Im Scheinwerferlicht
20.–26. August 2011
Lisas angeblicher Entführer forderte eine Million Euro Lösegeld. Sein Anruf war zwanzig Minuten nach der Ausstrahlung des Vermisstenfotos auf einem Polizeirevier in München eingegangen. Die deutsche Polizei konnte den Mann mühelos ausfindig machen – ein achtundfünfzigjähriger Frührentner, der in einer Gartenlaube bei Gilching hauste. Die Polizei nahm seinen Anruf deshalb ernst, weil er erst am Vortag von einem einwöchigen Kreta-Aufenthalt zurückgekehrt war – und auch wegen seines einschlägigen Vorstrafenregisters.
Peter Lauber hieß der Mann, der sich bereitwillig festnehmen ließ und auf dem Polizeirevier eine Geschichte erzählte, die für die Beamten irgendwie glaubhaft klang: Er möge die Moderatorin nicht, gab er zu Protokoll und sprach von Eva, die sich angeblich spöttisch über das grüne Sofa in Oliver Kahns Wohnzimmer geäußert hätte.
Lauber wollte daraufhin den Plan gefasst haben, ihr für die Beleidigung seines Lieblingsfußballers einen Denkzettel zu verpassen. Nach eigenen Angaben brachte er das Urlaubsziel von Eva in Erfahrung, kam nach Kreta und lauerte uns am Strand auf, wo er eine günstige Gelegenheit abwartete, um Lisa zu entführen. Er prahlte damit, dass er sie irgendwo auf der Lassithi-Hochebene versteckt hielt, und dass sie kein Essen und nur wenig Wasser zur Verfügung hätte – dass also Eile geboten sei, ihm das Geld zu übergeben. Die Uhr ticke …
Schon als uns Margarete Stretenfeld von der Deutschen Botschaft darüber informierte, reagierten Eva und ich mit Fassungslosigkeit und Kopfschütteln. Trotz unserer Sorge um Lisa funktionierte unser Verstand aber noch gut genug, um den Haken an Laubers Geschichte zu erkennen.
»Was will er denn mit der Million, wenn die Polizei ihn schon hat?«, staunte ich. Meine Stiefmutter ergänzte: »Und wie stellt er sich die Lösegeldübergabe vor? Im Knast? – Das ist doch nur einer dieser lächerlichen Spinner, die sich in die Geschichte einklinken, um fünf Minuten Aufmerksamkeit zu erhalten!«
»Trotzdem muss die Polizei das ernst nehmen.« Margarete Stretenfeld verzog keine Miene. »Vermutlich haben Sie recht, aber wenn er nicht der Entführer ist, heißt das nicht, dass es keinen anderen geben kann. Ihre Vermögensverhältnisse sind nach wie vor nicht unerheblich.«
»Die griechische Polizei wird doch trotzdem nach Kavros fahren, wo sich dieser Tavernenwirt hundertprozentig sicher war, Lisa gesehen zu haben? Und wenn die deutschen Kollegen diesen Lauber wirklich ernst nehmen, werden die Griechen auch diese Hochebene durchkämmen und nach Lisa suchen?«
Margarete Stretenfeld zögerte. »Ich nehme es an«, erklärte sie dann mit fester Stimme. »Jeder hier tut alles, um Ihre Tochter zu finden, Frau Dahlen.«
»Im Moment ist mein Eindruck ein anderer«, erwiderte Eva. »Statt diesen Melonenlieferanten in die Zange zu nehmen, verhaftet die Polizei meinen Mann und verdächtigt uns!«
»Frau Dahlen. Noch einmal: Ihr Mann. Wurde. Nicht. Verhaftet.« Margarete Stretenfeld sprach jedes einzelne Wort überdeutlich aus. Dann sah sie auf die Uhr. »So. Ich muss jetzt wieder zurück nach Heraklion. – Und Ihnen, liebe Frau Dahlen, rate ich folgendes: Nehmen Sie sich diese Zimmerdurchsuchung nicht so zu Herzen. Das ist eine reine Vorsichtsmaßnahme. Neokosmidis muss, was Lisas Verschwinden betrifft, eben allen Möglichkeiten nachgehen. Gehen Sie jetzt erst einmal mit Lea zum Frühstück – das Mädchen könnte ohnehin etwas mehr auf den Rippen vertragen.« Sie erhob sich und griff nach ihrer Tasche. »Selbstverständlich halte ich Sie auf dem Laufenden, was die Ermittlungen ergeben. Und Ihrem Mann stellen wir für alle Fälle einen Anwalt zur Seite.«
Evas Gesicht zeigte nichts als Skepsis, während ich mich über die Anspielung auf meine Figur ärgerte, an der kein noch so üppiges Frühstück irgendetwas ändern würde. Was glaubte diese Kuh eigentlich? Dass ich magersüchtig war? Von genetischer Disposition hatte sie wohl noch nie was gehört!
Die Stretenfeld hatte ihre Tasche schon in der Hand, als Eva sie aufhielt: »Einen Moment noch! Wie bereiten wir uns auf die Medien vor? Wurden da Vorkehrungen getroffen?«
»Vorkehrungen? Wie meinen Sie das?«
»Na, wie schon? – Es ist doch nur eine Frage der Zeit, bis hier die ersten Übertragungswagen anrollen! Sobald die deutsche Journaille davon Wind kriegt, wessen Kind hier verschwunden ist, sind die hier!«
»Aber Frau Dahlen.« Wieder wirkte die Stretenfeld so, als wunderte sie sich über ein störrisches Kind. »Jetzt malen Sie den Teufel mal nicht an die Wand. Die griechische Polizei hat gewiss einen Plan, wie mit derartigen Situationen umgegangen wird. Außerdem: So prominent sind Sie auch wieder nicht!«
*
Von Seiten der Rezeption schlug uns frostiges Schweigen entgegen, als sich Eva nach dem Frühstück erkundigte, ob es möglich wäre, vorübergehend ein anderes Zimmer zu bekommen. Die Spurensicherung war noch immer in unserer Familiensuite zu Gange, ohne dass man uns hätte sagen können, wie lange die Räumlichkeiten noch blockiert waren, und Eva wollte einfach nur einen vor der Öffentlichkeit geschützten Raum. Mittlerweile verfolgten uns in ganz Malia die neugierigen Blicke und das Getuschel der Menschen, während sie vor Sorge um Lisa fast zerging und sich gleichzeitig den Kopf zerbrach, was dieser Neokosmidis mit Papa derzeit in Heraklion anstellte.
»In the moment no room left!«, ließ uns die Rezeptionistin kühl wissen, als sie uns nicht länger ignorieren konnte.
Eva ließ die Schultern sinken, und auch ich begriff, dass sich etwas geändert hatte. Bisher waren alle vom Hotel so freundlich gewesen, so unterstützend. Als wir aufgelöst ohne Lisa vom Strand zurückgekommen waren, hatten ein paar Leute vom Hotel sogar ihre Pause unterbrochen, um mit uns zu suchen.
»It’s okay«, sagte ich, dann zog ich Eva in die ruhige Ecke links neben der Hotelbibliothek, wo Gäste offenbar seit Jahren ihre Urlaubslektüre zurückließen.
»Wir können hier warten«, schlug ich vor, war aber selbst nicht von meiner Idee überzeugt. Das Ledersofa war durchgesessen, das Eck roch nach irgendeinem aggressiven Putzmittel.
»Hier?« Eva schnaubte. »Außerdem, was heißt: warten? Ich halte diese Warterei nicht aus! Seit Tagen warte ich nur darauf, dass Lisa wiederkommt, darauf, dass ich aufwache und sich alles als Alptraum entpuppt, darauf, dass sich Dieter endlich aus Heraklion meldet … ich werde allmählich verrückt!«
Ich nickte, schließlich ging es mir genauso. »Dann lass uns nach Kavros fahren! Wenn ihr euch doch so sicher seid, dass sie dort gesichtet wurde?«
»Tja … was heißt schon sicher!« Eva unterstrich ihre Worte durch eine hilflose Geste. »Ich weiß nicht mehr, wem ich glauben soll, Lea! Alle lügen mich an! Wer weiß schon, was dieser Tavernenwirt wirklich gesehen hat? – Außerdem hat Neokosmidis ja angeblich Leute hingeschickt.«
Hoffentlich, ergänzte ich in Gedanken, und wunderte mich über Eva. Am Vortag war sie von der Idee, dass Lisa mit einem Ehepaar in Kavros verweilte, noch restlos überzeugt.
»Dann fahren wir jetzt eben auf diese Hochebene«, sagte sie unvermittelt. »Sehen wir uns dort um. Wir dürfen keine Möglichkeit außer Acht lassen.«
»Aber du glaubst doch nicht wirklich an eine …«
»Ich kann einfach nicht länger herumsitzen!«, bekam ich zur Antwort. »Ich muss was tun, Lea! Irgendetwas!«
*
Rund eine Stunde später standen Eva und ich auf einer kleinen Anhöhe und blickten auf das kreisrunde Plateau vor uns. Felder und Obstplantagen reihten sich dicht an dicht aneinander. Einige Windmühlen erinnerten noch an die Zeit, als das Wasser mit Windkraft aus versteckten Hohlräumen im Kalkgestein nach oben gepumpt wurde, hieß es im Reiseführer.
Die Hitze flimmerte, auch wenn es hier um ein paar Grad kühler war als in Malia. In den Duft von Wildkräutern mischte sich Dieselgestank – direkt hinter uns lag ein Busparkplatz, auf dem reges Kommen und Gehen herrschte. Ziel der Bustouristen war eine Aussichtsplattform dreihundert Meter weiter links.
Zehn Minuten lang starrte Eva auf die flache Landschaft vor uns, die schmalen Lippen aufeinandergepresst. Ich verstand noch immer nicht ganz, was wir hier eigentlich wollten. Ihr war doch auch klar, dass der angebliche Entführer der Münchner Polizei völligen Unsinn aufgetischt hatte. Oder etwa doch nicht?
»Er könnte sie in irgendeiner Windmühle versteckt haben«, sagte sie plötzlich. »Oder auch in einer dieser kleinen Hütten. – Ich will mir gar nicht vorstellen, was sie da durchmacht!«
»Aber dieser Lauber –«, begann ich, doch sie ließ mich nicht ausreden.
»Von dem spreche ich nicht. Der ist nur Trittbrettfahrer.«
»Von wem denn dann?«
»Von dem, der sie wirklich entführt hat und irgendwo auf dieser verdammten Insel gefangen hält! Diese griechische Polizei macht mich wahnsinnig! Sie sollten in Heerscharen jeden Winkel dieser Insel durchkämmen, statt Dieter zu verhören!«
Prinzipiell war ich ihrer Meinung. Jeden Winkel Kretas nach Lisa abzusuchen, hielt ich dennoch für unmöglich. Außerdem …
»Was ist, wenn sie gar nicht mehr auf Kreta ist? Wenn sie weggebracht wurde?«
»Sie ist noch hier. Ich spüre das.« Eva starrte wieder auf die Ebene, als hoffte sie, irgendwo am Horizont meine Schwester zu entdecken. Mit einem Ruck drehte sie sich zu mir: »Wenn Lisa nicht mehr zurückkommt, ist mein Leben zu Ende.«
Die Ernsthaftigkeit in ihrer Stimme jagte mir einen Schauder über den Rücken. Sie begann zu weinen. Ich stand neben ihr, überfordert, hilflos und voller Schuldgefühle, und weinte mit.
Auf der Rückfahrt nach Malia klingelte Evas Handy. Da sie das Auto gerade über die kurvige Serpentinenstraße nach unten steuerte, ging ich ran. Es war Papa.
»Wo seid ihr?«
»Wir haben weiter nach Lisa gesucht. – Wo bist du? Haben sie dich wieder gehen lassen?«
Bitteres Lachen.
»Diese Idioten. Die Putzfrau, die so überzeugt davon war, mich mit einem Sack über der Schulter durch den Keller gehen gesehen zu haben, hat ihre Aussage zurückgezogen. Eine Verwechslung. Und, Überraschung! In unserer Suite wurde keine Blutspur gefunden!«
»Aber was ist mit dem Kofferraum?«, warf ich ein.
