Mittwoch, 15. September 2021, 11.05 Uhr
Schumann setzte sich auf den Beifahrersitz des alten Passats, schloss die Tür und sagte nichts. Dann ließ er das Fenster runter. »Ich bin Nichtraucher.«
»Ich auch«, sagte Talvi und fuhr los.
Sie hatte noch keine Ahnung, wie sie in die Wohnung von Wolf Bundt gelangen würden, sie hatten keine Schlüssel. Es war auch, wenn ihre Informationen stimmten, keine Mietwohnung, für die ein Vermieter oder ein Hausmeister einen Schlüssel hätte.
»Gibt es da einen Hausmeister?«, fragte Schumann. »Wir müssen ja irgendwie reinkommen.«
»Erst mal brauchen wir einen Parkplatz. Das ist mitten in der Innenstadt, fast Fußgängerzone.«
»Vielleicht gibt es eine Tiefgarage.«
Sie brauchten tatsächlich länger, um in der Baderstraße einen Parkplatz zu finden, als sie vom Nexöplatz bis dorthin gebraucht hatten. Und Talvi war nicht sicher, ob dieser Parkplatz nun legal war oder nicht. Sie hatte keine Lust, ein Schild mit dem Hinweis auf ein Polizeifahrzeug im Einsatz hinter der Scheibe zu platzieren, es waren schon Wagen genau deshalb beschädigt worden, und sie wollte keinen Papierkram. Auch wenn es vielleicht eine Chance war, diesen Wagen loszuwerden, zumindest für ein paar Tage. Wir hätten zu Fuß gehen sollen.
Es gab tatsächlich eine Tiefgarage für das Gebäude, die aber mit einem kräftigen Scherengitter versperrt war. Der Hauseingang lag etwas versteckt ein paar Schritte in einem Durchgang. Talvi sah sich um, es war keine Kamera zu sehen. Zwei Klingeln von Firmen sowie eine von einem Rechtsanwalt und eine von einem Zahnarzt. Darüber eine fünfte Klingel, auf deren Schild einfach »WB – privat« stand.
Schumann drückte darauf, länger, als Talvi es getan hätte. Nichts geschah, niemand öffnete, niemand meldete sich über die Gegensprechanlage, deren Lautsprecher unter den Klingeln angebracht war.
Schumann sah Talvi an. »Wissen wir schon, wem das Gebäude gehört?«
Sie ärgerte sich und rief Pfahls an. Der hatte Kontakte zum Grundbuchamt, hatte Horn neulich gesagt. Nach fünf Minuten, während denen sie schweigend nebeneinanderstanden, hatte Talvi die Antwort.
»Das Gebäude gehört Wolf Bundt«, teilte sie Schumann mit.
»Gibt es einen Verwalter? Hausmeister?«
Mann, woher soll ich das wissen? Trotzdem nahm sie wieder das Telefon hoch und rief in Bundts Firma an, die Nummer war noch in der Anrufliste. Es dauerte, bis sie eine Antwort hatte, und sie musste mehrmals Fragen nach dem Grund ihres Anrufs abwimmeln. Nein, sie hätte keine Neuigkeiten. Man solle sie bitte sofort informieren, wenn Herr Bundt sich im Büro melde, beendete sie das Gespräch. Das würde allerdings niemand tun können.
»Es gibt einen Verwalter, aber der ist wohl nie zu erreichen. Einen Schlüssel für das Haus oder die Wohnung gibt es in der Firma nicht. Behaupten sie auf jeden Fall. Und wir haben noch keinen Durchsuchungsbefehl.«
Schumann sah auf die Klingelschilder. »Was ist Ihnen lieber, Scheidung oder Zahnschmerzen?«
»Scheidung«, sagte sie sofort. Schumann klingelte bei der Rechtsanwaltskanzlei. Nach distanzierenden fünf Sekunden klackte das Türschloss, und die Tür ließ sich aufschieben. Sie ignorierten beim Hinaufgehen die Tür der Kanzlei und standen dann in der dritten Etage. Dachgeschoss, eine Tür in der Mitte. Die Wohnung von Bundt schien über die ganze Hausbreite zu gehen. Die Tür war weiß, glatt und stabil. An der Klingel stand wieder nur »WB – privat«.
Diesmal klingelte Talvi, und wieder gab es keine Reaktion.
»Was jetzt? Für einen Schlüsseldienst brauchen wir eine schriftliche Anordnung, sonst machen die nichts. Gefahr in Verzug scheidet wohl aus. Auf jeden Fall höre ich keine Schreie aus der Wohnung.«
»Dafür ist vielleicht nur die Tür zu dick. Wer weiß, wer drinnen gerade bedroht oder geschlagen oder niedergemetzelt wird.«
Im Stockwerk unter ihnen wurde eine Tür geöffnet, sie hörten kurze Schritte, ein paar Sekunden später wurde die Tür wieder geschlossen. Der Rechtsanwalt hatte sich über den ausbleibenden Besuch gewundert.
»Wir sollten keinen Krach machen.«
»Habe schon begriffen, dass Sie nicht für eine robuste Lösung sind, Frau Kollegin.« Schumann blickte die Treppe hinunter, es war alles ruhig. »Ich versuche es gerne minimalinvasiv.« Er zog dünne Plastikhandschuhe und ein schmales Etui aus der Innentasche seines Sakkos. Talvi sah nur seinen Rücken, während er an dem Schloss arbeitete. Nach wenigen Augenblicken stieß er die Tür mit der Schulter auf.
»Alarmanlage?«, fragte Talvi.
»Vielleicht ja, vielleicht nein. Falls ja, dann haben wir doch Schreie gehört. Einverstanden?« Er trat ein.
Sie musste sich anschließen und ging an ihm vorbei, er schloss die Tür.
»Hallo? Herr Bundt? Polizei Greifswald, bitte erschrecken Sie nicht.«
Niemand antwortete.
Talvi steckte die Hände in die Taschen. Da sie keine eigenen Handschuhe dabeihatte, war dies die sicherste Methode, keine Fingerspuren zu hinterlassen. Dann war es ihr doch zu dumm, mit den Händen in den Taschen neben Schumann zu stehen. »Haben Sie noch ein Paar?«
Er reichte ihr eines, wobei sich ihre Finger berührten. Talvi sah nur auf die Handschuhe. »Danke.«
Sie standen in einem geräumigen Flur, eher in einem Empfangsraum. Es gab einen breiten Kleiderschrank mit Spiegeltüren, einen Schirmständer und zwei kleine Designersessel aus Leder, auf denen wohl noch nie jemand gesessen hatte. Zwei Türen gingen nach links und rechts. In der Ecke gab es noch eine schmale Tür aus weißem Metall und bestehend aus drei Elementen. Daneben war eine quadratische Metallplatte mit einem Knopf in der Mitte in die Wand eingelassen. Talvi griff an Schumann vorbei und drückte darauf. Sofort glitten die drei Elemente zur Seite und öffneten eine schrankgroße Kabine, rechts und links hingen Spiegel, ansonsten war sie leer. An der Wand der Kabine gab es zwei beschriftete Knöpfe, »K« und »D«. Neben dem »D« befand sich ein Schlüsselloch für einen Sicherheitsschlüssel.
»Keller und Dach. Ein privater Aufzug bis in die Tiefgarage?« Schumann blickte in die leere Kabine.
