auf vor Glück. Auch Rossi erhebt sich. Er sieht seine Arbeit als getan an.

»Was das Erinnerungsvermögen betrifft, sprechen Sie mal mit signora DiGreco darüber. Sie kann Ihnen mehr dazu sagen.«

»Die Dame von der Krisenintervention?« Mein Vater runzelt die Stirn. »Kennt sie … kennt sie sich denn mit der kindlichen Entwicklung aus?«

Rossi nickt.

»Das sollte man meinen. Schließlich ist sie promovierte Sonderpädagogin und hat viele Jahre auf einer Kinderpsychiatrie gearbeitet. – Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich muss zurück nach Bogliasco. Meine Tochter feiert heute ihren zwanzigsten Geburtstag.«

Er hat sich schon abgewendet, als Eva noch etwas einfällt.

»Wo … wo haben Ihre Leute Lisa denn gefunden?«

»Im Krankenhaus. Am Bett von Sonia Ferraro.«

*

Am nächsten Tag will Lisa nicht mit uns sprechen. Als wir am frühen Nachmittag alle zusammen im Kinderheim eintreffen, informiert uns Francesca Capelli darüber, dass sie heute auch nicht in der Schule war. »Sie will nicht aufstehen«, ergänzt sie, als sie uns durch das Treppenhaus hinauf zu jenem Zimmer führt, das Lisa mit drei anderen Mädchen bewohnt.

»Und das akzeptieren Sie einfach?«, fragt mein Vater irritiert.

Mit perplexem Gesichtsausdruck dreht sich die junge Heimleiterin zu meinem Vater um. »Was soll ich denn machen? Sie an Haare ziehen und in Schule prügeln?«

»Nein, aber …«

Was auch immer mein Vater erwidern will, er kommt nicht dazu.

»Ihr Vater ist vor paar Monate gestorben, die Mutter im Koma! Nun kommen Sie, neue famiglia. Das Kind ist ja komplett …!« Francesca Capelli unterstreicht ihre Worte durch jene lebhaften Gesten, die für sie typisch sind.

Einerseits finde ich es positiv, dass sich alle so viele Sorgen um Lisa machen – Commissario Rossi, Maria DiGreco und Francesca Capelli. Andererseits wird mir in diesem Moment so richtig bewusst, dass es im Grunde niemanden interessiert, wie unsere Familie sich fühlt. Seit unserer Ankunft in Genua werden wir beruhigt, vertröstet und auf Abstand gehalten. Keiner fragt, wie wir diese Situation bewältigen sollen – dabei haben mindestens zwei von uns ihr Leben von heute auf morgen auf Stopp gestellt. Ich spreche von meinem Vater, der eigentlich bei internationalen Meetings sein müsste, und von mir.

Dass ein Publizistikstudium an einer österreichischen Uni zu nichts als Arbeitslosigkeit führt, musste ich mir bereits zur Genüge von meinen Eltern anhören. Nicht vergleichbar mit einer deutschen Journalistenschule plus passendem Fachstudium. Inzwischen glaube ich, dass sie wohl recht haben. Zu Ende bringen möchte ich es dennoch – schon allein deshalb, weil ich keine Ahnung habe, was ich sonst machen soll. Das Studium ist wie eine Beschäftigungstherapie, die mich davon abhält, mir über andere Dinge in meinem Leben zu viel den Kopf zu zerbrechen.

Daher will ich bald zurück nach Wien an die Uni, anstatt mit zwei Menschen in Genua herumzuhängen, die im Grunde nur noch ein gemeinsamer Schicksalsschlag verbindet. Bei beinahe jeder Diskussion meiner Eltern schlägt mir das mangelnde Verständnis entgegen, das sie füreinander aufbringen. Mit den beiden aufeinanderzuhocken, wird allmählich unerträglich. Von dem Sofa, das mir in unserer Suite nachts als Schlafstätte dient, bekomme ich außerdem Rückenschmerzen.