»Die Botschaft hat mir einen Anwalt vermittelt«, redete er einfach weiter. »Der sagt, dass die in Wahrheit nichts gegen uns in der Hand haben. Trotzdem dürfen wir das Land nicht verlassen und müssen uns zur Verfügung halten.«
Als ob wir vorgehabt hätten, in den nächsten Tagen abzureisen!
»Hör mal, wo seid ihr jetzt genau, Lea?«
»Keine Ahnung.« Das Ortsschild, an dem wir gerade vorbeifuhren, nahm ich zu spät wahr. »Kera … irgendwas.«
»Gib Eva das Telefon.«
Ich warf einen Seitenblick auf Eva, die mit verbissener Miene hinter dem Steuer saß. Im Befahren von Bergstraßen hatte sie wenig Routine.
»Geht nicht. Die fährt gerade.«
»Dann soll sie rechts ranfahren.« Papa wurde ungeduldig. »Es ist wichtig.«
Ich gab es ihr weiter, voller Sorge wegen der kurvigen Bergstraße, auf der uns immer wieder Reisebusse entgegenkamen. Hoffentlich hielt sie an! Wenn sie jetzt noch das Handy nahm, sah ich uns schon als Unfallopfer im Krankenhaus.
Zum Glück erreichten wir gerade wieder eines der kleinen Dörfer. Eva hielt in einer Ausbuchtung am Straßenrand.
»Dieter?«
Ihre Stimme klang ängstlich und gehetzt. Offenbar erwartete sie die nächste Hiobsbotschaft.
»In den Bergen«, antwortete sie vage auf Papas Frage. »Wir müssten in schätzungsweise einer halben Stunde wieder beim Hotel sein. – Was? – Ich … – Verdammt!«
Sie warf das Handy in meinen Schoß und schlug mit einer Hand wütend auf das Lenkrad.
»Gerade jetzt ist der verdammte Akku aus! Jetzt, wo er mir etwas Wichtiges sagen wollte!«
»Wir sind ja eh gleich im Hotel«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Dann kannst du ihn von dort aus anrufen.«
»Dein Vater ist schon im Hotel! Und da läuft was schief! Er wollte mich auf irgendetwas vorbereiten, aber dann war plötzlich dieser verdammte Akku aus!«
Meine Stiefmutter war erneut den Tränen nahe.
Eine Touristengruppe, die gerade aus einem Bus gestolpert war, folgte ihrem Schirm tragenden Reiseguide um unser Auto herum zu einem Laden in der Nähe, der Produkte aus Olivenöl und Honig anbot. Die Leute gafften ungeniert ins Wageninnere.
Besänftigend legte ich Eva meine Hand auf die Schulter.
»Es ist sicher nicht sooo wichtig, sonst hätte Papa es mir doch gleich gesagt. Komm, lass uns einfach weiterfahren.«
Eva starrte mit leerem Blick durch die Windschutzscheibe. Zum Glück war die Reisegruppe im Laden verschwunden.
»Wir alle sind schuld«, sagte sie dann plötzlich in die Stille hinein. »Neokosmidis hat recht: Ich bin eine schlechte Mutter. Ich hätte nicht die ganze Zeit lesen dürfen. Und dein Vater hätte auch auf sie aufpassen müssen! Ich verstehe nicht, warum er ständig nur müde ist! Seit Jahren verpennt er den halben Urlaub! Dieser Job blutet ihn aus. Er arbeitet in letzter Zeit einfach zu viel, und nun kriegen wir dafür die Rechnung!«
Ich wusste nicht recht, was ich darauf sagen sollte. Auch ich fand, dass Papa immer öfter auf Dienstreise war und immer später nach Hause kam. Gleichzeitig war da aber auch der Plan meiner Eltern, unsere Mietwohnung in Schwabing gegen ein Eigentum einzutauschen. In der Villa am Starnberger See lebte ja Oma Betty mit zwei Hunden und wechselnden osteuropäischen Haushälterinnen.
»Ein einziger Blick, Lea.« Eva sah mich jetzt unverwandt an. »Wenn du nur ein Mal über die Schulter geschaut hättest, dann wären wir jetzt noch immer eine glückliche Familie, die Urlaub macht.«
Da waren sie, die Worte. Die Schuld, die auf mir lastete und mich niederdrückte. Die Schuld, dass Lisa weg war, sah Eva bei mir. Aber bis jetzt hatte sie es mir nicht ins Gesicht gesagt. Ich begann heftig zu heulen. Wäre doch nur ich entführt worden, und nicht meine Schwester!
»Warum warst du immer so schlecht gelaunt in letzter Zeit?«, beschwerte sich Eva. »Wovon warst du so genervt? Warum redest du dir diesen Blödsinn ein, dass du für uns weniger wichtig bist als Lisa, und hast deine Wut auf die Welt immer an ihr ausgelassen? Was hat sie dir denn getan? – Sie ist doch noch so klein!«
Ich konnte ihr auf keine einzige Frage eine Antwort geben. Während ich mich auf dem Beifahrersitz in Tränen auflöste, startete sie wieder den Motor. Als wir in Malia ankamen, waren meine Tränen zwar versiegt, doch ich fühlte mich niedergeschlagener, ungeliebter und schuldiger denn je.
Viel Zeit, im Selbstmitleid zu versinken, blieb mir allerdings nicht. Rund dreihundert Meter vor dem Hotel begann der Verkehr zu stocken. Direkt vor uns rollte ein dicker Reisebus im Schneckentempo dahin und versperrte die Sicht. Als die Kolonne vor uns gänzlich zum Stehen kam und sich minutenlang nichts rührte, ließ Eva das Autofenster herunter und steckte den Kopf hinaus.
»… drehen wahrscheinlich eine Doku, Kretas schönste Hotels oder so«, ein deutscher Tourist quetschte sich mit seiner Frau an der Wagenkolonne vorbei. Beide reckten die Hälse.
»Also, ich weiß nicht. Mit diesem ganzen Aufgebot? Da sind ja Kameras über Kameras und Leute mit Mikrofonen!«, rief die Frau aufgeregt. »Vielleicht hat das ja mit dem verschwundenen Kind zu tun?«
Eva zog ruckartig den Kopf zurück und schloss das Fenster. Ihr Atem ging flach. Zwischen uns fiel kein Wort. Wir wussten jetzt beide, was Papa uns hatte sagen wollen.
*
Eva warf die Tür hinter uns zu, kaum dass wir durch den schmalen Spalt hineingeschlüpft waren, und lehnte sich schwer atmend und verschwitzt dagegen.
»Wenn mir die Stretenfeld begegnet, passiert was!«, dröhnte Papa, der aus dem Nebenzimmer gelaufen kam. »Ich habe es ja gewusst, dass die Meute kommt, aber sie hat mich ausgelacht!«
Das Szenario in unserer Suite tat ein Übriges: Die Spurensicherung hatte alles auf den Kopf gestellt. Unsere Kleidung lag quer über das Bett verstreut, die Koffer stapelten sich davor. Meiner sah aus, als hätte jemand der Hartschale einen Tritt versetzt. Ein Riss zog sich quer darüber.
»Ich bin so froh, dass ihr beide es nach oben geschafft habt.« Papa schloss Eva in die Arme. Sie legte ihm den Kopf auf die Schulter.
»Die sind uns nachgerannt«, keuchte ich, noch völlig geschockt von den Kameras, die sie auf uns gerichtet hatten, als wir in der Hotellobby aufgetaucht waren. Unser Trick, das Auto hinten zu parken und uns durch den Keller ins Gebäude zu schleichen, hatte nur bedingt funktioniert. Zwar entgingen wir den Journalisten vor dem Haupteingang, doch da der Kelleraufgang in die Lobby führte, gerieten wir zwangsläufig vor die Linse eines griechischen Kamerateams, das uns dort in Empfang nahm. Seine mit Mikro bewaffnete Frontreporterin verfolgte uns bis knapp vor die Zimmertüre.
»Ich habe mit einem Medienaufgebot gerechnet, aber nicht in dieser Form.« Eva lässt sich ermattet aufs Sofa sinken. »Ich dachte, dass ein paar deutsche Sender Kontakt mit uns aufnehmen und vielleicht irgendwelche freiberuflichen Paparazzi Fotos schießen … Aber da waren allein drei griechische Fernsehteams, eines sogar vom ERT, dem Staatsfernsehen! – Was wollen die hier? Lisas Foto haben sie sowieso schon ausgestrahlt!«
»Ich weiß es nicht.« Papa seufzte ratlos. »Als ich von der Polizei aus Heraklion zurückgefahren wurde, haben die ersten gerade ihr Equipment aufgebaut, und eine Journalistin hat sogar schon vor laufender Kamera Kommentare abgegeben.«
»Was hat sie gesagt?«
»Keine Ahnung, das war ja Griechisch!« Papa seufzte zum zweiten Mal. »Zum Glück hatte die Spusi unsere Zimmer endlich freigegeben, denn als ich von Uniformierten durch die Lobby eskortiert wurde, brach die Frau ihre Aufzeichnung ab und kam auf mich zugestürzt. Ab da war mir klar, was auf euch zukommt, und ich wollte euch warnen, aber …«
»Ja, ich weiß, mein Akku ist abgesoffen.« Eva raffte ein paar Kleider vom Bett.
Im selben Moment befiel mich eine entsetzliche Vorahnung. Schnellen Schrittes ging ich in mein Zimmer. Auch mein Zeug lag auf dem Bett. Ich stieß einen Schrei aus, der meine Eltern hereinstürmen ließ.
»Was ist denn los?«, fragte Papa alarmiert.
»Die haben meine Sachen durchwühlt!«
»Ja, unsere doch auch!« Eva schüttelte verständnislos den Kopf.
»Bei dir waren aber keine Tampons und Binden!«, schluchzte ich und merkte, wie mein Kopf hochrot anlief.
»Lea.« Papa verstand sich darauf, selbst beim Aussprechen meines kurzen Namens zu vermitteln, wie genervt er war. »Wir haben jetzt wirklich andere Probleme!«
»Aber ich will nicht, dass das jemand weiß«, heulte ich weiter, obwohl ich mir selbst albern vorkam, aber ich konnte nicht anders. »Die haben meine Wäsche angefasst! Ich mag die nie wieder anziehen!«
Ich warf die zwei gepolsterten BHs, die jemand auf dem Kopfkissen platziert hatte, schwungvoll zu Boden und verbarg meinen Kopf im Kissen. Ich weinte um Lisa; ich weinte, weil Eva mich jetzt garantiert weniger liebte und weil ich in Papas Augen mit jedem Tag tiefer sank. Wegen mir war sein kleiner Liebling weg, und ich konnte bloß herumheulen und Probleme machen.
Ein vehementes Klopfen riss mich aus meinem Gedankenkarussell. Eva und Papa wechselten einen erschrockenen Blick.
»Wenn die glauben, dass wir so blöd sind und die Tür aufmachen, irren sie sich aber gewaltig«, schimpfte Papa. Als Eva kein Zeichen der Zustimmung gab, schob er in ihre Richtung fragend nach: »Oder?«
»Ganz genau!« Eva runzelte die Stirn, als das Klopfen noch einmal ertönte. »Ich würde mal gern wissen, woher diese Aggressivität rührt! So geht man nicht mit den Eltern eines vermissten Kindes um!«
Wer immer da draußen stand, war hartnäckig und auch kräftig. Das Klopfen war zu einem Donnern geworden, das die ganze Tür erzittern ließ.
Eva und mein Vater huschten hinüber ins große Zimmer und starrten verstört auf den Eingang. Ich rappelte mich auf und folgte ihnen mit verheultem Gesicht.
»Mister and Misses Dahlen! Open the door, please!«
Eine Männerstimme, drängend und unnachgiebig.
»Ich denke nicht daran«, sagte Papa leise zu Eva. »Die spinnen doch!« Er griff nach dem Hörer des altmodischen Festnetztelefons am Nachtkästchen. »Ich werde das der Rezeption melden! Die sollen jemanden schicken, der diese Journalistenbrut vertreibt! Schließlich sind wir hier immer noch zahlende Gäste!«
Er ließ den Hörer wieder auf die Gabel sinken, als er das unverkennbare Klick-Klack des Schlosses hörte, wenn es mit der Schlüsselkarte geöffnet wird. In fassungslosem Entsetzen wurden wir Zeugen, wie sich die Tür öffnete und ein nicht allzu großer Mann im Anzug, begleitet von einem jüngeren, den wir schon mehrfach an der Rezeption gesehen hatten, den Raum betrat.