»Ja, das hat Kollege Horn schon von der Firma erfahren. Angenehme Alternative, statt die Einkäufe hochschleppen zu müssen. Heißt aber auch, dass ihn die Nachbarn oder Mieter, oder was immer sie sind, auf der Treppe nicht gesehen haben.«
»Fahren wir runter?«
Talvi schüttelte den Kopf. »Nein. Man braucht sicher einen Schlüssel, um mit dem Aufzug wieder hierherauf zu kommen. Dann stehen wir in der Garage und kommen nicht weiter. Das machen wir als Letztes. Wir müssen auch noch den Briefkasten finden.«
Die Aufzugtür schloss sich wieder, dann blieb es still.
»Rechts oder links?« Schumann sah sie fragend an.
Talvi ging nach links, er folgte ihr.
Sie kamen in ein großes Wohnzimmer mit zwei bodentiefen Dachgauben. Talvi sah, dass die Dachgauben draußen über eine Terrasse verbunden waren. Zwei große Ledersofas standen sich gegenüber, dazwischen stand ein Glastisch mit einem sauberen Aschenbecher und zwei Ausgaben der Zeitschrift »auto motor und sport«. Sie betätigte den Lichtschalter, und zwei Deckenfluter in den Ecken tauchten den weiten Raum in indirektes Licht.
»Wie aus dem Katalog«, sagte Schumann. »Wie ein Schaufenster. Viel Geld, kein Geschmack.«
Talvi war schon einen Raum weiter und stand in einer Küche. Viel Granit, viel Holz, viel Geld und wenig gebraucht. Nichts stand herum, keine Tasse, kein schmutziger Teller, keine leere Flasche. Durch das Fenster fiel Sonnenlicht auf eine glänzend saubere Arbeitsplatte.
Auf dieser Seite der Wohnung gab es noch ein Gästezimmer. Bis auf ein unbezogenes Bett und zwei Umzugskartons war es leer.
Sie durchquerten den Empfangsraum zur anderen Seite und fanden ein Schlafzimmer, ein Bad und ein Arbeitszimmer. Das Bett war für eine Person zu groß und für zwei zu klein, fand Talvi. Es war gemacht, die Wäsche in den Schränken und Schubladen war geordnet und gefaltet, das Bad war klinisch rein. Auf dem Schreibtisch des Arbeitszimmers lag eine Tageszeitung, die Greifswalder Ausgabe der »Ostsee-Zeitung«. Sie war vom letzten Freitag.
»Fünf Tage alt«, sagte Talvi.
»Briefkasten«, sagte Schumann, mehr zu sich selbst als zu Talvi.
»Schlüssel«, sagte Talvi mehr zu ihm als zu sich. »Ich sehe mal nach.«
Sie fand einen kleinen Schlüssel mit einem »Briefkasten«-Anhänger in der Küchenschublade. Jetzt mussten sie nur noch den Briefkasten dazu finden. »Hat hier überhaupt jemand gewohnt?«, fragte sie sich laut. »Oder ist das ein Fake? Im Arbeitszimmer gibt es weder Telefon noch Laptop. Oder ist es eine Musterwohnung, soll das hier verkauft werden? War Bundt dabei, auszuziehen?«
Talvi rief Pfahls an und setzte ihn auch auf diese Spur. Er würde zunächst die gängigen Internetportale durchgehen und dann die örtlichen Makler anrufen. Wieder ein paar Stunden Zeiteinsatz, die wahrscheinlich zu nichts führen würden.
Sie ging zurück in das Gästezimmer. Die Umzugskartons waren leer.
»Das ist kein Heim«, stellte Schumann fest.
»Er war ledig, hat viel gearbeitet und wahrscheinlich eine Haushälterin gehabt. Manche Leute brauchen nicht viel.«
»Das hier ist schon eine ganze Menge, es ist nur einfallslos und unpersönlich eingerichtet. Ich habe deutlich weniger Quadratmeter.«
Talvi nahm zur Kenntnis, dass er »ich« statt »wir« gesagt hatte, und speicherte es ab. Ihre zweiunddreißig angemieteten Quadratmeter wollte sie nicht erwähnen. Die waren anders eingerichtet, aber Einrichtung machte kein Heim.
Schumann sprach weiter. »Das sieht für mich nicht nach der Wohnung aus, in der er gelebt hat. Auch nicht wie ein Liebesnest oder wie ein Ort zum Auftanken. Aber ein Büro ist es auch nicht. Gibt es eine zweite Wohnung? Ist dann doch eine Frau im Spiel? Endete gerade eine Lebensphase von Wolf Bundt, und gibt es einen Zusammenhang mit der Tat? Wenn ja, ist die Tat der Auslöser oder eine Folge dieser Veränderung?«
»Auf jeden Fall liefert die Wohnung ein anderes Bild von Bundt als das, das er in der Öffentlichkeit abgegeben hat. War diese Wohnung Rückzug oder Flucht? Oder ist er aus dieser Wohnung geflüchtet, weil hier etwas vorgefallen ist?« Talvi zuckte mit den Schultern. »Wir sollten die Haushälterin finden und befragen. Wann sie ihn zuletzt gesehen hat, wann hier zuletzt etwas aufzuräumen war und so weiter.« Sie machte sich eine Notiz, noch bevor Schumann genickt hatte.
»Jetzt die große Frage. Hat es Sinn, hier die KTU durchzujagen? Finden wir hier etwas zu seinem Mörder?«
»Wir versiegeln die Wohnung und stecken meine Visitenkarte zwischen Tür und Rahmen«, entschied Talvi. »Mit etwas Glück meldet sich die Haushälterin, wenn sie das sieht. Solange hier nichts verändert wird, läuft uns nichts weg. Die Spurensicherung hat noch genug zu tun. Auf jeden Fall, bis wir von Dr. Mertes etwas Schriftliches haben, mit dem wir auf Angehörige zugehen können. Wenn Bundt überhaupt Angehörige hatte. Und wir wissen noch nicht mal, wonach genau wir die KTU suchen lassen sollten. Also nein, das kommt später.«
Schumann war einverstanden. »Das ist gut. Glaube auch nicht, dass wir den Körper zu seinem Schädel hier finden. Wir hätten etwas riechen müssen, meine ich. Und der Kühlschrank ist dafür zu klein. Dann sind wir hier fertig. Wir müssen uns jetzt trennen.«
»Ich versiegle die Wohnungstür von außen, Sie fahren im Aufzug runter. Wir treffen uns unten.«
»Irgendwo«, sagte er, ging in den Empfangsraum und drückte den Aufzugknopf, sofort glitt die Tür auf. »Bis gleich.« Dann war er verschwunden.
Talvi zog die Tür hinter sich zu, klebte den Versiegelungsstreifen mit dem Landeswappen über den Spalt zwischen Türblatt und Rahmen und drückte eine ihrer Visitenkarten in die Gummifalz. Dann nahm sie einen Kuli aus der Tasche und unterstrich ihre Telefonnummer auf der Visitenkarte, das musste reichen. Mit dem Briefkastenschlüssel in der Hand ging sie die Treppe hinunter.
Die Briefkästen fand sie an der Außenwand, hinter einem Mauervorsprung neben der Eingangstür. Fünf Klingeln, fünf Briefkästen. Der mit »WB – privat« war leer bis auf die Aldi-Werbung der letzten Woche. Er war also seit mehreren Tagen nicht mehr geleert worden. Sie ging zur Straße und spähte durch das Scherengitter hinunter in die Tiefgarage. Sehen konnte man nur ein paar Schritte weit die Auffahrt hinunter, dahinter war es dunkel.