Aber für all das interessiert sich das Trio Rossi, Capelli und DiGreco nicht. Es fragt sich auch niemand, wie wir den Wahnsinn eines Hotelaufenthalts auf unbestimmte Zeit überhaupt finanzieren. Nicht, dass es für uns ein Problem wäre – Eva zehrt noch immer von Oma Bettys Erbe, und mein Vater kriegt ein Monatsgehalt, das deutlich im fünfstelligen Bereich liegt. Trotzdem kratzt es an meinem sozialen Gerechtigkeitssinn. Wir könnten schließlich auch ärmer sein. Insbesondere Maria DiGreco von der Krisenintervention hat für mein Empfinden bisher nichts Nennenswertes zum Geschehen beigesteuert.

»Es ist Spielstunde, Lisa ist oben, die anderen Mädchen im Hof«, informiert uns Francesca Capelli, ehe sie die Türe zu dem Zimmer öffnet. »In zwanzig Minuten kommen sie wieder hoch. Spätestens dann Sie müssen wieder weg sein. Ein Bett und ein Schrank in die Zimmer – das ist alles, wo diese Kinder haben; wir wollen da keine fremde Besuch.«

Das Zimmer ist hell und freundlich, durch die zwei Etagenbetten und Spinde jedoch auch sehr eng. Die Wände sind sonnengelb gestrichen. Platz für Bilder gibt es nicht.

Lisa kauert im Schlafanzug auf einem der unteren Betten, den Oberkörper an die Wand gelehnt, die Knie mit den Armen umschlungen. Das Haar hängt ihr ungekämmt ins Gesicht.

»Hallo, Lisa«, begrüßt Eva sie und geht vor ihr in die Hocke. »Wie geht es dir heute?«

Lisa hebt kurz den Kopf und sieht ihre Mutter böse an. Ich ahne, woran es liegt: Mit ihrem Namen kann sie sich absolut nicht anfreunden. Andererseits bringt es keiner von uns fertig, sie Alessandra zu nennen.

»Ich habe dir die Sachen mitgebracht, die dir gestern so gut gefallen haben«, fährt Eva fort und legt die zwei prall gefüllten Plastiktüten aufs Bett.

Lisa lässt ihre Knie los und versetzt den Tüten einen kräftigen Tritt, sodass sie zu Boden fallen.

Francesca Capelli schimpft mit ihr auf Italienisch, was meine Schwester jedoch ziemlich unbeeindruckt lässt. Sie nimmt wieder ihre Haltung von zuvor ein und starrt auf die mit kitschigen rosa Einhörnern bedruckte Bettwäsche.

Eva versucht es weiter – vergebens. Nach zehn Minuten geben wir auf und verlassen das Zimmer.

»Nehmen Sie es nicht persönlich«, sagt die Heimleiterin. »Geben Sie ihr noch etwas Zeit.«

»Ich sehe da keine Fortschritte«, hält ihr mein Vater entgegen. »Sie haben doch mit ihr gesprochen und ihr alles erklärt! – Warum ist sie immer noch so bockig? Wie lange sollen wir warten, dass sie Vernunft annimmt? Das kann doch nicht ewig so gehen!«

»Am besten, Sie sprechen mit signora DiGreco«, erwidert Francesca Capelli und macht eine beschwichtigende Geste.

Sie führt uns in das Zimmer, in dem wir bei unserem ersten Besuch im Heim empfangen wurden. Wieder dürfen wir auf dem gelben Sofa Platz nehmen, doch diesmal gibt es weder Kaffee noch Biscotti. Frau DiGreco lässt eine halbe Stunde auf sich warten. Diesmal trägt sie einen grauen Hosenanzug, der noch schlechter sitzt als der dunkle, und wirkt vollkommen abgekämpft. Unter ihren Augen hängen dunkle Ringe.

»Das war ja gestern ein echter Fehlschlag«, kommt sie nach einer knappen Begrüßung sofort zur Sache. »Ich sage es offen: Wenn Sie nicht in der Lage sind, auf das Kind aufzupassen, können wir es nicht mehr in Ihre Obhut geben.«

Eva sieht mal wieder betreten auf die Tischplatte. Manchmal wirkt sie auf mich nur noch wie ein Schatten ihrer selbst.