»Was fällt Ihnen ein!«, begann Papa auf Englisch und trat auf den Mann zu.
»Jannis Papadakis. Ich bin hier der Generalmanager«, stellte er sich in akzentreichem, aber flüssigem Englisch vor. »Es tut mir leid wegen Ihrer Tochter. Aber die Gäste beschweren sich. Unser Hotel ist ein Ort der Ruhe und Entspannung. Doch seit Tagen herrscht Unruhe. Die Polizei geht ein und aus, und jetzt auch noch die Kameras …« Er machte eine bedauernde Geste, die nicht zu seinem harten Blick passen wollte. »Ich muss Sie leider bitten, unser Haus zu verlassen.«
»Wie bitte?«
»Aber wir haben bis zum achtundzwanzigsten August gebucht!« Meine Eltern reagierten empört.
»Es nicht länger tragbar. Sie müssen sofort ausziehen«, wiederholte der Mann stur und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich kann nichts für Sie tun. Es gibt Beschwerden.«
»Aber das haben wir uns doch alles nicht ausgesucht!«, hielt ihm Eva entgegen. »Sorgen Sie lieber dafür, dass wir hier ungestört sind! Wir sind genauso Ihre Gäste wie die anderen!«
»Ich gebe Ihnen zwei Stunden.« Der Kerl erinnerte mich unwillkürlich an Napoleon. Sein Blick glitt über die Schubladen, die von der Spurensicherung komplett herausgezogen und über den Fliesenboden verteilt worden waren. »Und verlassen Sie das Zimmer bitte so, wie Sie es beim Check-in vorgefunden haben.« Damit drehte er sich um und verschwand nebst Begleitung so zügig, wie er gekommen war.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich meine Eltern aus ihrer Erstarrung lösten.
»Verdammt, das lasse ich mir nicht bieten!«, donnerte Papa los. »Gezahlt ist gezahlt! Der setzt uns doch nicht auf die Straße wie ein Rudel räudiger Hunde!«
»Irgendetwas ist da im Busch.« Das Gummiband, das Evas Haare zu einem geflochtenen Zopf zusammenhielt, hatte sich gelöst. Wirre Strähnen hingen ihr ins Gesicht.
»Wo sollen wir denn hin, wenn die uns rausschmeißen?« Meine Stimme war nur ein Flüstern. Ich hatte Angst vor dieser Welt da draußen, in der uns Kameras verfolgten und alle Menschen feindselig anstarrten. Allerdings fühlte ich mich hier, wo Fremde in meinen Sachen gewühlt hatten, auch nicht mehr wohl. »Können wir nicht in ein anderes Hotel ziehen?«, schob ich hoffnungsvoll hinterher.
»Zur Hauptsaison wird das schwierig«, erwiderte Eva resigniert. »Außerdem glaube ich kaum, dass uns derzeit irgendwer freiwillig aufnimmt. Papadakis ist zwar alles andere als ein Charmebolzen, aber ich muss ihm recht geben: Wir sind ein Ärgernis für jedes Hotel.«
*
»Die Kommunikation ist zugegebenermaßen unglücklich verlaufen.« Margarete Stretenfeld saß uns im Ledersessel gegenüber, einen Laptop auf dem Schoß. »Hier. Sehen Sie. Eine missverständliche Meldung, die heute früh online ging.«
Sie drehte den Monitor in unsere Richtung. Wir sahen eine Website voller griechischer Buchstaben und ein Bild von Papa. Ich sah ihm an, dass er darüber genauso irritiert war wie Eva, die eher mit einem Foto von sich selbst gerechnet hatte.
»Ach, richtig, Sie verstehen ja kein Griechisch.« Die Stretenfeld drehte den Laptop wieder zu sich. »Die Tatsache, dass Sie heute von der Polizei vernommen wurden, hat offenbar zu Spekulationen geführt. Nun, Sie wissen ja, wie das ist, wenn die Presse sich an etwas festbeißt.«
»Aber … warum ist da ein Foto von mir und nicht von Lisa?« Papa verstand genauso wenig wie ich, warum ausgerechnet er für die griechischen Medien so interessant war.
Eva war uns einen Schritt voraus. »Jemand hat den Medien gesteckt, dass mein Mann als Verdächtiger vernommen wird, stimmt’s? Womöglich hat einer der Polizisten geplaudert! Und jetzt denken alle, dass mein Mann seine eigene Tochter auf dem Gewissen hat! Deshalb sind alle so aggressiv, deshalb der ganze Medienzirkus! In diesem Artikel wird darüber spekuliert, dass wir Lisas Verschwinden als Entführung durch einen Dritten tarnen, um einen Mord zu vertuschen!«
Margarete Stretenfeld verlor ein wenig von der Haltung, die so gut zu ihrem akkurat frisiertem Haar passte, und wirkte einen Augenblick lang nahezu peinlich berührt. »Ich verstehe, dass das sehr ärgerlich für Sie ist«, sagte sie dann, und es klang beinahe wie eine Entschuldigung. »Und ich habe mit Neokosmidis schon …«
»Ärgerlich?«, fuhr ihr Papa aufgebracht ins Wort. »Sie nennen das ärgerlich? Eine Katastrophe ist das! Ich werde als Mörder meiner eigenen Tochter an den Pranger gestellt, obwohl ich vor Sorge um sie fast verrückt werde!«
»Wie gesagt, es gab ein Kommunikationsproblem. Neokosmidis hat da aber bereits Konsequenzen gezogen.« Margarete Stretenfeld zwang sich zu professioneller Ruhe. »Es wird heute Nachmittag eine Pressekonferenz in Heraklion geben. Danach wird der Medien-Spuk vorbei sein.«
Eva war deutlich anzusehen, dass sie das stark bezweifelte, doch sie sagte nichts.
»Wo sollen wir jetzt hin?«, fragte Papa. »Die haben uns buchstäblich rausgeschmissen! In einer halben Stunde sollen wir das Zimmer geräumt haben. – Das kann doch rechtlich gar nicht zulässig sein!«
»Aber Herr Dahlen.« Die Dame lächelte nachsichtig. »Selbstverständlich ist das schon längst erledigt! Wir kümmern uns ja um unsere Staatsbürger.«
Da war er wieder, dieser Satz. Die verhaltene Hoffnung, die in Papas Augen trat, verriet, dass er noch an ihn glauben wollte.
»Das heißt, wir können hier bleiben?«
»Nein. Das ist nicht möglich.« Margarete Stretenfeld schob uns einen Zettel mit einer Adresse über den Tisch. »Wir können Ihnen eine Wohnung in Heraklion zur Verfügung stellen. Nichts Besonderes, aber zweckmäßig.«
Eva und Papa sahen sich an. Sie schienen beide nicht recht zu wissen, was sie von dieser Idee halten sollten.
»Sehen Sie die Vorteile: Sie sind näher an den Ermittlungen dran«, half Frau Stretenfeld nach. »Und in der Stadt stehen Sie auch nicht so im Zentrum des Interesses wie hier in Malia. Da können Sie sich wieder frei und unerkannt bewegen.«
*
Unser neues Quartier befand sich in einem mehrstöckigen Betonklotz an einer vierspurigen Zufahrtsstraße im Osten der Inselhauptstadt. Die Wohnung bestand aus zwei Zimmern, einer Miniküche und einem Bad. Insgesamt war sie vielleicht knappe fünfzig Quadratmeter groß. Von dem winzigen Balkon aus blickten wir auf die Blechlawinen, die sich in Richtung Innenstadt wälzten, und auf eine Tankstelle, von der aus immer ein leichter Benzingeruch herüberzog.
Der Lärmpegel war enorm. Wenn wir die Fenster offen ließen, was wir schon wegen des Geruchs selten taten, verstanden wir unser eigenes Wort nicht mehr. Trotzdem waren wir froh, der unerträglichen Lage in Malia entkommen zu sein.
Nachmittags flimmerten die ersten Berichte und Mitschnitte der Pressekonferenz über den Bildschirm. Papa zappte mit der Fernbedienung durch alle Kanäle, um möglichst viel davon mitzubekommen, obwohl wir sowieso nichts verstanden.
Es sprachen nur Männer. Einer davon war Neokosmidis. Er kam nur kurz zu Wort, schien sich im Kameralicht aber äußerst wohlzufühlen.
Irgendwann später tauchte Margarete Stretenfeld bei uns auf, um uns nähere Informationen zu geben. »Das Gute an dem großen Medieninteresse ist, dass es seit heute wohl niemanden mehr in Griechenland gibt, der noch nichts vom Verschwinden Ihrer Tochter gehört hat«, eröffnete sie das Gespräch. »Alle kennen jetzt Lisas Foto, alle sind sensibilisiert.« Irgendetwas an ihrem Gesichtsausdruck kündigte aber an, dass es auch eine Schattenseite gab. »Das Ergebnis der Blutanalyse liegt leider immer noch nicht vor«, rückte sie auch schon damit heraus. »Noch hält die Polizei daran fest, dass das Blut im Kofferraum von Lisa stammen muss. Und auch das weiß die Presse.«
»Was heißt das? Wollen Sie damit sagen, dass mein Mann etwa immer noch verdächtigt wird, unsere Tochter ermordet zu haben?« Eva war fassungslos.
»Die Polizei hält es weiterhin für möglich, dass Lisa bei einem Streit mit Lea ums Leben kam und Ihr Mann – vielleicht auch Sie – versucht haben, diesen Unfall zu vertuschen, um Ihre Älteste zu schützen.«
»Dafür gibt es nicht den geringsten Anhaltspunkt!«, polterte Papa.
Mir wurde übel. Auch wenn ich Lisa natürlich nicht umgebracht hatte – auf dem Gewissen hatte ich sie.
»War das etwa Thema der Pressekonferenz?«, erkundigte sich Eva, plötzlich hellwach. »Gelten jetzt mein Mann und Lea als Verdächtige?«
»Es war von Ermittlungen in alle Richtungen die Rede«, erwiderte die Stretenfeld, ohne uns anzusehen. »Es hieß, dass es auch Ermittlungen im familiären Umfeld gibt.«
»Was ist mit dem Melonenmann? Was ist mit Kavros?« Papa bebte am ganzen Körper. »Tut die griechische Polizei eigentlich auch irgendetwas, oder macht sie nur Opfer zu Tätern?«
»Bitte beruhigen Sie sich.« Margarete Stretenfeld erhob sich. »Der Anwalt wird sich heute mit Ihnen in Verbindung setzen.«
Sie verabschiedete sich von meinen Eltern, während sie mich ignorierte. Ich war für sie nur ein Kind, das unglücklich auf dem Sofa kauerte und an seinen Fingernägeln kaute.
*
Am nächsten Morgen wachte ich mit Kopfschmerzen auf. Im Zimmer war es heiß und stickig. Nebenan hörte ich den Fernseher laufen. Ich öffnete das Fenster und schloss es gleich wieder. Auf der Straße in Richtung Innenstadt staute sich schon der Verkehr, es stank nach Abgasen.
In dieser Wohnung war es nicht auszuhalten. Außerdem hatte ich Hunger. Am Vorabend hatten wir alle drei so gut wie nichts gegessen, sondern nur vor dem Fernseher gehockt, um vielleicht irgendetwas Neues über den Verbleib von Lisa zu erfahren. Irgendwann war ich ins Bett gegangen.
So fand ich sie auch jetzt: Eva mit hochgezogenen Beinen, Papa mit zurückgelegtem Kopf auf dem Sofa. Beide hatten die Augen geschlossen. Papas Schnarchen vermischte sich mit dem Geplapper einer Frühstücksmoderatorin, die, den Bildern nach zu urteilen, über den Bau einer Autobahnbrücke berichtete. Sie waren also beide vor dem Fernseher eingeschlafen.
Ich schlüpfte in Shorts und T-Shirt, schnappte mir Evas Geldbeutel und schlich auf Zehenspitzen aus der Wohnung.
Draußen schlug mir eine Wand aus trockener Hitze entgegen. Ich ging an der Tankstelle vorbei und folgte dem Hinweis auf einen Supermarkt um die Ecke.