Jetzt flackerten unten Neonröhren, und sie konnte dem Verlauf der Auffahrt mit den Augen folgen.
»Herr Schumann?«
»Hier! Habe endlich den Lichtschalter gefunden.« Seine Schuhe kamen ins Bild, dann seine Beine, dann sein Oberkörper. Er näherte sich der Rampe, plötzlich setzte sich das Scherengitter in Bewegung, Talvi zuckte zurück.
»Eine Lichtschranke«, rief er. »Praktisch, da muss man nicht aussteigen.«
Sie bückte sich unter dem Gitter durch, kaum dass es auf Hüfthöhe war, und ging die Auffahrt hinunter ihm entgegen. »Im Briefkasten lag nur der Aldi-Prospekt von letzter Woche. Wahrscheinlich lässt er sich Post und Pakete ins Geschäft schicken. Da ist wenigstens immer jemand, um das anzunehmen.«
»Würde ich genauso machen. Ich habe seinen Wagen gefunden.« Er führte sie zu einem silbernen Porsche 944 mit Kennzeichen HGW-WB-19H.
»Warum neunzehn?«
Sie erinnerte sich an ein Detail des Personalausweises. »Er ist an einem 19. geboren. 19. Juni, glaube ich.«
»Also ein Zwilling«, sagte Schumann. »Und die anderen Opfer?«
Der Wagen stand auf einem reservierten Parkplatz und war verschlossen. Von außen konnten sie auf den Sitzen nichts liegen sehen. »Genauso aufgeräumt wie die Wohnung. Wo ist der Schüssel dafür?«
»In der Wohnung lag keiner, auf jeden Fall nicht sichtbar. Er hatte ihn in der Tasche, nehme ich an. Oder jemand hat den Schlüssel mitgenommen, weil er auch Bundt mitgenommen hat.«
Talvi sah sich um. Nur wenige Schritte vom Wagen gab es das Gegenstück zur Aufzugstür von oben, Bundt hatte keinen weiten Weg zwischen Auto und Aufzug gehabt.
Insgesamt war die Tiefgarage sogar kleiner als die Grundfläche des Hauses, und es gab nur zwei weitere Stellplätze. Dazwischen war nicht viel Platz, Drehen oder Wenden musste eine ziemliche Kurbelei sein. Die beiden Wagen auf den anderen Plätzen, ein neuer VW Beetle und ein Audi TT, beide mit Greifswalder Kennzeichen, beachteten sie nicht weiter, aber Talvi machte sicherheitshalber mit dem Handy Fotos der Nummernschilder. Interessanter waren die beiden Kameras, die sie an der Decke sahen. Eine Kamera zeigte die Auffahrt hinauf, die andere zeigte in eine dunkle Ecke.
Mit lautem Klappern senkte sich das Scherengitter wieder. Schumann stellte sich unter die Kamera und folgte mit dem Blick ihrer Ausrichtung. »So ergibt das keinen Sinn. Nehme an, die ist verstellt worden. Würde mehr Sinn machen, wenn sie auf die Aufzugstür zeigen würde. Dann könnte man oben prüfen, wer hinaufwill.«
Talvi war nicht sicher. »Es gab oben aber kein Display dafür.«
»Vielleicht haben wir es nicht gefunden. Vielleicht braucht man kein Display, weil die Kamera auf ein Handy überträgt. Auf jeden Fall liegt die Kamera dem Aufzug genau gegenüber. Eine dunkle Ecke zu überwachen ist sinnfrei, finde ich.«
»Dann müssen wir herausfinden, ob auch aufgezeichnet wird oder nur übertragen. Mit Glück sehen wir auf der Aufzeichnung, wer die Kamera verdreht hat.« Talvi machte sich eine Notiz.
Draußen fuhr ein Auto vorbei, sie konnten es hören und sehen, denn die Auffahrt wurde für zwei Sekunden dunkler und dann wieder hell. Das Geräusch wurde schwächer.
Schumann steckte die Hände in die Taschen und sah Talvi in die Augen, nicht in ihr Gesicht. »Also, was haben wir hier? Eine leblose Wohnung ohne Zeichen einer Anwesenheit und einen verschlossenen Oldtimer, beide verbunden mit einem privaten Aufzug, für den man einen Schlüssel braucht.«
»Und eine Stunde unserer Zeit.«
»Was an Bundt hat seinen Mörder interessiert? Oder wütend gemacht? Provoziert?« Schumann zuckte mit den Schultern, ließ aber die Hände in den Taschen. »Die Stunde waren wir nicht umsonst hier, aber vergebens. Soweit wir das wissen. Wir wissen ja nicht einmal, was wir in der Wohnung übersehen konnten, weil wir nicht wissen, wonach wir eigentlich suchen müssen.«
Dieses Mal sah er die Lichtschranke, die in Kniehöhe quer über die Auffahrt ging. Das Gitter rappelte nach oben, Talvi schlüpfte drunter durch, Schumann wartete, bis er aufrecht hindurchgehen konnte.
Sie hatte kein Ticket hinter dem Scheibenwischer. Vielleicht war der Parkplatz ja doch legal. Oder das Ordnungsamt war langsam heute.
Talvis Handy meldete eine SMS. Die Nachricht war von CK. »Mertes hat ID Tschernig bestätigt. Mail liegt vor.«
Talvi gab die Adresse von Frau Tschernig ins Navi ihres Telefons ein. Horn oder Pfahls hätten das so gefunden, sie war noch immer die Neue, das zeigte sich auch in ihren geografischen Kenntnissen.
Nummer 7 war ein Reihenhaus, links lag Nummer 6, rechts Nummer 8. Die Häuser waren gleich neu und gleich hoch und hatten die gleiche Aufteilung der Fassade, unten die Eingangstür und ein Fenster, oben zwei Fenster. Kurze Vorgärten, kaum zwei Meter tief. Man konnte von der Straße auf den Küchentisch sehen. Ein Bodendecker im Vorgarten umgab den Stamm einer nicht einmal hüfthohen Trauerbirke. Neben die Haustür waren drei Mülltonnen an die Grundstücksgrenze gequetscht worden, sodass man auf dem Weg zur Tür einen kleinen Umweg machen musste. Talvi drehte den Kopf kurz nach links und rechts. Sogar die Gardinen sind in diesen Neubauvierteln identisch. Das ist kaum größer als eine normale Wohnung. Und wahrscheinlich trotzdem bis zur Organspende verschuldet. Ein schlechtes Wortspiel für das Haus eines Unfallchirurgen, der hier nicht mehr wohnt.
Der langsame Klingelton drang durch die Tür bis nach draußen. Eine junge Frau mit Augenringen öffnete die Tür, auf dem Arm hielt sie ein kleines Kind, es mochte zwei oder drei Jahre alt sein, Talvi kannte sich da nicht aus. Das Kind sah sie einmal an und versteckte dann sein Gesicht am Hals der Mutter. Im Hintergrund hörten sie ein zweites Kind weinen. Die Frau zuckte beim Blick in Talvis Gesicht zusammen und hielt ihr Kind fester.
Schumann versuchte, die Situation zu retten. »Frau Tschernig? Mein Name ist Schumann, das ist meine Kollegin Caster. Polizei Greifswald.« Sie hoben gleichzeitig die Dienstausweise.
