»Ach, du bist es, Niklas!«
Bei dem süffisanten Ton seines Vaters bereute Niklas seinen Entschluss, ihn in seinem Haus zu besuchen, sogleich. Aber er wollte etwas von ihm. Da waren seine Gefühle ihm gegenüber zweitrangig. »Hast du eine halbe Stunde Zeit für mich?«
Sein Vater musterte ihn von oben bis unten. »Meinetwegen. Scheint dir ja wichtig zu sein. Ist es dir auf der Terrasse angenehm?«
»Wo du willst«, stieß Niklas zwischen zusammengepressten Kiefern hervor. Sein Vater schlenderte ihm barfuß und mit Bermudashorts und einem hellrosa Polohemd bekleidet voraus durch die weitläufige Diele und das Wohnzimmer im Landhausstil bis auf die Terrasse. Eine aufgeschlagene Zeitung – Der Tag – lag auf dem Tisch. Daneben standen ein Glas Rotwein und die dazugehörige, halb leere Flasche. Wie damals … Es war erst später Nachmittag. Änderte sein Vater gerade seine Trinkgewohnheiten?
»Setz dich, Niklas. Willst du auch ein Glas Wein? Ich habe hier einen hervorragenden Barolo.«
»Ein Wasser wäre nicht schlecht.«
Milde lächelnd holte Alexander John ihm das Gewünschte. Niklas wusste nicht, was daran amüsant sein sollte. Als er versorgt war, lehnte sich sein Vater in seinem Terrassenstuhl zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Für seine fünfundsiebzig Jahre zeichneten sich noch sehr ordentliche Muskeln unter der Haut der gebräunten Arme ab. »Also, was treibt dich hierher? Der Wunsch nach meiner Gesellschaft wird es doch wohl kaum sein. Brauchst du mein Flugzeug? Brauchst du Geld?«
»Es ist unser gemeinsames Flugzeug. Aber nein, ich brauche nichts dergleichen von dir. Ich schreibe über die Morde auf dem Bauernhof in Wulkenbüll.«
»Ich habe davon gelesen. Eine üble Geschichte.«
»Anna Strode, mit der ich mal befreundet war, ist darin verwickelt. Erinnerst du dich an sie?«
Alexander Johns Gesicht verzog sich ungläubig. »Unsere kleine Anni … aus Lettland?«
»Sie war nicht ›unsere‹ Anni. Aber ja, wir meinen wohl dieselbe Frau.«
Sein Vater schüttelte in gespielter Bekümmerung den Kopf. »Sie kam mir gleich vor wie eine Frau, die die Männer verrückt machen kann. Im guten wie im schlechten Sinne. Tja …« Er trank sein Glas leer.
»Was soll das heißen: ›tja‹? Denkst du, Anna hat etwas mit den Morden zu tun?«
»Wenn du das nicht befürchten würdest, Niklas, dann wärst du doch nicht hier.«
Ein Punkt für seinen Vater. »Anna sitzt in Untersuchungshaft. Staatsanwaltschaft und Polizei scheinen sich demnach recht sicher zu sein, dass sie ihre Täterin oder Mittäterin schon haben. Ich fürchte, dass die deswegen nicht mehr genügend in andere Richtungen ermitteln.«
»Das ist bedauerlich. Aber was habe ich damit zu schaffen?«
Niklas ballte unter dem Tisch eine Hand zur Faust. »Kurz bevor ich ausgezogen bin, nachdem Anni mit mir Schluss gemacht hatte, habe ich sie spät abends einmal hier auf der Terrasse gesehen, mit dir und einer Freundin.«
»Wenn das stimmt, ist es aber schon lange her. Du kannst von einem Mann meines Alters nicht erwarten, dass er sich an solche Belanglosigkeiten erinnert.«
»Das nennst du eine ›Belanglosigkeit‹, wenn du ein paar Tage, nachdem dein Sohn sich von seiner Freundin getrennt hat, ebendiese Frau abends zu dir auf ein Glas Wein einlädst?«
Alexander John zog eine Augenbraue hoch. »Ja. Es war vollkommen harmlos. Was dein hormongetriebener Verstand daraus gemacht hat, ist dein Problem, Niklas.«