Der Laden entpuppte sich als klassischer griechischer Minimarkt. Ein Säckchen mit abgepackten Mini-Baguettes unter den Arm geklemmt, Schinken, Butter und ein Marmeladenglas in der Hand, ging ich zur Kasse. Während die Verkäuferin in qualvoller Langsamkeit jeden einzelnen Artikel in die Registrierkasse eingab, fiel mein Blick auf die Zeitung, die im Stapel zum Verkauf auslag. Auf dem Titelbild das Vermisstenfoto von Lisa, daneben ein kleineres von Eva und Papa, die miteinander auf irgendeinem Ball tanzten. Fett gedruckte griechische Buchstaben in sattem Dunkelrot prangten über den Fotos. Ich legte ein Exemplar zu meinen Einkäufen.
Der Lift im Haus war mit einem roten Plastikband abgesperrt – offenbar inzwischen defekt. Also stieg ich die vier Stockwerke zu Fuß nach oben. Außer Atem und verschwitzt sperrte ich die Wohnungstüre auf – und starrte in die leichenblassen Gesichter meiner Eltern. Papa hatte das Handy am Ohr.
»… weg und … sie ist gerade zurückgekommen. Falscher Alarm. Entschuldigen Sie.« Er drückte eine Taste und legte das Gerät fort, dann brüllte er los: »Sag mal, bist du noch ganz bei Trost? Was denkst du dir eigentlich?!«
»Wir wachen auf und du bist weg! Fort! Ohne irgendeine Nachricht!«, stieß Eva aufgebracht hervor. »Wir haben gerade schon diesen Neokosmidis alarmiert!«
Perplex sah ich die beiden an und glaubte für einen Augenblick, im falschen Film zu sein.
»Ich … ich hab doch nur Frühstück geholt«, verteidigte ich mich zaghaft.
»Mach das nie wieder, Lea! Wir haben schon ein Kind verloren!«, donnerte mein Vater
»Lisa wird wiederkommen.« Eva nahm mir die Einkäufe ab. »Und du wirst diese Wohnung nicht mehr ohne uns verlassen!«
»Ich bin vierzehn«, wehrte ich mich, doch mein Argument kam mir selbst lahm vor. »Ich war doch nur im Supermarkt …«
»Was ist denn das?« Eva hatte das Nachrichtenblatt mit den Fotos entdeckt. »Verdammt, wie kommen die zu diesem Foto?«
Papa nahm ihr die Zeitung aus der Hand.
»Das wurde am letzten Presseball von uns geschossen. – Was hat das mit Lisas Entführung zu tun? Und warum, verdammt, kriegen wir keinen Dolmetscher zur Seite gestellt? Irgendwann bringe ich diesen Neokosmidis um«, knurrte Papa. »Ich werde gleich mal den Anwalt anrufen …«
»Nein, Dieter, warte!« Eva hob die Hand. »Ich will nicht mehr von anderen abhängig sein. Wir nehmen die Sache jetzt selbst in die Hand. Wenn Neokosmidis über die Medien Krieg gegen uns führen will, kann er das haben! Allerdings wird er ihn verlieren. Meine Pressekontakte sind schlagkräftiger als seine.«
Eva griff nach ihrem Telefon.
»Was hast du vor?«
»Ich weiß jetzt, wen ich anrufe: Eleni Schuster! Die hat mit mir studiert und ist seit ein paar Jahren bei der Süddeutschen. Die kann mir sicher weiterhelfen.«
Nicht einmal eine Minute später hatte sie ihre Journalistenkollegin am Ohr. Dem Gespräch nach zu urteilen, war Eleni Schuster über Lisas Verschwinden bereits im Bilde.
»Eleni hat mir die Telefonnummer einer Freundin gegeben, die in Athen als Korrespondentin für den Spiegel arbeitet, und die wiederum kennt haufenweise andere Kollegen – sowohl von griechischen Medien als auch deutsche Korrespondenten.« Meine Stiefmutter wirkte plötzlich kampfbereit und entschlossen. »Gestern hat Neokosmidis seine Version zum Besten gegeben. Heute erzählen wir unsere!«
*
»Sind Sie eigentlich von allen guten Geistern verlassen?« Margarete Stretenfeld trug diesmal einen grauen Hosenanzug, dessen Taschen und Knopflöcher mit auffälligem goldgelben Faden gesäumt waren, und wirkte darin wie ein wütender General. Sie schleuderte einen Stapel Zeitungen vor meine Eltern auf den Tisch. »Wie konnten Sie sich nur selbstständig an die Medien wenden und dann auch noch diese unerhörten Vorwürfe in den Raum stellen! – Ich hatte Sie vor Alleingängen ausdrücklich gewarnt!«
Etwas über sechsunddreißig Stunden waren vergangen, seit meine Stiefmutter die Berichterstattung über uns und Lisas Verschwinden übernommen hatte. Sechsunddreißig Stunden, in denen ich fast ausschließlich in dem stickigen kleinen Zimmer hocken musste, während Eva und Papa nebenan immer wieder mit wechselnden Journalisten sprachen. Meine Eltern hatten mich ins Nebenzimmer verbannt, um mich aus dem Rummel herauszuhalten. Ich wollte sowieso nicht mit Journalisten sprechen, aber in meinem Gefängnis hatte ich das Gefühl, schön langsam durchzudrehen. Rausgehen war mir ja strikt untersagt, und so musste ich mir die Zeit mit lesen und aus dem Fenster starren vertreiben. Ich verbot mir jedes Selbstmitleid. Mir ging es meilenweit besser als meiner Schwester. Wer wusste, was Lisa durchmachte! Falls sie überhaupt noch lebte.
Sosehr mich die Stretenfeld auch einschüchterte, so erleichtert war ich gleichzeitig über ihr Auftauchen. Vielleicht wendete sich durch sie nun das Blatt.
Tochter von Moderatorin Dahlen auf Malia entführt – Griechische Polizei verweigert Suche!
Griechische Polizei macht verzweifelte Eltern für Entführung von Lisa (4) verantwortlich
Griechen-Polizei beschuldigt deutsche Moderatorin des Mordes an eigener Tochter
Eltern von verschwundener Lisa (4) wütend, Polizei bleibt untätig
Moderatorin Eva Dahlen: »Die griechische Polizei tut nichts für mein Kind!«
Nach Pressekonferenz: Eva Dahlen erhebt schwere Vorwürfe gegen griechische Polizei
Nicht alles, was die Medien zu Schlagzeilen verarbeitet hatten, war so von Eva gesagt worden. Doch der Kern deckte sich sehr wohl mit dem, worüber meine Eltern vor den Journalisten geklagt hatten: dass die Polizei lieber unsere Familie unter Verdacht stellte, als Spuren zu verfolgen.
»Sie gefährden nicht nur die Ermittlungsarbeit, sondern auch unsere gute Basis bei den griechischen Behörden!«, hielt ihnen Margarete Stretenfeld vor.
»Welche Ermittlungsarbeit denn?«, regte Eva sich auf. »Was ist mit Kavros, was ist mit dem Melonenlieferanten? Was tut die Polizei überhaupt?«
»Das Mädchen in Kavros war eine dreijährige Österreicherin, die dort mit ihren Großeltern urlaubt. Und der Melonenlieferant hat an diesem Tag seine ganz normale Tour gefahren, wurde dabei immer wieder gesichtet. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass er mit Lisa auch nur irgendwie in Kontakt gekommen ist.« Stretenfelds Stimme hatte nichts an Strenge eingebüßt. »Sie sehen also: Die griechische Polizei ist keinesfalls untätig! Insgesamt sind mittlerweile über tausend Hinweise bei den nationalen Behörden, bei Europol und Interpol eingegangen! Jedem einzelnen wird nachgegangen. – Ihre boulevardeske Medienkampagne war ein Schnitt ins eigene Fleisch!«
*
»Ich lasse mir von der doch nicht den Mund verbieten!« Seit zwanzig Minuten ging Eva im Wohnzimmer auf und ab: fünf Schritte hin, fünf Schritte zurück. »Natürlich werden wir weiter mit den Medien sprechen! Nur so können wir Druck auf die Griechen ausüben!«
Um weiter mit den Medien zu sprechen, hätte sie im Grunde nur auf die Straße treten müssen. Dort hatten sich zwei Kamerateams aufgebaut. Eines filmte bereits das Haus ab. Alle drei bis fünf Minuten vibrierte das Handy auf dem Couchtisch, doch sie nahm keinen der Anrufe entgegen.
Papa hatte inzwischen mit dem Anwalt telefoniert, der bei seiner Vernehmung in Heraklion dabei gewesen war. »Der Mann rät zu mehr Zurückhaltung«, führte er aus, und ich sah Papa an, dass er mittlerweile Zweifel an Evas aggressivem Vorgehen hatte. »Er meint, wir sollten uns mit Neokosmidis abstimmen. Er wird einen Termin mit ihm arrangieren.«
»Termin? Seit wann braucht der Termine? – Bis vorgestern ist er noch bei uns hereingeplatzt, wann immer ihm danach war!« Eva gab sich unversöhnlich. »Der will uns den Tod unseres Kindes in die Schuhe schieben, schon vergessen?«
»Sicher nicht, aber besser, sie halten mich für den Hauptverdächtigen, als dass sie Lea in die Zange nehmen! Nicht auszudenken, wenn er an seiner Idee weiter festgehalten und Lea des Mordes verdächtigt hätte!«
Mir wurde übel bei dieser Vorstellung. In Gedanken sah ich mich bereits im Gefängnis sitzen.
Eva lachte bitter. »Inzwischen halten sie uns doch alle für verdächtig. Da musst du nicht deine Opferrolle herausstellen.«
»Aber der Mietwagen, in dessen Kofferraum angeblich Blut von Lisa war, lief auf meinen Namen.«
»Als ob das eine Rolle spielt! Ich hätte ihn genauso fahren können.«
Während sich meine Eltern über Spitzfindigkeiten zu streiten begannen, trollte ich mich wieder ins Nebenzimmer und verfolgte am Fenster, wie ein Reporter, auf den eine Kamera gerichtet war, etwas ins Mikro quasselte.
Wenn meine Eltern mich nicht bereits einkaserniert hätten, würde ich jetzt sowieso keinen Schritt mehr vor die Türe wagen.
*
»Kostas Papalexis.«
Der rundliche weißhaarige Opi, der uns mit einer kleinen Verbeugung nacheinander die Hand gab, reichte Eva gerade einmal bis zur Schulter. Wir standen uns in dem klimatisierten, karg möblierten Besprechungszimmer gegenüber, in das wir nach dem Betreten des Polizeigebäudes von zwei Uniformierten eskortiert worden waren. Er ergänzte noch ein paar Worte auf Griechisch und verwies mit einer Handbewegung an den Tisch, auf dem Kaffee, Wasser und Orangensaft bereitstanden.
»Der Kommissar bittet Sie, Platz zu nehmen.«
Der junge Dolmetscher, der steif in Anzug und Krawatte neben dem sympathisch wirkenden Opi wartete, sprach Deutsch so abgehackt wie ein Roboter. »Kommissar Spanoudakis und Kommissarin Nikolaidis werden auch gleich da sein.«
Nicht nur, dass jetzt offenbar drei Kommissare für uns zuständig waren – fehlte da nicht ein Name?
»Was ist denn mit Herrn Neokosmidis?«, erkundigte sich Papa da auch schon. »Wir hatten den Termin doch bei ihm!«
Der Dolmetscher holte die Antwort ein. »Er wurde von diesem Fall abgezogen. Kommissar Papalexis leitet jetzt die Ermittlungen.«
Hoppla. War nicht Neo der Spezialist für Entführungsfälle?
»Ach«, sagte Eva nur. Sie warf Papa einen leicht triumphierenden Blick zu, den dieser jedoch ignorierte.
»Es tut uns leid, dass es in der Vergangenheit offenbar Probleme im Informationsfluss gab«, ließ uns Papalexis via Dolmetscher wissen. »In Zukunft werden wir Sie regelmäßig über den Stand der Ermittlungen informieren.«
Erst einmal erfuhren wir dennoch nicht viel Neues. Über tausend Leute meinten, Lisa entdeckt zu haben: am griechischen Festland, in Kroatien, auf Korsika, in Schweden, Frankreich, Deutschland und sogar in Hongkong.