Frau Tschernig sah noch immer in Talvis Gesicht. Talvi kannte das, ihre Hässlichkeit konnte für Blicke sehr attraktiv sein. Die Frau trug Crocs, Jeans mit Rissen an den Knien und ein formloses Paulchen-Panther-T-Shirt, das bis über die Hüften reichte. Ihre braunen Haare waren strähnig, und ihre Lippen trugen nur noch einen Rest des vormittäglichen Lippenstiftes. Dann löste sie ihren Blick, sah Schumann an und schüttelte den Kopf. »Wenzke.«
»Bitte? Sie sind nicht Frau Tschernig?«
Jetzt nickte die Frau. »Doch, diese Woche bin ich noch Frau Tschernig. Nächste Woche ist die Scheidung durch und die Namensänderung, dann heiße ich wieder Wenzke.« Sie schien in den Raum zwischen ihnen beiden zu blicken, während sie ergänzte: »Mein Mann ist nicht hier. Und das ist gut.«
»Das wissen wir, Frau Tschernig. Oder Wenzke, was Ihnen lieber ist. Können wir reinkommen?«
»Ist nicht aufgeräumt. Das kriegt man nicht hin, allein mit zwei Kindern.« Aber sie öffnete die Tür weiter und drehte sich dann um. »Wieder zumachen, sonst laufen die Blagen raus. Die laufen dauernd raus.«
Schumann trat ein, Talvi folgte und schloss die Tür sorgfältig. Das Haus roch nach kaltem Essen und alter Wäsche. Zwei volle Einkaufstüten standen auf dem Parkett vor der Küchentür, daneben lagen Kinderschuhe und zwei bunte Jacken. Sie folgten dem Quietschen der Crocs auf dem Parkett in ein enges Wohnzimmer, in dem Spielsachen und Wäscheberge den Fußboden belegten. Ein Sessel, ein Zweisitzer aus abgeschabtem Leder, dahinter eine Terrassentür und eine große Glasscheibe in einen Garten, der kaum größer war als der Vorgarten. Magerer Rasen ging bis zu einer Trennwand aus Holz, rechts und links grenzte Maschendraht die Grundstücke ab. Hinter dem Holzzaun verlief wahrscheinlich ein schmaler Gang, dann fingen die nächsten Grundstücke an. Talvi würde sich das später auf Google Maps ansehen.
Frau Tschernig setzte das Kleinkind auf den Boden neben ein paar bunte Plüschtiere, nahm zwei Haufen Bügelwäsche vom Sofa und ließ sie neben dem Zweisitzer auf einen dritten Haufen fallen. »Wollen Sie sich setzen? Haben Sie Neuigkeiten?«
»Vielleicht sollten wir das nicht vor den Kindern …«
Die Frau schüttelte entschieden den Kopf. »Die kann ich nicht allein lassen. Machen nur Scheiß.«
Schumann sah zu Talvi, die neben ihm saß. Das Sofa war niedrig, sie konnten die Beine nicht richtig ausstrecken. »Dann achten wir auf unsere Formulierungen.« Er zog kurz die Augenbrauen hoch.
Talvi übernahm. »Ja, wir haben Neuigkeiten. Es ist nicht davon auszugehen, dass Ihr Anspruchsgegner in dem Trennungsverfahren noch einmal in Erscheinung treten kann.« Hoffentlich ist das nicht zu kompliziert. Sie wirkt nicht wie eine Arztgattin, eher wie ein überfordertes Kindermädchen.
»Dann hätte ich mir die teure Scheidung sparen können? Schade um die Knete. Muss ich ihn identifizieren?«
Jetzt schüttelte Talvi beim Gedanken an den grinsenden Totenschädel in der Kühlung der Gerichtsmedizin schnell den Kopf. »Das wird nicht notwendig sein. Wir haben bereits Gewissheit.«
Details wollte seine Witwe nicht wissen. Auch nicht darüber, wie und warum das jetzt so war.
Schumann drehte seine Beine in die andere Richtung, das war auch nicht bequemer. »Hatte Ihr Anspruchsgegner Feinde? Gab es Drohungen?«
»Kann ich nicht sagen, hab ihn seit Wochen nicht gesehen. Und das Schloss habe ich schon vor Monaten ausgewechselt. Post kam hier nicht mehr an, in den Schränken oben ist auch nichts mehr.«
Talvi erinnerte sich an die Informationen von Horn. »Aber das Geld kam pünktlich?«
Die Frau deutete ein Nicken an. »Zu jedem Monatsende. War ja wenig genug.«
»Gab es eine Lebensversicherung?«
»Zuerst hatten wir zwei, wir waren gegenseitig eingesetzt. Das war eine Auflage der Bank für die Finanzierung der Bude hier. Die haben wir gekündigt bei seinem Auszug. Da war schon klar, dass er nicht wieder einziehen würde. Mir jedenfalls.« Sie ließ offen, was das für die Bank bedeutete. Das kleine Kind versuchte, auf ihren Schoß zu klettern. Sie ließ es eine Weile zappeln und quengeln, bevor sie es schließlich mit einem Seufzer nach oben zog. »Der eine Anwalt war besser als der andere, aber bei …«, sie warf einen Blick hinunter auf das Kind auf ihrem Schoß, »… meinem Anspruchsgegner war nichts zu holen. Seit drei Jahren Assistenzarzt, Beförderung nicht in Sicht. Also entweder zu faul oder zu unbegabt für einen Stationsarzt, fragen Sie mich nicht. Es ist zwei plus vier Jahre her, dass ich Krankenschwester war.«
»Gibt es noch Unterlagen im Haus? Schriftwechsel, Fotos, Kontoauszüge?«
»Nein, was nicht mit ihm ausgezogen ist, habe ich weggeworfen. Schon vor zwei Jahren, als die Anwälte ans Ruder kamen.«
»Haben Sie denn noch eine Zahnbürste von ihm? Einen Kamm?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Den letzten Kram habe ich vor zwei Wochen weggeworfen. Die Tonnen wurden gestern geleert.«
»Wissen Sie, ob es ein Testament von ihm gibt?«
Neben ihnen fiel ein Turm Bauklötze um und klapperte auf das Parkett. Die junge Mutter verdrehte die Augen. »Ja, das gibt es. Seine Eltern haben damals darauf bestanden, dass wir eins machen. Es gibt aber nichts mehr zu erben. Das Traumschloss hier gehört der Bank, wir sind nur noch geduldet. Eigentlich könnte ich schon anfangen zu packen. Seit er ein eigenes Konto hat, ist meins unter der Nulllinie, keine Aussicht auf Besserung. Seinen Kontostand kenne ich nicht, aber mit den Raten für das Haus, der Miete für sein Wohnklo und dem Unterhalt für uns kann von seinem Gehalt nicht viel übrig bleiben. Das Auto ist auch schon verkauft. Mich fährt meine Mutter, wenn es nicht anders geht, und er hat sein Fahrrad mitgenommen.« Sie hatte dabei an Schumann vorbeigesehen, jetzt sanken ihre Schultern unter dem T-Shirt herab, Paulchen Panther ließ die Mundwinkel hängen.
Das hat sie sich mal anders vorgestellt. Schmuck trägt sie auch nicht mehr, nicht einmal Modeschmuck. Die Fingernägel sind kurz und nicht lackiert. Nicht die Sorte Arztgattin, die den Tag mit Prosecco und Shopping beginnt.