Mein Vater trägt an diesem Tag wieder Hemd und Anzug, weil er kaum legere Kleidung dabei hat, und für sein Polohemd ist der Tag zu kühl. Das Business-Outfit verleiht ihm immerhin mehr Autorität, als er sich jetzt leicht nach vorne lehnt, Maria DiGreco geradewegs in die Augen sieht und verkündet: »Und ich sage Ihnen ganz offen: Wenn Sie uns davon abhalten wollen, mit dem Kind, das laut genetischem Nachweis unsere eigene Tochter ist, Ausflüge zu unternehmen und mit ihr zu sprechen, schalte ich meinen Anwalt ein. Der nimmt Ihre ganze Behörde auseinander und hinterfragt mal kritisch, was eigentlich Ihr Zweck in dieser Causa ist!«

Maria DiGreco schluckt. Mit Gegenwehr dieser Art hat sie offensichtlich nicht gerechnet. »Sehen Sie«, beginnt sie und hört sich nun fast kleinlaut an. »Uns geht es doch nur um das Kindeswohl.«

»Ja, glauben Sie denn, uns ginge es um was anderes?«, schießt mein Vater zurück. »Aber meine Definition davon hat nichts mit einem viel zu engen Vier-Bett-Zimmer in einem Kinderheim zu tun, in dem meine Tochter festgehalten wird!«

»Sie hat hier ihr gewohntes Umfeld«, wendet DiGreco ein, doch während sie es sagt, wird ihr anscheinend selbst klar, dass ihre Aussage hinkt. »Ich meine, zumindest spricht man hier ihre Sprache«, fügt sie eilig hinzu.

»Deutsch wird sie hier auch kaum lernen«, erwidert mein Vater trocken. »Da sind wir uns wohl einig, oder?«

Maria DiGreco kaut an ihrer Lippe.

»Lisa muss sich doch an irgendetwas erinnern«, ergreift Eva das Wort. »Vielleicht kommt ja die Erinnerung wieder, wenn um sie herum Deutsch gesprochen wird und sie Dinge sieht, mit denen sie früher gespielt hat?«

In unserem Haus in Mödling, wo auch ich noch wohne, hat Eva ein Zimmer für Lisa eingerichtet. Es schaut aus wie eine Gedenkkammer. Massenweise Spielzeug, und selbst Kinderkleidung ist noch da, auch wenn Lisa längst nicht mehr hineinpasst.

»Ob sie sich je erinnern wird, lässt sich nicht so einfach sagen.« Maria DiGreco richtet sich auf und wirkt nahezu erleichtert über den Themenwechsel. »Das Problem ist die sogenannte Kindheitsamnesie. Bis zum dritten Lebensjahr erinnern sich Kinder recht gut an Dinge, die sie ein, eineinhalb Jahre zuvor erlebt haben. Aber dann beginnt das Vergessen. Die Erinnerung wird dann in den folgenden Jahren immer weniger. Bis zum neunten Lebensjahr haben sie normalerweise alles, was in frühester Kindheit war, aus dem Gedächtnis verloren – einschließlich Sprachen, wenn sie damit keinen Kontakt mehr hatten. Die Sprache ist in Lisas Fall übrigens besonders wichtig. Sobald wir sprechen können, speichern wir Erlebnisse in Worten, nicht mehr in Bildern. Wenn uns die Worte fehlen, geht auch die Erinnerung verloren. Da Ihre Tochter in ein komplett neues sprachliches Umfeld gewechselt hat, als sie von den Ferraros entführt wurde, ist es sehr wahrscheinlich, dass mit dem Vergessen der deutschen Sprache auch die Erinnerung verloren ging.«

Eine Weile hört man nur das Summen der Kaffeemaschine am anderen Ende des Raumes. Seit Maria DiGreco da ist, hat sich Francesca Capelli doch noch dazu entschieden, Kaffee anzubieten. Das Aroma füllt bereits den Raum.

»Es ist so ähnlich wie mit einem Computer«, fährt DiGreco fort. »Wenn ein neues Betriebssystem kommt, können Sie Ihre Dateien von früher auch nicht mehr lesen.«

»Na ja, das ist weit herbeigeholt«, widerspricht mein Vater. »Auf alle Dateiformate trifft das wirklich nicht zu!«

DiGreco schweigt und meidet eine neuerliche Konfrontation mit dem Mann, der ihr mit dem Anwalt droht.