»Wir gehen jeder vernünftigen Spur nach, aber neunzig Prozent der Meldungen sind haltlos. Den derzeit Hauptverdächtigen hat Ihre Polizei schon in Gewahrsam.«
Ein paar Sekunden verstrichen, ehe wir begriffen, von wem der Opi sprach. Ihre Polizei war offenbar die Münchner! Die Rede musste von diesem durchgeknallten Peter Lauber sein. Ein Mann, der sich bereitwillig festnehmen ließ, wirres Zeug faselte und trotz seiner Festnahme auf eine Lösegeldübernahme bestand, als Hauptverdächtiger? Meinte Papalexis das etwa ernst?
»Aber … mit diesem Lauber, das ist doch …«, wandte Eva zögernd ein, und Papa schob gereizt nach: »Völliger Blödsinn!«
»Es gibt Zeugen, die ihn mit einem kleinen blonden Mädchen im Auto bei Agios Konstantinos gesehen haben wollen.« Während der Dolmetscher das übersetzte, schickte uns der griechische Opi ein sichtlich zufriedenes Lächeln über den Tisch.
»Und wo ist das?«
»Lassithi-Hochebene.«
Eva schluckte. Ich sah uns in Gedanken beide da oben stehen, die Augen auf das Plateau gerichtet und darüber grübelnd, ob Lisa womöglich dort irgendwo versteckt gehalten wird.
»Sie wäre da nun schon sechs Tage! – Mit jedem Tag sinkt doch die Wahrscheinlichkeit, dass sie noch lebt!«
Tiefe Sorgenfalten zeichneten sich auf Evas Stirn ab.
»Die Polizei sucht die gesamte Gegend ab«, kam es zurück. »Wenn sie dort ist, werden wir sie finden.«
Der Kommissar wandte sich direkt an Eva.
»Ich habe gehört, Sie sind eine reiche Frau. Vielleicht wäre es an der Zeit, eine Belohnung auszusetzen. Manchmal reden Leute lieber, wenn eine Belohnung ausgesetzt ist, verstehen Sie?«
»Über tausend Leute haben auch so Hinweise gegeben«, sprach Papa aus, was ich dachte. »Was soll das bringen?«
Der Opi legte den Kopf schief, schmunzelte nachsichtig und sagte wieder etwas auf Griechisch, was der Dolmetscher mit seiner Robotorstimme brav übersetzte: »Manchmal reden dann auch Leute, die in einen Entführungsfall verwickelt sind.«
Papa wollte etwas darauf erwidern, doch in diesem Augenblick ging die Türe auf und eine dunkelhaarige, sehr große Frau mittleren Alters betrat den Raum. Sie wirkte gehetzt und schickte uns nur ein knappes »Kalimera«, ehe sie auf Papalexis einen aufgeregten griechischen Redeschwall herabprasseln ließ.
»Kommissarin Nikolaidis berichtet, dass Ihre Tochter in der Türkei gesehen wurde, im Badeort Side. Es gibt sehr konkrete Hinweise, dass es sich wirklich um Lisa handelt, und …«
Eine entschiedene Handbewegung von Papalexis unterbrach den Dolmetscher. Der Opi-Kommissar wollte etwas wissen.
»Ihre Tochter hat ein kleines sichelförmiges Muttermal an der rechten Schulter?«
»Ja!« Eva sprang aufgeregt auf. »Ja! Ja! Das ist Lisa!«
»Warten Sie hier«, hörten wir als nächstes. Augenblicke später waren wir allein.
»Oh mein Gott«, flüsterte Eva. »Lass es bitte wahr sein! Lass es bitte meine Kleine sein!«
»Wir müssen abwarten.« Papa wirkte nicht ganz so hoffnungsvoll. Während er sich Kaffee nachschenkte, sagte er: »Was die hier aufführen, ist auch nicht normal. Jetzt stützen sie sich auf die Münchner und diesen durchgeknallten Lauber, der sich wichtigmachen will. Nicht zu fassen!«
»Aber wenn Leute ihn doch mit Lisa im Auto gesehen haben?«, wandte ich ein.
»Lea, in so einem Fall wollen viele irgendwas gesehen haben«, belehrte mich Papa. »Nicht aus böser Absicht heraus, sondern weil ihnen die Phantasie einen Streich spielt. Nur weil ihr Foto im Fernsehen war und das ungewisse Schicksal sie berührt. – Überleg mal, wie es dir mit der Frau ging, die du angeblich am Supermarkt vor dem offenen Kühlschrank mit der Coladose gesehen hast. Aber Fakt ist: der Supermarkt hatte geschlossen, der Kühlschrank mit den Getränken war abgesperrt, und niemand außer dir hat diese Frau gesehen.«
Ich hatte mir diese Frau nicht eingebildet! Im Gegenteil: Je öfter ich mir die Szene in Erinnerung rief, desto mehr Details fielen mir wieder ein. Sie hatte ausgefranste Jeansshorts getragen, die so kurz waren, dass ihr Po hervorquoll, und dazu ein schwarzes Trägerhemd mit Eros-Ramazzotti-Aufdruck. Sie war braungebrannt, trug eine Sonnenbrille und eine rote Kappe, unter der blonde Haarsträhnen hingen. Über der Brille saßen dicke, dunkle Augenbrauen. Vermutlich war sie keine echte Blondine.
Ich konnte mir das alles doch nicht einbilden!
Papalexis und der Dolmetscher kamen zurück. Ich konnte sofort erkennen, dass er uns keine Freudenbotschaft brachte.
»Die Polizei in Side hat das Ehepaar und das Mädchen überprüft. Es ist eine fünfjährige Italienerin. Es tut mir leid. Und noch etwas.« Der Opi wirkte so bedrückt, dass die Roboterstimme des Übersetzers dagegen fast grotesk anmutete. »Lauber wurde wieder auf freien Fuß gesetzt. Er hat sich die Geschichte von der Entführung nur ausgedacht, um ins Fernsehen zu kommen.«
»Also zurück auf Start«, hauchte Eva matt.
»Was nun?«, wollte Papa wissen.
»Wir werden eine Pressekonferenz abhalten.«
Meine Eltern zuckten zusammen. Die Erinnerung an das Ergebnis der ersten war ihnen sicherlich noch sehr präsent.
»Diesmal mit Ihnen beiden. Sie werden den Medienvertretern erzählen, wie Sie den Tag von Lisas Verschwinden erlebt haben. Sie werden sich in einem emotionalen Appell an den Entführer wenden und um die Freilassung Ihrer Tochter bitten. Und Sie werden eine Belohnung aussetzen.«
»Was ist mit den Blutspuren im Wagen? Ist jetzt endlich klar, von wem es stammt?«, erkundigte sich Papa.
»Ja. Es handelt sich um Tierblut. Der Fahrer, an den der Wagen vorher verliehen war, hat ein Lamm transportiert.«
Verdutzt starrten wir erst den Übersetzer an, dann Papalexis.
»Aber … es hieß doch, dass es menschliches Blut sei! Mit Lisas Blutgruppe. Und dass eine DNA-Analyse gemacht wird. – Immerhin standen wir deshalb unter ärgstem Verdacht, etwas mit ihrem Verschwinden zu tun zu haben!« Papa konnte nicht fassen, was Papalexis da so ganz nebenbei ausplauderte.
»Ein Missverständnis«, erwiderte der griechische Opi und hatte wieder sein beschwichtigendes Lächeln auf den Lippen. »Sie stehen nicht unter Verdacht. Ihre Tochter wurde entführt. Ich leite jetzt die Ermittlungen.«
Sogar ich begriff, warum Neo nicht mehr für uns zuständig war. Er hatte gepatzt. Er hatte falsche Behauptungen in die Welt geblasen, bei seinen Ermittlungen auf das falsche Pferd gesetzt und sich in Papa verbissen. Zwei Alpha-Männchen waren aufeinandergeprallt. Eventuell wertvolle Chancen, dem Entführer auf die Spur zu kommen, waren vertan.
Zum Abschied drückte uns Papalexis herzlich die Hand.
»Ich verspreche Ihnen: Ich werde Ihnen Ihre Tochter wiederbringen. So oder so.«
Die letzten drei Worte hinterließen bei mir einen bitteren Beigeschmack.
*
»Wir sind der festen Überzeugung, dass Lisa noch am Leben ist. Wir hoffen und vertrauen darauf, dass sie zu uns zurückkommt – zu ihrem Papa, ihrer Mama und ihrer großen Schwester. Jeder Tag ohne sie ist für uns ein Tag voller Dunkelheit. Ich bitte Sie von ganzem Herzen: Halten Sie die Augen offen. Wenn Sie sie sehen, wenden Sie sich an die nächste Polizeidienststelle. Helfen Sie uns, unsere Tochter wiederzubekommen. Und wenn Sie derjenige oder diejenige sind, der unser Kind in der Gewalt hat, begreifen Sie bitte: Was Sie tun, ist Unrecht. Sie nehmen einer Mutter die Tochter und einer Tochter die Mutter. Haben Sie den Anstand und bringen Sie uns Lisa zurück!«
Ich verfolgte Evas Rede, die während der Pressekonferenz von zahlreichen Kameras aufgezeichnet wurde, von einem Nebenraum aus am Monitor. Mit mir im Zimmer waren Margarete Stretenfeld, ein weiterer Mitarbeiter der deutschen Botschaft und ein paar Polizisten, die uns später wieder zu unserer Unterkunft zurückbringen sollten.
Inzwischen waren wir erneut umgezogen. Die internationalen Fernsehteams und Journalisten hielten das Haus Tag und Nacht umzingelt und waren, als die Parkfläche direkt vor dem Wohnblock voll war, dazu übergangen, ihre Wagen einfach auf der sowieso ewig verstopften Straße abzustellen.
Auf dringende Bitte der Polizei hin quartierte uns die Deutsche Botschaft daher in ein Appartement einer Hotelanlage um. Es lag in einem Nebengebäude, etwas versteckt zwischen Olivenbäumen, außer uns wohnten offenbar noch ein paar Hotelangestellte mit ihren Familien dort. Es war größer als die Unterkunft in Heraklion. Der Strand lag nur dreihundert Meter entfernt und war durch die schöne Gartenanlage des Hotels erreichbar. Dass alles in der Einflugschneise des Flughafens lag, störte keinen von uns. Im Moment hatten wir andere Sorgen.
»Etwas mehr Emotion könnte nicht schaden.« Die Stimme von Stretenfelds Kollegen riss mich aus meinen Gedanken. »Diese Frau ist kalt wie ein Fisch.«
»Psst.« Die Stretenfeld wies mit dem Kinn in meine Richtung und legte den Finger an die Lippen. Der Mann senkte daraufhin die Stimme zum Flüsterton.
»Ein paar Tränen würden die Sache glaubwürdiger machen«, drang es an mein Ohr. »Ich dachte, sie wäre ein TV-Profi?«
»Ach, die ist bei so einem Privatsender.« Margarete Stretenfelds Flüsterstimme war voller Verachtung. »Nichts Weltbewegendes. Irgendein Einrichtungsmagazin mit Promis. Hab mir mittlerweile sogar eine Folge angeschaut. Als Nachrichtensprecherin wäre sie sicher besser aufgehoben. Die ist einfach durch und durch humorbefreit und nüchtern.«
Es überraschte mich, dass Margarete Stretenfeld in Eva genau das sah, was sie so gern sein wollte, nämlich eine seriöse Journalistin; und dass ausgerechnet die Frau, die ich noch nie hatte lächeln sehen, Eva für humorbefreit und nüchtern hielt.
Vor allem humorbefreit. Ich stieß mich an diesem Wort. Eva mochte nüchtern wirken, aber sie, die gerade ihr Kind verloren hatte, humorbefreit zu nennen, war ja wohl ein Hammer!
»Das sollte genügen«, sagte die Stretenfeld, als meine Eltern wenig später zu uns kamen. »Die Medien werden Ihr Statement ausstrahlen, es besteht ab nun also keine Notwendigkeit mehr für Alleingänge und Presserummel.«
»Ich kann mit Presserummel umgehen«, erwiderte Eva reserviert. »Schließlich gehört das zu meinem Beruf.«
Margarete Stretenfelds linke Augenbraue zuckte leicht, doch sie verzog keine Miene.
»Sie vielleicht schon«, sagte sie schließlich. »Aber hier auf Kreta ist niemand daran interessiert, dass die Insel ein solches Bild in den Medien abgibt.«
Eva nickte, doch mir war klar: Letztendlich würde sie weiterhin alles tun, was sie für richtig hielt, um Lisa wiederzubekommen.