Die Frau mit dem traurigen Panther auf dem Bauch drückte das Kind an sich, das sich gleich zu befreien versuchte. »Reicht Ihnen das?«
Talvi wollte hier raus. »Das reicht uns. Für heute auf jeden Fall. Wir werden uns wieder mit Ihnen in Verbindung setzen, wenn sich etwas Neues ergibt.« Wenn wir einen Körper finden, den Sie beerdigen können, setzte sie nicht hinzu. Sie reichte Frau Tschernig eine Visitenkarte, die diese mit spitzen Fingern entgegennahm. »Sie sollten nicht umziehen, ohne uns zu informieren. Danke, Frau Wenzke, wir finden allein raus.«
Sie stiegen über die Wäscheberge, froh, die Beine wieder ausstrecken zu können.
Talvi öffnete den Wagen mit der Fernbedienung.
»Suchen Sie ein Haus in Greifswald?« Schumann sah sie über das Dach des Wagens hinweg an. »Hier wird bald eins frei.«
»Nein.«
»Das war der maximale Gegensatz zu Wolf Bundt, wo ist die Gemeinsamkeit, die Verbindung? Bundt hat Geld und ist einsam, er hat seine Ziele erreicht und ist doch nicht angekommen. Den Eindruck machte die Wohnung auf mich. Hier gibt es Kinder, ein Scheitern, kein Geld und wenig Perspektive. Können sich Bundt und Tschernig wirklich gekannt haben?«
»Wenn ja, waren sie sich sympathisch?«, fragte Talvi. »Oder kannten sie sich, weil sie sich gerade nicht sympathisch waren?«
Er schnallte sich an. »Wir haben mehr Fragen als gute Ideen.«
Sie standen im engen Fahrstuhl, fuhren von der Parkebene in ihre Büroetage. Ihre Schultern berührten sich. Sie fuhren schweigend, bis die Tür sich öffnete. Schumann machte eine Handbewegung, um ihr den Vortritt zu lassen.
»Was zu trinken?«, fragte Talvi.
»Wenn Sie jetzt was trinken müssen, dann trinke ich gerne einen mit.« Er zwinkerte.
»So nicht. Kaffee? Wasser?«
Das Geräusch von Schritten unterbrach sie, Horn kam ihnen entgegengeeilt. »Wir haben ein Geständnis!«, rief er.
»Von wem?«, fragten sie zeitgleich und nahmen sich nicht die Zeit, die Jacken auszuziehen.
»Wer?«, fragte Talvi. »Wann?«
Horn hatte einen A5-Zettel in der Hand. Talvi sah, dass es ein Formular von einem Block für Telefonnotizen war. Er hatte bereits alle Details wie Datum, Uhrzeit, beteiligte Personen und das Aktenzeichen eingetragen, damit das Stück Papier im Prozess als Beweis anerkannt werden konnte.
Schumann hielt sich zurück. Das war jetzt etwas zwischen Caster und Horn, da konnte er nur zusehen. Und er beobachtete genau, wie Talvi Caster mit der Situation umging, achtete auf ihre Sprache, ihren Gesichtsausdruck, ihre Körperhaltung. Die hat was auf dem Kasten, und im Bikini muss sie früher umwerfend gewesen sein. Ob sie überhaupt noch einen hat?
Horn sah konzentriert auf den Zettel, als erwartete er, dass seine Schrift gleich verschwinden würde. »Vor zwanzig Minuten wurde eine Fußstreife in der Langen Reihe von einem Mann angesprochen. Er nannte sich Freddy Jessen, eine Überprüfung der Personalien erbrachte, dass er Friedrich Jessen heißt. Zweiunddreißig, wohnhaft hier in Greifswald. Er stellte sich vor und sagte dann, ich zitiere: ›Ich will zu Talvi Caster. Sie hat die Köpfe, ich habe den Rest‹, Zitat Ende. Die beiden Kollegen haben ihn unauffällig zur Wache in der Brinkstraße mitgenommen und uns informiert. Es kam über die Zentrale bei mir an, weil Sie unterwegs waren. Die Kollegen halten ihn unter Beobachtung. Er macht anscheinend keine Anstalten, die Wache zu verlassen.«
Talvi bemerkte, dass Schumann ihr die Bühne überließ. »Hat er sonst etwas gesagt?«
Horn zuckte mit den Schultern. »Weiß ich nicht, ich habe nur die mündliche Schilderung der Kollegen von der Wache.«
»Okay, sagen Sie den Kollegen, sie sollen den Mann vorläufig festnehmen, Anfangstatverdacht einer schweren Straftat. Dann schicken wir einen Wagen, der ihn abholt. Drei Beamte, Sicherheitsstufe. Der Mann ist mit großer Wahrscheinlichkeit gefährlich. Ich hoffe, die Brinkstraße hat ihn schon nach Waffen durchsucht?«
Horn zog wieder die Schultern hoch. »Frage gleich nach.«
Schumann räusperte sich. »Sie halten das für echt?«
»Das mit den fehlenden Körpern hatten wir nicht in der Pressemitteilung, und Dr. Worges hat es aus der PK auch herausgehalten. Das ist Täterwissen. Und es ist jemand aus Greifswald, wie wir vermutet haben. Auf jeden Fall ist es wichtig. Natürlich müssen wir ihn auseinandernehmen und das Geständnis schriftlich haben, mit Zeugen und so weiter.« Sie senkte die Stimme. »Bis dahin bitte nichts nach außen, auch nicht an die Staatsanwaltschaft.«
»Es ist das Beste, was Sie derzeit haben. Dem müssen Sie nachgehen. Aber Sie wollen das Ei sehen, bevor Sie darüber gackern.«
»Wir sollten das Ei haben, bevor wir auch nur übers Gackern nachdenken.« Sie versuchte ein Lächeln und spürte, wie sich die Narbe an ihrem Mundwinkel spannte.
»Okay.«
»Ich kümmere mich.« Horn eilte in sein Büro zurück.
Schumann beschäftigte sich mit seinen Manschetten. »Wir sind beide Nichtraucher, also gibt es keine Siegeszigarre für uns wie im Kino. Auch wenn es anscheinend etwas zu feiern gibt. Das war dann mein kürzester Fall.«
»Tut mir leid, dass Sie deshalb hier heraufkommen mussten.«
Er lachte. »Ja, fast mehr Fahrtzeit als Ermittlung. Ist trotzdem okay, und wir sind ja noch nicht ganz fertig. Aber wie war das mit Kaffee? Damit könnten wir doch anstoßen. Provisorisch zumindest.«
Sie nickte. »Ich hole meinen Becher. Gehen Sie ruhig vor.«
Schumann stand mit seinem Handy in der Teeküche, den Rücken zum Fenster. Talvi kam mit ihrem leeren Becher in der Hand herein, in diesem Augenblick verschickte er die SMS, die er an seine Kollegin im LKA getippt hatte: »haben schon gestaendnis, kgd, morgen zurück in h, kdb«.
»Kgd« stand für »kein großes Ding«, und »kdb« hieß »küsse deinen Bauch«. Auf Diensthandys besser mit Abkürzungen. Wer wusste schon, wer alles mitlas.
»Warten Sie, ich suche Ihnen einen sauberen Becher raus.« Diesmal nahm sie für ihn aus dem Sammelsurium des Oberschrankes einen Designer-Porzellanbecher, bei dem nur eine kleine Ecke fehlte. Sie stellte die Becher nebeneinander unter die Maschine.