Er hätte nicht herkommen sollen. An seinem Vater perlten jeder noch so berechtigte Vorwurf und jede Emotion ab wie von Teflon. Es war ihm kein Stück unangenehm. Im Gegenteil, es amüsierte ihn. Niklas atmete tief durch und lockerte ganz bewusst die Hand. »Weißt du, was Anna getan hat, was ihr passiert ist, nachdem ich fort war?«
»Das hast du mir doch gerade erklärt. Sie hat anscheinend mit ihrer Freundin bei älteren, wohlsituierten Männern Wein getrunken.«
»Sie hat bald darauf geheiratet. Kennst du den Mann?«
»Dem Wunsch ihrer Freundin gemäß, habe ich sie zu ein paar Veranstaltungen mitgenommen. Nur, damit Anna einige neue Leute trifft und auf andere Gedanken kommt.«
»Solltest du sie verkuppeln?«
Er lachte auf. »So weit, es ›verkuppeln‹ zu nennen, würde ich nicht gehen. Aber diese Frauen waren ja alle darauf erpicht, hier eine gute Partie zu machen. Doch Anni …«
»Was war mit ihr?«
»Sie mochte dich wirklich, Niklas.« Sein Blick sagte, dass er das kaum fassen konnte. »Und sie hat unter eurer Trennung gelitten. Sie wollte zu der Zeit von anderen Männern nichts wissen. Ihre Freundin hat versucht, auf sie einzuwirken, damit sie sich zusammenreißt und vielleicht noch jemanden kennenlernt. Alles nur, damit sie nicht zurück in das kleine Kaff in der Pampa muss, aus dem sie beide kamen.«
»Aber dafür benötigte Anna doch keinen Mann.«
»Nein. Aber es hilft, oder?«
»Und? Hat sie sich daraufhin ›zusammengerissen‹?«
Sein Vater hob die Schultern. »Das kann ich dir wirklich nicht sagen.« Sein Mundwinkel zuckte. »Meine Bemühungen haben sie jedenfalls nicht interessiert.«
»Deine … was? Sie war die Freundin deines Sohnes!«
»Nein, zu dem Zeitpunkt nicht mehr. Mein Gott, ich war freundlich und hilfsbereit, mehr nicht.«
Niklas starrte seinen Vater an. »Wo hast du sie mit hingenommen? Wen hat sie getroffen? In was für Kreise ist sie da hineingeraten?«
»Hör mal, du glaubst doch nicht, dass irgendein Kontakt, den ich ihr vermittelt habe, zu den Schwierigkeiten geführt hat, in denen die Frau jetzt steckt?«
»Warum nicht? Ich finde es gar nicht so unwahrscheinlich. Du kennst die seltsamsten Leute.«
»Aber Verbrecher und Mörder sind nicht darunter.«
»Bist du dir sicher?«
Sein Vater schaute plötzlich wieder amüsiert. »Wer kann das schon sein? Was führt dich wirklich her, Sohn? Doch nicht ein Flirt, der x Jahre zurückliegt.«
»Ich möchte wissen, mit wem Anna in den Jahren nach unserer Trennung zu tun hatte.«
»Und du glaubst, dass du ihr damit helfen kannst?«
»Ich werde es zumindest versuchen.«
»Und was genau erwartest du von mir?«
»Die Namen und Adressen der Leute, mit denen du Anna in Kontakt gebracht hast. Direkt und vielleicht auch indirekt.«
»Du kannst doch nicht ernsthaft annehmen, dass ich mich nach der langen Zeit daran erinnere.«
»Streng dich an. Du kannst es zumindest versuchen.«
Sein Vater bedachte ihn mit einem zweifelnden Blick. Dann sagte er: »Da du eh keine Ruhe geben wirst, bis du bekommen hast, was du willst, Niklas … Ich werde in mich gehen und dir dann eine Mail schicken. Aber versprich dir nicht zu viel davon. Und geh bitte keinem meiner Freunde mit dieser Geschichte auf die Nerven – wenn dir das möglich sein sollte.«
»Ich brauche die Namen schnellstmöglich.«
»Du bekommst die Mail morgen früh.«
Niklas nickte. Sein Vater mochte zynisch und gefühlskalt sein, doch auf seine Zusagen war Verlass. »Danke, Vater.« Er erhob sich. »Ich finde allein hinaus.«
Sein Vater hob die Weinflasche und schenkte sich mit Bedacht sein Glas wieder voll. »Ach ja, Niklas …«
»Was ist?«
»Nichts.« Alexander John hielt das Weinglas in seiner rechten Hand. Mit der linken machte er eine Bewegung, als wollte er eine Fliege verscheuchen.