*
Die Jalousien des Appartements schirmten uns gegen die Außenwelt ab wie blecherne Schutzwände. Die Deckenlampe, deren grüner Plastikschirm mich an OP-Kleidung erinnerte, spendete wenig Licht. Ohnehin lief die ganze Zeit der Fernseher. Rund um die Uhr, ohne Pause, seit vor drei Tagen die zweite Pressekonferenz über die Bühne gegangen war. Eva und Papa klammerten sich abwechselnd an die Fernbedienung, als wäre sie ihr letzter Rettungsanker, und zappten sich durch die über sechzig internationalen Fernsehsender, die uns hier dank Satellitenschüssel zur Verfügung standen. Wann auch immer über uns berichtet wurde, fuhren die beiden aus ihrem Dämmerzustand hoch, lauschten und diskutierten hellwach, wie hilfreich der Beitrag für die inzwischen weltweite Suche nach meiner Schwester war.
Wenn sie nicht in die Glotze starrten, hingen sie an ihren Handys. Eva telefonierte mit Leuten in Deutschland, die sie von der Journalistenschule, vom Studium oder von früheren Jobs kannte, und sorgte dafür, dass die Berichterstattung über Lisas mysteriöses Verschwinden nicht abriss. Papa informierte Freunde, Bekannte und Arbeitskollegen, die – durch die Medienberichte aufmerksam geworden – besorgt anriefen, tröstende Worte loswerden wollten und gleichzeitig darauf hofften, irgendwelche Details zu erfahren. Die stundenlangen Telefonate gaben meinen Eltern wohl das Gefühl, nicht untätig zu sein.
Ich dagegen hatte das Gefühl, bald durchzudrehen. Ich fühlte mich wie im Knast, den ich nur wenige Male am Tag und immer in Begleitung – meistens von Papa – verlassen durfte, wenn wir bei einem der Minimärkte einkauften. Meine letzte warme Mahlzeit hatte ich mit ihm vor über einer Woche in der Taverne in Malia eingenommen. Seither ernährten wir uns von Oliven, Weißbrot und Obst, wobei Eva nicht einmal das essen wollte. Seit Lisa weg war, hatte sie etliche Kilos verloren.
Meistens saß ich auf meinem Bett in dem kleinen Zimmer, starrte hinaus in den Olivenhain, lauschte tagsüber dem Surren der Klimaanlage und abends dem Zirpen der Grillen. Auf dem Boden neben meinem Bett lagen ein paar Bücher. Ich hatte sie mir aus der Hotelbibliothek geholt, war bisher aber bei keinem einzigen über das erste Kapitel hinausgekommen. Die Buchstaben verschwammen vor meinen Augen und ich sah mich vom Strand zum Hotel gehen, genervt von Lisa, genervt von meinen Eltern, genervt von diesem ganzen so elend schiefgegangenen Familienurlaub. Und ich stellte mir Lisa vor, wie sie hinter mir herlief, vielleicht mit einem Sandschäufelchen in der Hand, wie sie meinen Namen rief – und wie ich sie nicht hörte und mich einfach nicht umdrehte. Jetzt, wo sie nicht mehr da war, war die Stille, die sich ohne ihr Kinderlachen und ihr ständiges Plappern in mein Leben fraß, die reinste Folter. Selbstvorwürfe und Sorge verzehrten mich nahezu. Diese verdammte Untätigkeit machte mich schier wahnsinnig. Sogar das Duschen kam mir mittlerweile wie ein Kraftakt vor.
Am neunten Tag nach Lisas Verschwinden – einem Freitag – klingelte Papas Handy, während ich gerade damit kämpfte, einen aufgeschnittenen Pfirsich herunterzuwürgen.
An seinem Gesichtsausdruck merkte ich sofort, dass etwas passiert sein musste. Er sah aus, als wäre er innerhalb von Sekunden um zwanzig Jahre gealtert.
Er sagte nur wenig: »Yes. – Ah. – I understand. – I’ll be there.« Seine Stimme klang belegt. Als er auflegte, war sämtliche Farbe aus seinem Gesicht gewichen. Er ging zu Eva, die wieder damit beschäftigt war, die Sender zu durchsuchen, und legte ihr die Hand auf die Schulter.
»Eva.« Er schluckte, als sich zwei hoffnungsvolle blaue Augen auf ihn richteten, während ich tief in meinem Inneren erstarrt war vor Angst. »Sie haben Lisa gefunden. Sie ist tot.«
*
»Du musst nicht mitkommen. Lass mich das alleine machen.«
Papa stand hilflos auf der Schwelle zum Badezimmer und sah zu, wie Eva sich die verweinten Augen kühlte. Mit das meinte er: nach Heraklion fahren und die von einer Schiffsschraube verstümmelte Leiche des kleinen Mädchens identifizieren, das vor ein paar Stunden auf einem verlassenen Strandabschnitt bei Sitia im Osten der Insel entdeckt worden war.
»Nein. Ich will mein Kind sehen – ein letztes Mal.«
Eva tuschte sich die Wimpern mit Mascara und einer Sorgfalt, die mir Gänsehaut bereitete. In diesem Augenblick war mir meine Stiefmutter völlig fremd: Wie konnte diese Frau ihr schönstes Sommerkleid anziehen, sich schminken und die Haare aufstecken, um die Leiche meiner Schwester zu identifizieren?!
»Tu dir das nicht an. Papalexis hat mich ausdrücklich vorgewarnt. Was uns erwartet, ist so oder so nicht mehr unsere Lisa, wie wir sie in Erinnerung haben. Papalexis meint …«
Eva warf ihm einen zornigen Blick über die Schulter zu.
»Es ist mir egal, was Papalexis meint! Ich bin kein Kind, das du schonen musst! Ich bin eine erwachsene Frau, und ich will meine Tochter sehen!«
»Ich möchte ja nur …«, startete Papa einen neuen Anlauf, doch ein weiterer böser Blick brachte ihn zum Verstummen.
Ein paar Minuten später trat Eva aus dem Bad. In dem langen roten Kleid und High Heels wirkte sie einfach nur grotesk – wie ein Filmstar auf dem Weg zur Oscar-Verleihung. Papa und ich betrachteten sie stumm.
Dann gingen sie.
Ich blieb zurück. Eine Weile saß ich auf dem Sofa und starrte ins Leere, wie so oft in den letzten Tagen. Dann begann ich zu weinen, aber es fühlte sich seltsam an. Ich wusste, ich sollte verzweifelt sein vor Trauer um meine Schwester. Doch stattdessen spürte ich einfach nichts außer – einer Art von Erleichterung. Jetzt gab es zumindest Gewissheit: Lisa war tot. Das war das schlimmste Ende. Es war aus. Wir konnten heimfahren. Nichts würde je wieder gut werden. Doch alles war besser als dieser Zustand des Wartens und Hoffens, in dem wir in den vergangenen Tagen dahinvegetiert hatten.
Mein Blick fiel auf den Schlüssel, der innen in der Tür steckte. Mein Gefängnis war schon jetzt keines mehr. Sie hatten mich nicht eingesperrt. Ich konnte hinaus, die Sonne auf meiner Haut fühlen. Ein Spaziergang war sicher besser, als weiter hier zu sitzen und mir Lisas toten Körper vorzustellen.
Ich schlüpfte in meine Flipflops mit den Flamingos und machte mich auf den Weg. Den Olivenhain mit unserem Wohnblock hatte ich schnell hinter mir gelassen. Vorbei an den Tennisplätzen ging es in die Gartenanlage des Hotels, in der Bananenstauden, Palmen und blühende Sträucher den Weg säumten. Ich fühlte mich gleich etwas lebendiger.
In den Poolbecken planschten Kinder fröhlich mit ihren Eltern. Es roch nach Grillfleisch und Fett. Im Hotelbistro herrschte Hochbetrieb. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Seit Tagen spürte ich wieder Hunger.
Ich hatte kein Geld und wusste nicht, ob ich hier anschreiben lassen konnte – schließlich waren wir ja keine regulären Gäste. Also ging ich zügig weiter bis zum Strand. Es war ein schöner, großer, hellgelber Sandstrand. Zum ersten Mal seit unserer Ankunft in diesem Quartier stand ich am Meer.
Das sanfte Rauschen der Wellen und die Sonne ließen mich fast vergessen, warum ich hier und nicht in Malia war. Meer ist Meer. Übermütig lief ich zurück ins Appartement, schlüpfte in meinen Bikini, schnappte mir ein Badetuch und stand kurz darauf bis zu den Knien im Wasser. Ich tauchte ein, ließ mich rücklings treiben, schaute in den wolkenlosen Himmel und genoss, dass ich endlich im Meer badete. Zum ersten Mal seit unserer Landung auf Kreta! Einen Moment lang war alles andere vergessen. Ich fühlte nur das Meer, die Sonne und mich.
Ich trug das Lächeln noch im Gesicht, als ich aus dem Wasser stieg und nach meinem Handtuch griff, das ich am Ende der Liegestuhlreihen einfach in den Sand geworfen hatte.
Ein Klicken in meiner Nähe ließ mich zusammenzucken. Ich hob den Kopf. Im selben Moment rief eine Stimme hinter mir: »Hey, Lea!«
Automatisch drehte ich mich um.
Klick, klick, klick.
Ein schwarz gekleideter Mann mit Käppi war aus dem Nichts aufgetaucht und richtete eine riesige Kamera auf mich. Ohne Brille nahm ich ihn nur schemenhaft war.
Paparazzi!
Das Wort hatte Eva in den vergangenen Tagen ausgestoßen, wann immer jemand mit solch einer Kamera hinter uns her war. Ich schnappte nach Luft, hielt mir das Handtuch vors Gesicht.
Ich hörte neues Klicken und sah, dass die Badegäste auf mich aufmerksam geworden waren. Das unscheinbare, dürre Mädchen, das in der Anonymität eines belebten Strands hatte versinken wollen, gab es nicht mehr. Die Leute starrten mich an.
Ich wollte nur noch eines: weg! Ich machte mir nicht mehr die Mühe, in meine Flipflops zu schlüpfen. Die Schuhe in der rechten Hand, das Handtuch mit der linken an mich gepresst, rannte ich los.
Selbst als die Türe des Appartements hinter mir zufiel, fühlte ich mich noch nicht sicher. Ich ließ die Jalousien herab, die ich nach Abfahrt meiner Eltern tollkühn hochgezogen hatte, um Licht hereinzulassen. Noch feucht von meinem Bad und zitternd vor Entsetzen kauerte ich mich aufs Bett und heulte los.
Auch in Malia war ich fotografiert worden, an dem Tag, als Eva und ich von der Lassithi-Hochebene zurück ins Hotel kamen und unverhofft in das Mediengetümmel platzten. Es war unangenehm gewesen, doch Angst hatte ich keine gehabt. Jetzt aber fürchtete ich mich – und das nicht nur vor dem Mann, der da draußen mit seiner Kamera herumlungerte, sondern auch vor den Konsequenzen, die dieses Foto haben könnte. Wo würde es erscheinen, mit welchem Text?
Eva hatte mir erklärt: Das sind keine Journalisten, sie sind auch gar nicht an einem Gespräch interessiert. Es sind Leute, die Fotos von Prominenten an irgendwelche Klatschmagazine verkaufen. Sie haben wenig Ahnung von der Geschichte dahinter und dichten ihre eigene um das Bild herum. Ich kannte diese Zeitschriften aus dem Wartezimmer beim Arzt.
Und prominent, das war ich ja wohl nicht, oder? Was also sollten Zeitschriften mit einem Foto anfangen, auf dem ich mich nach einem Bad am Meer abtrocknete? Im Grunde war das keine Geschichte und sicher auch nichts, wozu irgendwer etwas erfinden konnte.
Ich nahm eine warme Dusche, um den Schüttelfrost zu vertreiben, der mich mit den Zähnen klappern ließ. Danach legte ich mich mit langer Hose und Sweatshirt ins Bett. Eva und Papa fanden mich mit bis zum Kinn hochgezogener Decke und einer halbvollen Tasse Tee neben mir.
Ich hatte mit dem Schlimmsten gerechnet, doch sie wirkten seltsamerweise sehr gefasst, ja, fast aufgeräumt.