»Ich habe mir überlegt, ob es hilft, ihr Fotos von früher zu zeigen«, sagt Eva. »Kindheitsfotos. Es gibt sogar ein paar, die uns alle zusammen zu Beginn unseres letzten Kreta-Urlaubs zeigen. – Glauben Sie, das ist sinnvoll?«

Maria DiGreco hebt die Schultern. »Es kann passieren, dass sie dann die Fotos für Erinnerungen hält, obwohl keine da sind.«

»Mit anderen Worten – ob wir ihr Fotos zeigen oder nicht, ist ziemlich egal«, kontert mein Vater.

»Sie können es probieren. Aber erwarten Sie keine Wunder. Sie braucht einfach Zeit.«

»Wie lange noch?«, fragt Eva.

DiGreco hebt wieder die Schultern. »Ein halbes Jahr? Zehn Monate? Zwei Jahre? – Ich kann das auch nur schätzen. Aber ich bin sicher, wenn Sie regelmäßig hier vorbeischauen und mit ihr Zeit verbringen, wird sie sich allmählich an Sie gewöhnen und dann auch irgendwann gerne mit Ihnen fahren.«

»Zwei Jahre?«, mische ich mich ein und starre sie ungläubig an. »Und so lange soll Lisa hier wohnen, oder wie stellen Sie sich das vor?«

»Ich sehe da im Moment keinen anderen Weg«, erwidert Maria DiGreco. »Alessandra gerade jetzt auch noch aus diesem Umfeld zu reißen, wäre psychisch verheerend.«

Ich lasse mich resigniert an die Sofalehne fallen. Gleichzeitig spüre ich, wie es in meinem Vater brodelt. Doch er sagt nichts.

Francesca Capelli serviert den Kaffee und setzt sich zu uns. Sie sagt ein paar Worte zu Maria DiGreco auf Italienisch, die nickt und erwidert etwas, das wir ebenfalls nicht verstehen.

»Wir halten eine psychologische Begleitung für sinnvoll«, offenbart Maria DiGreco uns dann.

»Ich dachte, dafür sind Sie da?« Eva klingt ehrlich überrascht.

»Ich bin nur eine Art Koordinatorin. Wenn es tiefere Probleme gibt, muss ein Experte hinzugezogen werden.«

»Und wie stellen Sie sich das vor? Dass wir monatelang in Italien wohnen und wöchentlich zu einem Seelenklempner marschieren?«, erkundigt sich mein Vater.

»In erster Linie für Alessandra … also Lisa. Es wäre gut, wenn sie mit jemandem über ihre Probleme sprechen kann.«

»Frau DiGreco! Lisa ist seit fast sechs Wochen hier«, protestiert mein Vater. »Das hätte doch längst geschehen sollen! Dass ihre sogenannte Mutter im Krankenhaus um ihr Leben ringt und der sogenannte Vater tot ist, hätte doch genügen müssen, um ein Kind psychologisch zu unterstützen!«

Die zwei Frauen tauschen einen Blick.

»Es ist so«, beginnt Maria DiGreco dann zögernd und faltet die Hände. »Unsere finanziellen Ressourcen sind sehr knapp, und Sondermittel werden derzeit so gut wie nie genehmigt. Außerdem sind die staatlich finanzierten Psychotherapeuten so überlaufen, dass es lange Wartezeiten gibt. Sie müssten diese Therapie also privat zahlen.«

Mein Vater schnaubt. »Also daran soll es nicht scheitern!«

Maria DiGrecos Gesicht hellt sich schlagartig auf. Ich kann den Stein, der ihr vom Herzen fällt, regelrecht hören. Sie greift nach ihrem Aktenköfferchen und holt Unterlagen daraus hervor. »Wir müssen uns auch noch über ein paar andere finanzielle Aspekte unterhalten. Wir haben ja vorläufig davon abgesehen, Ihre Tochter aus der Privatschule zu nehmen, auf die Sonia Ferraro sie geschickt hatte … aber es fallen natürlich Schulgebühren an. Und dann sind da noch Arztrechnungen für Sonderuntersuchungen, wegen dieser Wurminfektion …«

Sie kommt nicht dazu, den Punkt weiter auszuführen, denn da klingelt ihr Handy. Sie nimmt den Anruf mit einem entschuldigenden Blick in unsere Richtung entgegen, bleibt aber sitzen.