Niklas stieg wenig später in sein Auto und rollte zum Tor hinaus. Es glitt geräuschlos hinter ihm zu. Erleichtert, dem Haus seines Vaters und dessen Gesellschaft entkommen zu sein, fuhr er mit offenem Verdeck in Richtung Wyk. Hoffentlich pustete ihm der Fahrtwind die schalen Erinnerungen aus dem Kopf! Es roch nach frisch gemähtem Gras und Wattenmeer. Das löste gemischte Gefühle in ihm aus. Eine flüchtige Erinnerung an Sommerferien, Surfen und endlos scheinende Sommer am Strand. Doch es waren auch die Gerüche einer verkorksten Kindheit.
Das gestrige Gespräch mit Diana ging Fentje nicht aus dem Kopf. Lucy sollte den Verdacht geäußert haben, dass das Kind, das Hennings Braut Anna erwartete, nicht von ihrem Sohn sei? Wie kam Lucy auf diese Idee, und warum hatte sie diese Sorge der sterbenden Hebamme anvertraut und nicht innerhalb der Familie besprochen, wie es naheliegend gewesen wäre?
Sofia steckte den Kopf zur Tür hinein. »Kommst du mit mir baden, Fentje?«
»Wo? In der Tränkekuhle auf der Weide?« Als Kind hatte Fentje mit großem Vergnügen darin geplanscht – und tat es auch heute manchmal noch. Sofia hingegen konnte sich schon lange nicht mehr für diese Art der Abkühlung begeistern.
»Nee, in der Nordsee natürlich.«
Fentje sah auf die Uhr. Es war halb elf. »Bist du aus dem Bett gefallen, Sofia?«
»Da oben ist es ab neun zu warm zum Schlafen. Und nun will ich baden gehen und hab keine Lust, mit dem Fahrrad zu fahren.«
Das war wenigstens ehrlich. »Und was ist mit deinem Vater?«, fragte Fentje.
»Ach, der liegt noch im Bett. Der ist heute Morgen erst um fünf nach Hause gekommen.«
Bendix hatte den Freitagabend also genutzt, um sich zu amüsieren. Immer, wenn ihr Bruder ein paar Tage länger da war, spürte Fentje, dass ihrem Leben etwas fehlte. Leichtigkeit und Vergnügen, um nur das zu nennen, was ihr spontan in den Sinn kam. Doch sie war froh, dass Bendix gerade einen Teil seines Urlaubs auf dem Jacobsen-Hof mit seiner Tochter verbrachte. In den Sommerferien wollte er noch mit Sofia für eine Woche nach Griechenland fliegen, und das bei den Temperaturen, die dort im Hochsommer herrschten. Aber Sofia freute sich riesig darauf, und das war die Hauptsache.
Dass T-Shirt klebte Fentje schon jetzt verschwitzt unter den Armen. Sie stellte sich vor, wie sie in die Nordsee eintauchte. »Also gut«, sagte sie. »Noch ein Telefonat und wir fahren los.«
»Super, Tantchen. Ich pack dir auch einen Bikini ein. Oder willst du nackt baden?«
»Nenn mich nicht ›Tantchen‹!«
»Alles klar.« Sofia grinste und verließ das Büro.
Also noch der eine Telefonanruf und dann ab ins Meer. Fentje rekapitulierte, was sie von Hennings Bruder wissen wollte. Und über ihn …
Sie wählte Jorne Fehnsens Festnetznummer in seiner Hamburger Wohnung. Eine Mobilnummer von ihm besaß sie nicht, und sie hatte vergessen, Henning danach zu fragen.
»Ja?«, rief eine weibliche, gestresst klingende Stimme.
»Hier ist Fentje Jacobsen. Mit wem spreche ich?«
»Mit Gina Fehnsen.«
Seine Frau also. »Ich vertrete Henning als Anwältin. Wir haben uns auf der Hochzeit und auch auf der Trauerfeier gesehen.«
»Ach, je. Eine schlimme Sache. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich möchte mit Jorne sprechen.« Jorne Fehnsen und sie hatten sich immer geduzt. Fentje wusste nicht, warum sich daran etwas geändert haben sollte.