»Bist du krank?«, fragte Papa besorgt. Er legte mir die Hand auf die Stirn. »Hmm. Fühlt sich nicht sehr warm an. – Ist dir schlecht?«
»Was ist mit …«, begann ich verwirrt.
»Es war nicht Lisa.« Eva seufzte. »Es war irgendein anderes kleines, blondes Mädchen.«
Zu der Welle der Erleichterung, die auch mich erfasste, gesellte sich sofort neues Unbehagen: Was jetzt? Würden wir nun weiter hier verharren, bis … ja, bis wann eigentlich?
»Irgendjemand hat sie ins Meer geworfen«, fuhr meine Stiefmutter fort. »Oder sie ist von Bord eines Schiffes gefallen. Wir wissen es nicht. Laut Papalexis ist sie bisher nicht einmal als vermisst gemeldet worden.«
»Und Lisa? Hat die Polizei nicht auf dieser Hochebene …«
»Sie haben die ganze Gegend durchkämmt, aber da ist sie nicht«, sagte Papa. »Das war uns ja sowieso klar. Dieser Lauber war eben nur ein Dummschwätzer, der auf unsere Kosten ins Fernsehen wollte.«
»Und im Fernsehen war er nun wohl auch.« Eva, die bereits wieder ihr Handy in den Händen hielt, legte es zur Seite. »Eleni hat mir geschrieben, dass RTL und die ARD einen kurzen Bericht über ihn gebracht haben. Der Mann ist in psychologischer Behandlung. Er hat den Kreta-Urlaub von seinem Bruder geschenkt bekommen und war mit ihm und seiner Familie unterwegs. Das blonde Mädchen, mit dem er gesehen worden ist, war seine Nichte.«
»Und was passiert jetzt hier?«, erkundigte ich mich, während ich aufstand und den beiden ins Wohnzimmer folgte.
»Nun, die Polizei wird«, Papa zögerte, »Hinweisen nachgehen.«
»Wenn sie nur weiter Lisas Foto in den Medien bringen!« Eva schaltete den Fernseher ein und ließ sich in dem wallenden roten Kleid auf ihrem Stammplatz auf dem Sofa nieder. »Wenn die Berichterstattung abflaut, ist das nicht gut. Wenn Lisas Foto nicht mehr in den Köpfen der Menschen präsent ist, kann einer mit ihr auf dem Marktplatz von Heraklion spazieren gehen, und niemanden wird es kümmern!«
Sie zappte durch die Kanäle und brachte Bilder von Waldbränden, Dokus über Kreuzfahrtschiffe und Fernsehserien auf den Schirm, aber keinen einzigen Bericht mehr über Lisa.
»Wir brauchen etwas«, sagte Eva wie zu sich selbst. »Irgendetwas, was die Medien wieder anbeißen lässt, eine neue Spur … Wenn die Polizei nicht dafür sorgt, das Interesse an unserem Fall am Laufen zu halten, müssen wir es eben selbst!«
»Eva. Bitte!« Papa hob beschwichtigend die Hände. »Aufgabe der Polizei ist, Lisa zu suchen, nicht, die Medien am Ball zu halten. Diese Journalisten sind doch nur ein notwendiges Übel. Ich bin froh, dass wir offenbar nicht mehr so im Fokus stehen. Als potenzieller Kindermörder hingestellt zu werden, ist wirklich nichts, was ich nochmal erleben will!«
»Das ist doch nur am Anfang passiert, weil dieser Neokosmidis gegen uns gearbeitet hat!«, entgegnete Eva. »Seit ich den Medien eine Geschichte biete, mit der sie wirklich arbeiten können, hat sich der Tenor der Berichterstattung um hundertachtzig Grad gedreht! Alle sind jetzt auf unserer Seite und berichten endlich, was Sache ist: Unser Kind ist verschwunden und die griechische Polizei unterstützt uns nicht richtig!«
»Eva … das ist doch längst nicht mehr so. Beruhig dich und lass die Polizei ihre Arbeit tun! Ein persönlicher Rachefeldzug und Medienkrieg bringt doch nichts!«
»Rachefeldzug? Medienkrieg?« Meine Stiefmutter, die ansonsten immer so beherrscht war, funkelte Papa an. »Ich tue wenigstens etwas, um unser Kind wiederzukriegen! Du sitzt nur herum und wartest, dass andere die Arbeit machen!«
»So ein Unsinn!« Jetzt wurde auch Papa sauer. »Aber während du dich in Szene setzt, sobald du nur eine Kamera erspähst oder dir jemand ein Mikro vor die Nase hält, versuche ich eben, einen klaren Kopf zu behalten!«
»Du bist nur noch eine Marionette dieser Stretenfeld und der griechischen Polizei!«
»Ich bin einfach der Meinung, dass man Profis arbeiten lassen soll!«
»Ja, dann lass mich arbeiten, verdammt!«
Der Wortwechsel gewann an Lautstärke. Ich zog unwillkürlich den Kopf ein und hielt mir die Ohren zu, während ich aufsprang und in mein Zimmer rannte. Es brachte aber nichts, ich hörte sie trotzdem.
»Ich bin ein Profi! Falls du das vergessen hast«, schrie Eva. »Ich bin nicht nur dein doofes kleines Weibchen, das dich zum Essen mit Geschäftskunden begleitet, ich habe eine eigene Fernsehsendung!«
»Ich habe dich nie für ein –«, begann Papa, brach mitten im Satz aber ab. »Du bist vielleicht ein Profi, wenn es sich um Einrichtungen von Pseudopromis handelt, aber ganz sicher nicht, wenn es darum geht, ein vermisstes Kind wiederzufinden!«
Es herrschte Stille, bis Evas Stimme sie wie ein Messer durchschnitt: »Das denkst du also von mir: dass meine Sendung der Nebenjob einer gelangweilten Hausfrau ist, die mal kurz ein paar unbedeutende Wichtigtuer interviewt! Dass ich nicht mehr kann als das! Danke, das war deutlich!«
Die Türe fiel hinter ihr ins Schloss, ihre Absätze klackerten draußen über den Marmorboden.
Ich huschte zu Papa hinüber, der wie vom Donner gerührt schaute. Anscheinend konnte er noch nicht glauben, was da gerade zwischen ihnen passiert war. Dann kam Bewegung in ihn.
»Eva!«, brüllte er ins Treppenhaus. »Eva! So war das nicht gemeint!«
Er warf noch einen kurzen Blick zu mir. »Du bleibst hier!«, wies er mich an, dann war auch er weg.
Die Stille, die mich jetzt umhüllte, hatte etwas Beklemmendes. Ich konnte nichts anderes tun, als dazusitzen und vor mich hinzustarren. Da Eva und Papa noch nie vor uns Kindern gestritten, allenfalls lauter diskutiert hatten, war ich Kämpfe dieser Art nicht gewohnt.
Nach einer Viertelstunde kam Papa wieder zurück. Allein.
»Keine Ahnung, wo sie ist«, sagte er. »Ich kann sie nirgendwo finden. – Zum Teufel, wie konnte sie das auch so dermaßen missverstehen!« Er raufte sich sein schütteres dunkles Haar. »Ich meinte doch nur …« Er brach ab, atmete tief durch. »Lisa ist verschwunden, und sie hat nichts anderes zu tun, als sich wegen ihrer Karriere aufzuführen! Das soll einer verstehen!«
Ich sagte nichts. Einerseits verstand ich beide, andererseits aber auch keinen von ihnen.
Papa warf einen Blick auf seine Armbanduhr.
»Egal. Eva wird sich schon wieder beruhigen, dann kann ich mit ihr vernünftig reden. – Lust auf ein frühes Abendessen in Heraklion? Ich kann keine Dosenwürstchen und Oliven mehr sehen. Und auf den Schock von heute Mittag hin müssen wir was essen.« Er seufzte. »Ich denke, es ist wirklich besser, in die Stadt zu fahren. Hier draußen geistert so ein Paparazzi herum; ich will dem nicht vor die Linse laufen.«
Er hatte ihn also auch gesehen.
Einen Moment zog ich in Erwägung, ihm von meinem Erlebnis am Strand zu erzählen. Ich verwarf den Gedanken wieder. Nach seinem Streit mit Eva wollte ich ihn nicht noch mehr aufregen.
*
Mein vegetarisches Moussaka war eine Qual. Zum einen sprach Papa dauernd von diesem toten Mädchen und davon, dass es zum Glück nicht Lisa war, aber mir wurde doch ziemlich flau in der Magengegend. Ich ließ Papa weiterreden, weil er mir leidtat. Der Anblick des Mädchens hatte ihn spürbar mitgenommen. Er zerbrach sich den Kopf darüber, was dem Kind wohl zugestoßen war. Was auch Lisa hätte zustoßen können. Oder ihr noch bevorstand.
Zudem war mir schlecht vor Hitze. Es war ein Fehler gewesen, in der langen Hose und im Sweatshirt ins Auto zu steigen. Also verdrückte ich schwitzend mein Moussaka und auch noch die Melone, die mir als Dessert serviert wurde, während Papa seinem Bier drei Ouzo folgen ließ, und war dankbar, als wir uns wieder auf den Rückweg machten.
Dass Papa nach drei Schnäpsen Auto fuhr, war noch nie vorgekommen. Im Gegenteil: er hatte das bei anderen immer verurteilt. Dementsprechend unwohl war mir auf dem Beifahrersitz. Als wir endlich auf die Zufahrtsstraße abbogen, die zu unserem Wohnblock im Olivenhain führte, war ich einfach nur froh.
Meine Erleichterung währte nur so lange, bis ich die zwei Krankenwagen und das Polizeiauto entdeckte, die in einer Traube von Menschen auf dem Hotelparkplatz standen.
Im Schritttempo fuhr Papa daran vorbei – und trat abrupt auf die Bremse, als roter Stoff zwischen den Schaulustigen aufblitzte. Evas Kleid!
Wir sprangen beide gleichzeitig aus dem Auto.
Ein Filmteam wollte sich uns mit gezücktem Mikro in den Weg stellen. Papa schlug es mit der Hand weg wie eine lästige Fliege. Ich haftete mich an seine Fersen. Irgendwo seitlich von mir klickte eine Kamera in Serie.
Eva lag rücklings auf einer Trage, bereit zum Abtransport. Das Haar hing klitschnass im Gesicht; das rote Kleid klebte an ihr wie eine zweite Haut. Am rechten Fuß trug sie noch einen ihrer High Heels, den anderen hatte sie offenbar verloren.
»I am her husband … lassen Sie mich zu ihr!«, stieß Papa hervor, als sich ihm ein Mann in gelb-roter Weste in den Weg stellte. Es war der Notarzt. Die Beamten erkannten meinen Vater anscheinend und winkten uns durch.
»Liebling! Was ist passiert?«
Er griff nach Evas Hand. Sie sah ihn an, blinzelte. Schwieg.
»Was ist denn passiert?«, fragte er den Notarzt.
»Ihre Frau ist von der Klippe dort drüben gesprungen. Der junge Kerl da – der in dem blauen T-Shirt, der am Rettungswagen lehnt – war als Erster bei ihr und hat sie rausgezogen. Sie hatte leider schon Wasser geschluckt. Wir bringen sie vorsorglich ins Krankenhaus, zur Beobachtung. Sie steht unter Schock.«
»Sie ist einfach gesprungen.« Der Typ im blauen T-Shirt, dem Akzent nach ein Engländer, kam zu uns herüber. »Und dann ging sie auch gleich unter. Gut, dass ich mit dem Motorboot in der Nähe war!«
Papa nickte. Nachdenklich starrte er zu den Felsklippen, die die Bucht begrenzten und auf denen drei Tavernen thronten. Sogar aus der Entfernung konnten wir erkennen, dass ihre Tische voll besetzt waren. Mittlerweile war es fast halb neun und in den Lokalen herrschte Hochbetrieb. Hatte keiner der Gäste Eva aufgehalten?
»Sie ist einfach gesprungen«, wiederholte ihr Retter, immer noch sichtlich aufgewühlt von dem Erlebnis. »Erst sah es aus, als würde sie nur da spazieren gehen, aber dann ist sie plötzlich gesprungen. Sie wollte sich umbringen, aber ich konnte sie noch in letzter Sekunde aus dem Wasser ziehen.«
Papa nickte wieder. Er schien noch immer nicht ganz zu begreifen, was da geschehen war.