»Si. – Si. Ho capito. – No. – Certo! – Alla prossima!«

Danach sagt sie erst einmal ein paar Sekunden lang nichts. Dann holt sie tief Luft.

»Commissario Rossi. Er wurde gerade vom Krankenhaus darüber informiert, dass Sonia Ferraro verstorben ist.«

»Oh …«, sagt Eva, und mein Vater presst die Lippen aufeinander. Angesichts der Umstände findet keiner von uns Worte.

»Wir werden Alessandra die Nachricht so schonend wie möglich übermitteln und uns um ihre psychologische Betreuung kümmern«, verspricht uns die Betreuerin.

Unsere Fahrt vom Heim zum Hotel verläuft sehr schweigsam. Jeder von uns hängt seinen eigenen Gedanken nach. Mir tut Lisa leid. Was würde ich tun, wäre ich an ihrer Stelle? – Es muss ihr vorkommen, als hätte sie alles verloren. Gleichzeitig verstehe ich, dass sie im Moment keine Lust mehr hat, mit uns Zeit zu verbringen. In ihr tobt der Kummer um die Menschen, die für sie ihre Eltern waren, und gleichzeitig soll sie mit wildfremden Leuten – also uns – Zeit verbringen, Ausflüge machen und ihnen von sich erzählen. Sie hat es versucht, aber es war zuviel. Sie will einfach nicht mehr. Der Tod von Sonia Ferraro wird es nur noch schlimmer machen.

Im Hotel telefonierte mein Vater erst mit seiner Firma, dann mit Harald Zellweger, der angesichts der neuen Entwicklungen rät, sich nicht länger darauf zu beschränken, die Gespräche mit Behördenvertretern zu dokumentieren, sondern mit einem italienischen Anwalt Kontakt aufzunehmen. Praktischerweise kennt er einen, zwar nicht in Genua, aber im nur knapp eineinhalb Stunden entfernten La Spezia. Mein Vater vereinbart dort sofort einen Termin. Außerdem rät uns Zellweger, dass wir den Psychotherapeuten auswählen, der Lisa betreuen soll.

»Sonst suchen die sich einen aus, der ihnen in die Hände arbeitet«, erläutert mein Vater. »Dann kommt womöglich noch heraus, dass Lisa ein Umzug überhaupt nicht zumutbar ist, und wir sitzen in einem Jahr noch hier fest!«

Das klingt für mich wie ein Horrorszenario. Schon jetzt spüre ich die Vorzeichen sich anbahnenden Lagerkollers. Gleichzeitig weiß ich eines: Egal, wie die Dinge laufen – dass wir dauerhaft gemeinsam hier in Genua bleiben, ist komplett absurd.

Später sitzt mein Vater an seinem Laptop und Eva vor dem Fernseher, wo sie versucht, ihr Italienisch mit einer seichten Telenovela aufzubessern. Auch wenn die beiden nicht miteinander sprechen, ist die Spannung greifbar. Ihn stört das Hintergrundgeräusch des Fernsehers bei der Arbeit. Sie ist enttäuscht, dass er schon wieder vor dem Laptop sitzt, anstatt mit ihr über die aktuellen Entwicklungen zu reden.

Und ich habe an diesem Abend keine Lust, als Kummerkasten zu dienen.

Also stehe ich über eine Stunde am Fenster und starre hinaus in den Nieselregen, der die Altstadt grau und trist macht. Es sind mehr Menschen auf der Straße als erwartet, darunter viele aufgebretzelte junge Leute, die vermutlich auf dem Weg zu Bars und Clubs sind.