»Danke.« Er nahm seinen Becher, und sie stießen an. Dem Klang nach war einer der Becher gesprungen. »Erleichtert?«
Sie pustete über die heiße Flüssigkeit. »Ziemlicher Druck von der Presse und ziemlicher Druck vom Staatsanwalt. Wenn wir tatsächlich schon liefern können, dann sind wir die Helden.« Das würde sicher bei der anstehenden Personalentscheidung eine Rolle spielen. Rückenwind zur rechten Zeit. Vielleicht durfte sie auch einmal Glück haben.
Er lächelte sie an, und auch dieses Mal sah er ihr in die Augen, nicht nur ins Gesicht. »Dann sind Sie die Heldin. Ich habe in der kurzen Zeit nichts Relevantes beitragen können. Eigentlich habe ich nur dumme Fragen gestellt.« Schumann wartete darauf, dass Talvi widersprach, und senkte den Blick, während sie das tat. Er hörte aber nicht richtig zu. »Das ist nett von Ihnen, Frau Kollegin. Haben Sie nach der Vernehmung schon etwas vor? Heute Abend? Würde mich gerne für die gute Zusammenarbeit in diesem Fall bedanken. Auch wenn sie nur kurz war. Und wir zwei könnten richtig anstoßen. Auf Ihren Erfolg.«
Talvi nickte und fühlte ihre Wangen warm werden. Bei ihrer Finanzlage würde schon ein Besuch beim Italiener um die Ecke ein Loch in die Kasse reißen. Schumann konnte das bestimmt beim LKA als Spesen absetzen.
Er deutete ihre roten Wangen falsch. »Wir suchen uns einen gemütlichen Tisch irgendwo in einer Ecke. Weg vom Trubel.«
Sie nickte wieder und trank schnell einen Schluck von dem noch viel zu heißen Kaffee, um ihn und sich abzulenken. Das in ihrem Gesicht konnte ein Lächeln gewesen sein. Es war lange her, dass sich ihr Gesicht so angefühlt hatte.
Horn ging in großen Schritten an der Tür vorbei. »Sind gleich da«, rief er in die Teeküche.
»Wo ist der Vernehmungsraum?«, fragte Schumann. »Sie haben hier doch Spiegel, Audio, Video und so weiter?«
»Ja, wird aber nur selten gebraucht. Wie wollen wir uns aufteilen?«
»Es ist Ihr Fall. Sie und Horn führen das Gespräch, ich beobachte den Verdächtigen. Sprache, Betonung, Körpersprache, Wortwahl, Sprechtempo und was dazugehört.«
Dann wäre es offiziell ihr Verhör mit ihrer Stimme in der Aufzeichnung und ihrer Unterschrift, ohne aktive Anwesenheit eines Profilers vom LKA. Schumann wollte ihr einen Gefallen tun. Hat er schon von der bevorstehenden Bergmann-Nachfolge gehört? Ich habe ihn doch kaum aus den Augen gelassen. »Klingt gut, so machen wir das.«
»Wollen Sie mit Horn vorher die Rollen abstimmen?«
»Sie meinen guter Bulle, böser Bulle? Verständnis und Druck? Mitleid und Drohung?«
»So ähnlich. Ist jedenfalls nicht verkehrt, mit klaren Rollen reinzugehen. Sie sind doch erst kurz hier, oder? Dann haben Sie und Horn noch keine Routine in dieser Situation. Und gehen Sie vorher noch mal aufs Klo, damit Sie nicht im falschen Moment unterbrechen müssen.« Er grinste wie ein Schuljunge.
Da hatte Schumann auf jeden Fall recht. Sie führte ihn eine Treppe tiefer zum Verhörraum.
Zeitgleich mit ihnen kam der alte Pfahls dort an. »Wir haben ein Geständnis, sagt Horn?«
»Ball flach halten, Kollege. Wir haben einen Geständigen und seine erste Aussage bei den Kollegen in der Brinkstraße. Ich habe einen Wagen hingeschickt. Der Kollege Schumann bleibt bei Ihnen im Technikraum. Horn und ich führen die Vernehmung durch. Frau Kressin recherchiert parallel, was es über diesen Herrn Jessen gibt.«
»Gut. Viel Erfolg.« Pfahls nickte ihr zu. »Kommen Sie rein«, sagte er dann zu Schumann.
Wann ist der Raum eigentlich das letzte Mal benutzt worden? Hoffentlich liegt da nicht fingerdick Staub herum. Sie öffnete die zweite Tür, die Tür zum eigentlichen Verhörraum, in dessen Mitte ein fest installierter Tisch stand, an den ordentlich vier Stühle geschoben waren. Drei Reihen von Neonröhren flackerten und zeigten eine dünne Staubschicht auf dem Tisch, die Talvi schnell mit einem Papiertaschentuch wegwischte. Dabei fiel ihr ein, dass Schumann und Pfahls sie sehen konnten, und sie steckte das Taschentuch weg. Sie schaltete die Mikrofone ein, kleine rote Lampen gingen an. Die Kameras wurden vom Technikraum aus bedient.
»Eins, zwei, Test, Test.«
Sofort kam Pfahls Stimme über die Lautsprecher. »Laut und deutlich, Frau Caster.«
Dann erinnerte sie sich an Schumanns Rat und ging zur Toilette.
Sie kam zurück und hatte jetzt auch ihre Mappe dabei. Die Blätter waren noch leer, aber das wusste der Verdächtige nicht. Wir haben nichts, er hat alles. Wenn er etwas hat.
Im Raum saßen sich Horn und ein Mann gegenüber. Die beiden Männer sahen sich an, keiner sagte etwas.
Der Mann war im Sitzen etwas größer als Horn, also circa eins neunzig. Er hatte kurze blonde Haare, trug ein rotes Holzfällerhemd und Jeans, soweit sie das sehen konnte. Die Schuhe waren unter dem Tisch verborgen. Seine Hände waren schmal und feingliedrig, das sah sie über seine Schulter hinweg. Sind das Hände, mit denen er drei Menschen umbringen und drei Köpfe abtrennen kann?
Er konnte sie noch nicht sehen. Sie stand hinter ihm – es war immer gut, wenn die vernehmenden Beamten hinter dem Verdächtigen hereinkamen – und gab Horn ein Zeichen. Er stand wortlos auf und folgte ihr nach draußen. Dort stimmten sie rasch die Rollen und das Ziel der ersten Vernehmung ab. Das war zwar improvisiert, aber besser als nichts. Hätte ich darauf bestehen sollen, dass Schumann dabei ist? Nein, das ist meine Show.
»Packen wir’s an«, sagte Horn. Er klang überzeugt.
Sie gingen gemeinsam wieder hinein. Talvi setzte sich dem Mann gegenüber neben ihren Kollegen und sagte nichts.