»Er ist nicht da.«
»Wie kann ich ihn denn erreichen?« Fentje bemühte sich um einen verbindlichen Tonfall. »Es geht um Hennings Interessen.«
»Das ist aber schwierig«, antwortete Jornes Frau. Im Hintergrund röhrte ein Staubsauger. »Er hat wahnsinnig viel zu tun.«
»Geben Sie mir einfach seine Handynummer. Ich versuche es dann selbst.«
»Das … will er nicht.«
Fentje krauste die Stirn. »Ich bin doch nicht irgendwer. Ich bin Anwältin und versuche, seinem Bruder zu helfen. Es handelt sich hier um eine Notlage. Seine und Hennings Eltern sind getötet worden.«
»Ermordet. Glauben Sie, ich wüsste das nicht?«, zischte die Frau. »Was denken Sie, was wir gerade durchmachen?«
»Das glaube ich Ihnen aufs Wort. Und es tut mir aufrichtig leid. Würden Sie Jorne dann ausrichten, dass er mich dringend zurückrufen soll?«
Gina seufzte vernehmlich. »Nein, den Glastisch nicht mit dem Lappen!«, rief sie jemandem im Hintergrund zu. »Also gut«, kam es dann. »Ich habe jetzt was zu schreiben. Wo kann mein Mann Sie erreichen?«
Fentje diktierte ihr ihre Mobilnummer. Sie würde das Handy dann mit an den Strand nehmen müssen. Sie hoffte, dass Jorne sie heute noch zurückrief.
»Ich geb’ s weiter«, kam es von Gina Fehnsen. »Und vergessen Sie nicht wieder den Spiegel über dem Sideboard!«
Der zweite Teil ihrer Ansage galt offensichtlich nicht Fentje. »Danke. Es wäre gut, wenn Jorne sich so schnell wie möglich bei mir meldet.«
»Ich verstehe.«
»Vielen Dank! Wie gut kennen Sie Anna eigentlich?«
»Hennings Frau? Nicht sehr gut.«
»Und was für einen Eindruck haben Sie von ihr?«
»Also … Eigentlich fand ich sie ganz nett«, antwortete Gina Fehnsen vage.
»Und Jorne?«, fragte Fentje.
»Er meinte, sie sei nur hinter Hennings Geld her!«, platzte es aus Gina Fehnsen heraus. »Aber das habe ich nie gesagt«, setzte sie hinzu.
»Von mir erfährt er nichts«, versicherte Fentje ihr. Sie zog konzentriert die Augenbrauen zusammen und legte den Köder aus: »Anna scheint mit Henning ja wirklich eine recht gute Partie gemacht zu haben …«
»Wenn man auf einem Bauernhof leben und Kühe melken will.«
»Glauben Sie, Anna wollte das gar nicht?«
»Darüber weiß ich nichts. Sie kommt doch vom Land. Sie wirkte recht zufrieden.«
»Hat sie sich gut mit Lucy und Gustav verstanden?«
Gina Fehnsen lachte auf. »Was glauben Sie denn? Als Schwiegertochter hat man es bei denen echt nicht leicht. Da kann ich Ihnen ein Lied von singen! Aber die beiden haben sich nach außen hin natürlich nichts anmerken lassen. Der tolle Henning macht ja nie einen Fehler. Die Hochzeit, die Tischreden, das war alles eine einzige Farce.«
»Wieso das?«
»Lucy und Gustav mochten Anna nicht. Oder sie hatten aus anderen Gründen Vorbehalte gegen die Eheschließung. Ich könnte mir vorstellen, dass es daran lag, dass Anna schon einmal verheiratet war. Jedenfalls wollten sie Anna nicht als Schwiegertochter haben.«
»Und wie war das bei Ihnen und Jorne?«, hakte Fentje nach.
»Da haben die sich nicht mal die Mühe gemacht, Begeisterung zu heucheln.«
»Glauben Sie, dass Anna etwas mit den Morden zu tun haben könnte?«
Fentje hörte wieder eine Art Zischen. »Die Polizei wird schon wissen, was sie tut. Ich muss auflegen.«