Kurz will ich auch einfach hinaus auf die Straße und durch den Regen gehen. Doch ich verwerfe das wieder. Ich sehe schon die vorwurfsvollen Augen meiner Eltern, und es ist mir zu mühsam, jetzt und hier für ein Stück Freiheit für mich zu kämpfen.

*

Der nächste Tag beginnt mit dem üblichen üppigen Hotelfrühstück, das mir schon längst aus den Ohren kommt. Mit einer kleinen Schüssel Obstsalat setze ich mich zu meinen Eltern an den Tisch. Auch Eva hält sich an Obst und Joghurt; nur mein Vater hat seinen Teller mit Rührei, Weißbrot, Parmaschinken und geräuchertem Lachs beladen.

Ich erinnere mich daran, wie er vor Lisas Verschwinden immer früh aufstand, um zu joggen oder zu schwimmen. Jetzt trägt er zwanzig Kilo mehr auf den Rippen, und sein Interesse an Sport beschränkt sich auf die Fußball-Weltmeisterschaft.

»Wann haben wir nochmal den Termin beim Anwalt?«, erkundigt sich Eva.

Mein Vater sieht von seinem Teller auf. »Nachmittags um drei. Er kommt nach Genua.«

»Um drei Uhr?« Eva runzelt die Stirn. »Aber am Nachmittag wollten wir doch Lisa besuchen.«

»Wollten wir das?« Mein Vater bläht missbilligend die Nasenlöcher. »Damit sie wieder nicht mit uns redet?«

»Also ich will meine Tochter sehen!« Eva lässt den Löffel sinken. »Kann ja sein, dass es dir wichtiger ist, dich mit italienischen Behörden um Befugnisse zu streiten. Aber mir geht es darum, eine Beziehung zu ihr aufzubauen!«

»Also wenn du mehr Sinn darin siehst, einem trotzigen Gör gegenüberzusitzen«, knurrt mein Vater, »bitte, ich kann diesem Anwalt auch absagen!«

Schon hat er sein Handy in der Hand.

Wenn er sich ärgert, sieht er nur noch schwarz oder weiß, keine Grautöne mehr. Er könnte versuchen, Eva zu überzeugen, oder sich allein mit dem Anwalt treffen. Aber nein, er geht gleich aufs Ganze! Irgendwo stand, dass die meisten Führungskräfte latente Soziopathen sind. Auf meinen Vater trifft das sicher zu. Sich in andere hineinzuversetzen, gehört nicht zu seinen Stärken.

In diesem Moment bekommt er selbst einen Anruf.

»Wie bitte?«, hören wir ihn sagen. »Das ist ja wohl nicht Ihr Ernst! Wie konnte das denn passieren?« Seine Gesichtszüge verhärten sich. »Wann? – Nun gut. Wir sind gleich da.«

Er legt auf, sieht uns an.

»Rossi hat seinen Laden nicht im Griff. Irgendjemand von seinen Leuten hat mit einer Journalistin vom Corriere della Sera gesprochen. Die hat prompt eine Online-Meldung rausgehauen. Vermisstes Mädchen nach Jahren in Genua wieder aufgetaucht. Jetzt laufen bei Rossi die Telefone heiß. Der Corriere della Sera will noch eine richtig große Geschichte nachschieben. Rossi hat für elf eine Pressekonferenz angekündigt.«

»Für elf?« Eva wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Das ist in zwei Stunden!«

»Eben!« Mein Vater lacht bitter. »Er will sich noch mit uns besprechen. Das heißt, wir fahren am besten gleich hin.«

Während er zügig seinen Kaffee leert und Eva in Richtung Toilette verschwindet, rufe ich am Smartphone die Seite des Corriere della Sera auf. Der Artikel ist nicht besonders lang und es gibt noch kein Foto, doch was ich sehe, genügt mir.

Sogar der Name ist erwähnt: Lisa D., die vor fast sieben Jahren auf Kreta entführt wurde. Jeder Medienmensch, der damals schon im Geschäft war, wird sich an die Geschichte erinnern! Ich mache mir keine Illusionen, welche Lawine da auf uns zurollt. Ich bin schon einmal unter ihr begraben worden und habe sie gerade so überlebt.