Friedrich Jessen wandte den Blick von Horn zu ihr. Seine Augen, irgendwo zwischen grau und grün, blinzelten beim ersten Blick in ihr Gesicht und waren für zwei Sekunden starr, bis er sich unter Kontrolle hatte. Talvi hielt seinem Blick stand und nutzte den stummen Austausch, um ihn zu mustern. Jessen war glatt rasiert, die Augen standen nahe beieinander. Seine Lippen waren geschwungen, er schien zu schmunzeln, aber sein Blick war hart, mitten in der Bewegung eingefroren. Offenbar wollte er sich den Schreck über ihren Anblick nicht anmerken lassen. Seine Finger waren verschränkt, die Hände lagen auf der Tischplatte. Das nannte man »einen Igel machen«, weil die Finger dann wie ein Igel in Richtung des Gegenübers zeigten. Eine klassische Abwehrgeste, meist unbewusst. Talvi kannte das, ihre Hände lagen rechts und links neben ihrer Mappe auf dem Tisch.
Sie vergewisserte sich, dass die Lampen der Mikrofone und Kameras leuchteten. »15. September, dreizehn Uhr fünfzehn«, begann sie dann. »Anwesend sind Kriminalkommissar Horn und Kriminaloberkommissarin Caster sowie Herr Friedrich Jessen, zweiunddreißig Jahre alt, wohnhaft in Greifswald, Adresse bekannt.« Talvi beugte sich leicht nach vorn. »Herr Jessen, alles, was Sie hier sagen, kann gegen Sie verwendet werden. Das Gespräch wird aufgezeichnet, dagegen können Sie keine Rechtsmittel einlegen. Sie wissen, warum Sie hier sind? Verlangen Sie anwaltlichen Beistand? Das wäre Ihr gutes Recht.« Sie bemühte sich, ihre Stimme ruhig und fürsorglich klingen zu lassen.
»Und allen Grund«, murmelte Horn.
Jessen blickte auf, seine Augen weiteten sich wieder, weil ihr Gesicht jetzt näher vor ihm war. »Nein, den verlange ich nicht«, sagte er rasch. »Ihre Kollegen auf der Wache haben mich das auch schon gefragt. Wozu auch? Es gibt ja nichts zu verteidigen. Nichts abzustreiten.« Er nickte, ließ dabei die gefalteten Hände auf der Tischplatte. »Ich bin der, den ihr sucht.«
Sie lehnte sich nach hinten und vergrößerte so die Distanz zu ihm. »Weshalb suchen wir Sie denn?«
»Ihr habt drei Schädel gefunden. Auf dem Fischerfest. Auf dem Gelände, meine ich, als das Fest vorbei war. Das war ich.« Er sprach mit fester Stimme, aber sehr leise. Garantiert wusste er, dass sie sich anstrengen würden, ihm zuzuhören.
»Sprechen Sie bitte lauter.« Nun lehnte sich Horn nach vorn und fixierte Jessen. »Das ist eine offizielle Vernehmung, und Sie haben sich selbst beschuldigt, für den Tod von drei Menschen verantwortlich zu sein. Sind Sie sicher?«
Jessen nickte. »Das ist korrekt«, sagte er tatsächlich etwas lauter.
Obwohl alles aufgezeichnet wurde, machte Talvi sich Gedächtnisnotizen, die sie hinterher rasch niederschreiben würde. Dann waren sie schneller, als wenn sie auf die offiziellen Abschriften warten mussten.
Er weiß also, dass wir die Schädel nach dem Fest gefunden haben. Die Anzahl kann er aus den Medien haben, den genauen Zeitpunkt nicht. Und er weiß, dass wir bisher nur die Schädel haben, keine Körper. Aber woher? War er es wirklich, oder haben wir eine undichte Stelle?
Talvi beugte sich wieder etwas vor, gleichzeitig lehnte sich Horn etwas zurück. Ein gutes Team, dachte sie. Zumindest jetzt. Vor laufenden Kameras. »Warum haben Sie das getan?«
Jessen hob den Kopf etwas höher und sah zu Horn. »Muss sie dabei sein? Sie ist hässlich. Sie macht mir Angst.« Sein Grinsen sagte etwas anderes.
Horn sprang auf, und seine flache Hand donnerte auf den Tisch, noch bevor sein Stuhl hinter ihm auf den Boden kippte. »Stopp!«, rief er. »Was bilden Sie sich ein?«
Jessen zuckte zurück. Talvi hatte sich nicht erschreckt und nahm Horn die Entrüstung nicht ab. Sie verschränkte jetzt ebenfalls die Finger, um sich davon abzuhalten, ihr Gesicht in den Händen zu vergraben.
Über den Lautsprecher kam eine Stimme. Im Hinterkopf erkannte sie Schumann. »Wir unterbrechen.«
»Nein!«, sagte sie und war zu laut und zu schrill. »Wir machen weiter.« Ihre Finger waren kalt.
Hat dieser Jessen unsere Aufteilung guter Bulle, böser Bulle durchschaut und mich als den guten Bullen provoziert, um uns aus dem Takt zu bringen?
Talvi spannte ihre Bauchmuskeln an, sie wollte ihre Energie in der Körpermitte bündeln. »Denken Sie daran, warum Sie hier sind, Herr Jessen. Beleidigungen helfen Ihnen nicht weiter.«
Horn stand auf, um seinen Stuhl wieder aufzurichten. »Wo sind die Körper?«, fragte er Jessen von oben herab und mit harter Stimme.
Jessen stutzte einen Augenblick. »Habe ich verschwinden lassen. Ihr werdet sie niemals finden.«
Das konnten sie nicht widerlegen, bis sie die Körper tatsächlich hatten. Wenigstens einen der Körper. Wir haben nichts, er hat alles.
»Reine Schutzbehauptung«, sagte Horn. »Die liegen bestimmt in Ihrer Garage.«
Jessen stutzte wieder. »Ich habe keine Garage.«
Hinter ihm wurde die Tür geöffnet, CK kam leise herein, gab Talvi ein einzelnes A4-Blatt und ging wieder hinaus. Dabei sah sie Jessen aufmerksam an, hielt aber maximalen Abstand zu ihm.
Talvi hielt das Blatt so, dass Horn mitlesen konnte, Jessen aber nicht. Sie erkannte CKs klare Handschrift vom Flipchart.
»Friedrich Jessen, nennt sich gerne Freddy. Künstler (?), Metallskulpturen (Eisensäge??). Abitur, Studium nicht beendet (?). Soziale Medien unauffällig, keine Ankündigungen, keine Verschwörungstheorien. Wohnung gemietet, Kellerraum, keine Garage. Kein Waffenschein, kein Jagdschein. Nicht im Telefonbuch. Im Internet Mitglied eines Geocaching-Clubs. Führerschein B, keine Punkte.«
Ihr fiel ein Aufkleber ein, den sie irgendwann auf einer Heckklappe gesehen hatte. »Leg dich nie mit einem Geocacher an, er kennt Verstecke, da wirst du nie gefunden.« Die Informationen auf dem Zettel waren nicht vielversprechend.
Horn nickte trotzdem. »Das bricht ihm das Genick«, sagte er vernehmlich und lehnte sich wie entspannt zurück.
»Warum haben Sie drei Menschen umgebracht?«, fragte Talvi.
Jessen verschränkte die Arme vor der Brust und blickte zu Horn. »Vier, Herr Kommissar. Ihre Liste ist zu kurz.«
»Helfen Sie uns«, sagte Talvi rasch und freundlich. »Wer fehlt?«
»Karla Reutsch.«
Zwei Sekunden stand der Name im Raum.
»Wir unterbrechen.« Horn stand auf und berührte Talvi an der Schulter, um sie zum Hinausgehen aufzufordern. Er war so schnell an der Tür, dass ihr nicht anderes übrig blieb, als ihm zu folgen.