Im Gegensatz zu ihm hatte ich keinen Alkohol getrunken und kapierte sehr schnell, was Eva zu ihrem Sprung von den Klippen getrieben hatte: ihre Absicht, die Medien bei der Stange zu halten. Daher trug sie immer noch das auffällige rote Kleid. Daher wählte sie eine Stelle und eine Uhrzeit, an der sie möglichst viel Publikum hatte.
Ihr Plan war für mich so durchschaubar, dass er peinlich wirkte. Andererseits waren Papa und ich den Presseleuten auch einen Schritt voraus. Wir wussten nicht nur, dass Eva eine exzellente Schwimmerin war, sondern kannten auch die Pokale, die sich bei Oma Betty in Evas ehemaligem Kinderzimmer aneianderreihten. Eva war in ihrer Jugend eine äußerst erfolgreiche Turmspringerin gewesen.
*
»Ich habe Sie gewarnt.« Margarete Stretenfeld – diesmal in einem Anzug, der ihrer Haarfarbe so ähnlich war, dass sie noch farbloser wirkte als sonst – überreichte Papa mit sichtlichem Widerwillen den Schlüssel zu unserem dritten Quartier. Es lag wieder in Heraklion-Stadt – im vierten Stock eines Wohnblocks nahe dem Krankenhaus. Zwei Tage nach ihrem Sprung von der Klippe war Eva dort noch immer untergebracht – auf der psychiatrischen Abteilung. Erst hatte sie sich geweigert und wollte auf eigenen Wunsch gehen. Ein Einzelzimmer, ein paar Pillen, die sie seltsamerweise widerstandslos schluckte und die sie ruhigstellten, sowie das gute Zureden von Papa hatten ihren Protest jedoch schneller als erwartet zum Erliegen gebracht. Seit unserem gemeinsamen Besuch vor ein paar Stunden wurde ich den Eindruck nicht los, dass sie es sogar ein bisschen genoss, von den Pillen ins Delirium befördert und von Krankenschwestern umsorgt zu werden. Der Zwang, etwas tun zu müssen, war ihr damit endlich von den Schultern genommen worden.
Ihr Plan war natürlich aufgegangen. Die griechischen Medien berichteten, dass die Mutter des vermutlich entführten deutschen Mädchens vor Verzweiflung Selbstmord begehen wollte. Die deutschen Korrespondenten vor Ort schrieben: TV-Moderatorin Eva Dahlen stürzt sich von Klippe!, dazu viele herzzerreißende Details rund um Lisas Verschwinden.
»Wissen Sie, was ich an Goethe schätze? – Dass er so zeitgemäß ist«, ließ uns Margarete Stretenfeld in ihrem üblichen Tonfall wissen, während Papa und ich die Koffer in unsere neue Unterkunft trugen und uns zögernd ein Bild davon machten: Laminat statt Marmorfliesen, schmutzige Fester, Möbel, die aussahen wie vom Sperrmüll. Die ehemals weißen Wände waren vergilbt. Der Geruch von altem Zigarettenrauch, der sich festgesetzt hatte, stieg mir unangenehm in die Nase.
»Das Ritz ist es nicht«, bemerkte die Stretenfeld spitz, als sie mein Naserümpfen bemerkte. Dann wandte sie sich wieder an Papa. »Aber zurück zu Goethe. Der Zauberlehrling verhext den Besen und schickt ihn zum Fluss, um Wasser zu holen. Er vergisst jedoch das Zauberwort, um den Besen wieder zu stoppen. Es gibt eine Überschwemmung. Letztendlich muss er den Hexenmeister zur Hilfe holen. Die ich rief, die Geister, werd‘ ich nun nicht los! – Sie erkennen die Parallelen?«
Papa ignorierte die rhetorische Frage und öffnete stattdessen die zwei Schränke, die gemeinsam mit einem Herd mit zwei Kochplatten die Kücheneinrichtung bildeten. Bis auf eine Pfanne, einen Topf und vier Teller waren sie erwartungsgemäß leer.
»Einen Supermarkt –«, setzte er an, doch die Stretenfeld ließ ihn nicht ausreden.
»Ich gebe zu, dass ich das Medieninteresse an Ihrem Fall anfangs unterschätzt habe. Das war ein Fehler. Aber jetzt herrscht da draußen völliger Wildwuchs! Die Berichterstattung über Sie und Ihre Familie gleitet in reine Selbstdarstellung ab, mehr als dass es der Suche nach Ihrer Tochter dienlich ist. Weil Sie und Ihre Frau sich nicht mit uns abstimmen! Sie rufen Journalisten und Fotografen auf den Plan, die sich Zugang zu Orten, Akten und Personen verschaffen, und Sie werden diese Leute kaum mehr los! Ihre Frau hat gewiss journalistische Erfahrung, wenn es um Berichte über andere geht, aber in Bezug auf Ihre Familie ist sie nicht längst nicht mehr Herrin der Lage!«
Sie bedachte Papa, der bei ihrer Standpauke sichtlich nervös von einem Fuß auf den anderen trat, während er möglichst unbeteiligt schaute, mit einem langen, strengen Blick.
»Ich rate Ihnen dringend, eine PR-Agentur zu Rate zu ziehen, die für die nächsten Monate für Sie die Kohlen aus dem Feuer holt.«
Ich fand, dass Frau Stretenfeld vollkommen recht hatte. Zum ersten Mal sah ich in der Botschaftsangehörigen mehr als diesen strengen Albright-Verschnitt, der uns auf die Finger klopfte, Phrasen dreschte und uns im Regen stehen ließ. Ich sah in ihr eine Frau, die letztlich ihr Versprechen hielt: sie kümmerte sich um deutsche Staatsbürger – auch wenn die ihr den Job nicht leicht machten.
Papa presste die Lippen zusammen und schwieg. Frau Stretenfeld widersprechen konnte er wohl kaum, schließlich fand auch er, dass Eva es übertrieb, Profi hin oder her. Eher störte er sich daran, dass sie ihm das schonungslos vor Augen führte.
»Wir sollten auch über die Zukunft sprechen«, fuhr Margarete Stretenfeld fort, jetzt in versöhnlicherem Tonfall. Sie wandte sich an mich. »Lea, dein Vater wollte ja vorher nach einem Supermarkt fragen. Gleich um die Ecke gibt es einen riesengroßen. Vielleicht willst du da schon einmal hingehen und ein paar Sachen zum Abendessen einkaufen?«
Ich war kurz davor, sie zu umarmen.
Doch sie hatte die Rechnung ohne meinen Aufseher gemacht. »Auf gar keinen Fall«, widersprach Papa. »Lea geht ohne Begleitung nirgendwo hin!«
»Dann würde ich dich bitten, nach nebenan zu gehen. Ich muss mit deinem Vater alleine reden.« Die Stretenfeld nickte mir kurz zu. Ich verkrümelte mich, auch wenn es mich ärgerte, weggeschickt zu werden. Im Nebenzimmer presste ich mein Ohr an die Tür.
»… Ihr Bedürfnis, Lea zu schützen, aber Sie können sie nicht ewig einsperren«, hörte ich sie sagen. »Es ist auch für sie eine belastende Situation. Sorgen Sie dafür, dass sie baldmöglichst nach Hause fliegen kann. Sie werden ja sicher jemanden haben, der sich um sie kümmert. Großeltern, andere Verwandte.«
»Das ist nicht so leicht. Mein Bruder wohnt in Flensburg.« Ich sah vor Augen, wie sich Papa nachdenklich am Kopf kratzte. »Aber … möglicherweise lässt sich da schon etwas arrangieren. Die Mutter meiner Frau lebt in der Nähe von München.«
Oh Gott. Oma Betty!
»Ach, richtig. Die Frau, die in der Seevilla wohnt.«
Auf gar keinen Fall wollte ich bei Oma Betty leben – auch nicht für kurz! Ich mochte den Garten, in dem uns Papa vor eineinhalb Jahren ein Baumhaus gebaut hatte, und ich liebte es, frühmorgens, wenn alle noch schliefen, zum See zu laufen und ein paar Runden zu schwimmen. Oma Betty aber konnte ich nicht leiden. Mit ihren seltsam blau gefärbten Haaren, den Klunkern an den manikürten Fingern und der Sonnenbrille, die fast ein Drittel ihres Gesichts verdeckte und die sie unabhängig vom Wetter trug, wenn sie auch nur einen Schritt vor die Haustüre setzte, entsprach sie nicht dem, was in Kinderbüchern und Fernsehserien über Großmütter vermittelt wurde. Sie war nett zu mir, aber gleichzeitig tat sie oft so, als wäre ich gar nicht da.
Oma Betty lebte inmitten wertvoller Antiquitäten, mit roten Teppichen in den Gängen und üppigen Gemälden, die in pompösen Goldrahmen steckten. Dass die Möbel wertvoll waren, wusste ich deshalb so genau, weil sie mich ständig ermahnte, vorsichtig zu sein. Sogar wenn ich einfach nur am Esstisch Platz nahm, hieß es: Lea, sei vorsichtig mit dem Brokatbezug! Dass du keine Flecken machst!
Ein Wochenende bei Oma Betty zu verbringen war okay, aber möglicherweise wochenlang in ihrer Obhut zu sein? – Danke. Aber: nein, danke.
»Außerdem kann ich Lea ja wohl nicht alleine nach München fliegen lassen!«
Der Seufzer, den Margarete Stretenfeld ausstieß, war deutlich zu hören.
»Ihre Tochter ist vierzehn, sie wird das schon schaffen.«
»Nein, das kommt gar nicht in Frage!«
»Gut, gut. Regen Sie sich nicht auf. Wir finden eine Lösung. Ich muss übermorgen sowieso nach Athen; ich kann Lea dorthin mitnehmen. Sie kann mit meiner Tochter am Montag nach Frankfurt zurückfliegen. Ich bin sicher, wir bekommen noch einen Flug. Sie müssten also nur arrangieren, dass sie in Frankfurt abgeholt wird. – Kriegen Sie das hin?«
»Ja. Ich denke schon.«
»Aber wir müssen auch darüber reden, wie es mit Ihnen und Ihrer Frau weitergeht. Ich will offen sein: Die Wahrscheinlichkeit, dass sich in den nächsten Wochen irgendetwas tut, was Ihre Anwesenheit hier erforderlich macht, ist äußerst gering. Es sind tausende von Hinweisen eingegangen, leider jedoch keiner, der die Polizei wirklich weitergebracht hat. – Ehrlich gesagt: Es ist inzwischen mit dem Schlimmsten zu rechnen. – Sie sollten eine Rückkehr nach Deutschland in Erwägung ziehen. So oder so, das sitzen Sie nicht aus.«
Lange war es nebenan still. Dann hörte ich Papa mit gebrochener Stimme sagen: »Wie stellen Sie sich das vor? Dass wir zurückfliegen und weitermachen wie bisher? So, als wäre nichts gewesen?«
»Das wird nicht möglich sein, Herr Dahlen.«
Ich hörte Schritte, die im Zimmer auf- und abgingen.
»Selbst wenn Lisa irgendwann zu Ihnen zurückkehren würde: Es wird nie wieder wie früher. Darüber müssen Sie sich im Klaren sein. – Aber die Wahrscheinlichkeit, dass Ihre Tochter noch lebt, wird immer geringer. Sie werden jede Menge Kraft brauchen – über Monate, wenn nicht Jahre. Schonen Sie Ihre Ressourcen. Schalten Sie einen Anwalt ein, der sich um rechtliche Dinge kümmert und Ihr Ansprechpartner für Interpol, Europol und die Behörden ist. Engagieren Sie eine PR-Agentur. Halten Sie alles von sich fern, was Sie zusätzlich belastet. Nehmen Sie psychologische Hilfe in Anspruch. Es ist keine Schande, in einer Situation wie dieser um Unterstützung zu bitten. Das ist mein dringender Rat an Sie und Ihre Familie.«
Ihren Worten folgte wieder längeres Schweigen.
»Danke«, sagte Papa schließlich mit belegter Stimme.
Nachdem sich die Wohnungstür geschlossen hatte, hörte ich ein Geräusch, das ich nie vergessen würde. Es ging mir durch Mark und Bein. In den letzten Tagen hatte ich einige Male mitbekommen, dass mein Vater weinte. Jetzt aber schluchzte er so verzweifelt, dass es mir das Herz zerschnitt.