Sie verließen beide den Raum, daher musste ein anderer Beamter hinein. Der Verdächtige sollte nicht allein gelassen werden. Der Beamte schloss die Tür von innen.
»Scheiße!«, sagte Horn. »Scheiße, Scheiße.«
»Wer ist Karla Reutsch?«, fragte Talvi.
»Nicht hier«, sagte er, lief weiter und winkte sie mit sich. Nach ein paar Schritten stand sie neben ihm bei Schumann und Pfahls im Technikraum.
»Die Lautsprecher sind aus«, sagte Pfahls bei ihrem Eintreten. Sie konnten also frei reden.
»Wer ist Karla Reutsch?«, fragte Schumann.
»Eine Vermisstensache. Seit etwa einem halben Jahr. Alleinstehend, Mitte vierzig, mutmaßlich irgendwo zwischen Wohnung und Arbeitsplatz verschwunden. Niemand hat sie seitdem gesehen. Nachbarn haben die Vermisstenanzeige gestellt, weil die Katze der Reutsch fast verhungert wäre und geschrien hat. Nur so ist es aufgefallen.«
»Sechs Monate«, sagte Talvi. »Da ist die Chance, sie noch zu finden, gleich null.«
»Eine lange Zeit. Niemand schaut noch auf die Suchbilder, die wir aufgehängt haben. Ein einsamer Fall. Und ein komischer Fall«, fuhr Pfahls fort. »Eigentlich nicht unser Fall, weil es ja keine Leiche und damit auch keine Mordermittlungen gibt. Aber bei den Kollegen sind immer wieder Habseligkeiten aufgetaucht, die mit großer Wahrscheinlichkeit Karla Reutsch gehört haben. Handtasche, Handy, ein Schlüsselbund, ihre Zutrittskarte für den Fitnessclub. Alle Funde erfolgten im Abstand von ein paar Wochen, wenn sich die Hoffnung, sie zu finden, gerade wieder gelegt hatte. Und jedes Mal ohne Fingerspuren, ohne DNA, ohne alles. Chemisch rein.«
»Wo wurden die Sachen gefunden?«
»Immer entlang ihres Weges zwischen Wohnung und Arbeitsplatz.«
»Und jetzt reklamiert dieser Jessen Karla Reutsch als sein viertes Opfer.« Schumann blickte in die Runde.
»Wir können es nicht widerlegen, und er kann es nicht beweisen.« Talvi war skeptisch.
»Wir können es nicht beweisen, und er kann es nicht widerlegen«, konterte Horn.
»Wir haben gar nichts«, sagte Pfahls. »Nur seine Aussage.« Er blickte durch den Einwegspiegel auf Jessen, der im Verhörraum reglos am Tisch saß.
»So leid es mir tut«, Schumann wandte sich an Horn, »mit der Unterbrechung haben wir einen Fehler gemacht.«
Talvi nickte. »Mist. Damit haben wir signalisiert, dass wir an dieser Information Interesse haben, dass sie uns etwas wert ist. Wir haben uns führen lassen, statt ihn zu führen.«
»Shit happens«, sagte Schumann. Seine Stimme sagte, dass ihm das nicht passiert wäre.
»Also haben wir ein viertes Opfer? Und wenn ja, steht Jessen damit in Verbindung?« Talvi sah auf die Uhr. »Je länger die Unterbrechung dauert, desto größer wird seine Genugtuung.«
Eine Weile schwiegen alle. Schumann sprach als Erster. »Das wären dann zwei Männer und zwei Frauen, vielleicht ein neuer Ansatz, vielleicht tötet er in Paaren, die er sich zusammenstellt. Aber für heute ist das ohne Belang. Die Überprüfung einer möglichen Verbindung zwischen Jessen und Karla Reutsch wird viel Zeit verschlingen. Vier Selbstanschuldigungen wegen Mordes reichen auf jeden Fall, um ihn länger hierzubehalten. Frau Kressin kümmert sich bereits um den Haftbefehl, dann bleibt er die nächsten Tage in U-Haft.«
»Okay. Wir machen weiter«, sagte Talvi. »Ich habe eine Idee.« Sie machte eine Kopfbewegung zu Horn, dann gingen sie wieder in den Verhörraum und lösten den Beamten ab, der mit den Händen hinter dem Rücken schräg gegenüber von Jessen gestanden hatte. Sie hatten ihn die ganze Zeit durch den Spiegel und auf den Monitoren sehen können.
»Haben Sie den Schreck verdaut?«, fragte Jessen lächelnd, nachdem sie ihm wieder gegenübersaßen.
»Wir lassen Ihre Behauptung prüfen. Wir haben einen Praktikanten, der wird sich darum kümmern.« Horn sah ihn nicht an.
Talvi begann. »Was ist mit dem fünften Opfer? Samirah Wagner.«
Jessens Verblüffung war echt. »Kenne ich nicht.« Er zuckte mit den Schultern. »Sagt mir nichts. Ihr solltet nicht versuchen, mir jetzt alles unterzuschieben. Jeden eurer Misserfolge aus den letzten Jahren. Seid doch froh, dass ich euch entgegenkomme und mich gemeldet habe.«
»Bullshit.« Horn ließ seine Hand auf die Tischplatte fallen. Das war laut, aber nicht so laut wie nach Jessens Attacke auf Talvi Caster.
»Sie haben unsere Frage nicht beantwortet, Herr Jessen.« Talvi sah ihn interessiert an.
»Ich kenne diese Wagner nicht, habe ich doch gesagt.«
»Ich meine die Frage nach dem Motiv, aus dem Sie drei oder, wie Sie sagen, vier Menschen umgebracht haben.«
Jessen hob theatralisch die Schultern und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen.
Er will sicher sein, dass die Kamera ihn erfasst. Er will sicher sein, dass der nächste Satz sitzt und makellos aufgezeichnet wird.
»Braucht man wirklich ein Motiv, um jemanden zu töten? Die vier waren einfach zur falschen Zeit am falschen Platz. Sie waren mir zuwider. Ich habe sie gesehen und wusste, die müssen weg.« Er lehnte sich zurück.
Wieder ging hinter ihm leise die Tür auf, CK brachte Talvi zwei weitere Blätter. Sie sah den Haftbefehl schon aus der Entfernung, die Überschrift und das Landeswappen waren unverkennbar. Sie prüfte ihn rasch, die Unterschrift war am richtigen Platz, sie hatte ein Original und eine Kopie. Die aufgeführten Paragrafen des StGB waren auch okay, sie hätte die gleichen eingetragen. Keine Formfehler riskieren.
»Herr Jessen, ich habe hier einen Haftbefehl gegen Sie. Sie kommen bis auf Weiteres in Untersuchungshaft. Das ist Ihre Kopie. Oder sollen wir die Kopie einem Anwalt zukommen lassen? Sollen wir Ihnen einen Pflichtverteidiger besorgen?«
»Nein. Ich bin doch freiwillig hier, das sagte ich schon.« Er drehte sich zu Horn. »Sie und die Puppe aus der Geisterbahn sind schwer von Begriff.«
Dieses Mal hielt Talvi ihren Kollegen am Arm fest, bevor Horn wieder aufspringen konnte. Sie schaffte es, ruhig zu bleiben.
»Das ist sinnlos, Herr Jessen. Mit wiederholter Beamtenbeleidigung machen Sie Ihre Situation nicht besser.«
»Kann sie denn noch schlechter werden?«