»Hör auf, mich dauernd anzustupsen! Schlaf weiter, Blo …fi…«, murmelte Niklas schlaftrunken. Er tastete mit geschlossenen Augen auf seinem Kopfkissen herum, um den Kater wegzuscheuchen. Das waren ja ganz neue Manieren!
Niklas’ Augenlider schienen auf seinen Augäpfeln festzukleben. Er fühlte weiches Fell unter den Fingern, einen kleinen Kopf. Ein empörtes Maunzen ertönte. »Lass mich schlafen, Blofeld. Es ist mitten in der Nacht!«, beschwerte er sich, schon etwas wacher.
Doch sein Kater gab keine Ruhe. Da hörte er ein seltsames Geräusch, das wie ein entferntes Fauchen klang. Weiter entfernt zwar, aber es war da. Außerhalb des Schlafzimmers fiel etwas mit einem dumpfen Ton zu Boden. Blofeld mal wieder … Doch wie konnte das sein, wenn der Kater sich hier drinnen befand und ihn fortwährend nervte? Und die Schlafzimmertür hatte er doch gestern Abend geschlossen, wie jeden Abend. Er hasste offen stehende Türen.
Wiederum wurde Niklas angestupst, diesmal nachdrücklicher. Und er registrierte einen ungewohnten Geruch. Träumte er doch noch?
Du musst die Augen aufmachen! Er schaffte es mit einiger Kraftanstrengung zu blinzeln, doch um ihn herum war alles schwarz. So dunkel war sein Schlafzimmer sonst nicht, oder? Und der Geruch wurde immer aufdringlicher. Unangenehm beißend.
Niklas stemmte sich hoch auf die Unterarme. Da war es immer noch, das Zischen und Fauchen … Nicht laut, aber auch nicht zu ignorieren.
Blofeld sprang auf seinen Bauch. Sein Maunzen klang mittlerweile mehr wie das Weinen eines Babys. Das brachte Niklas endgültig zu Bewusstsein. Der Kater sprang aus dem Bett. Er hörte, dass das Tier an etwas kratzte. Der Tür? Niklas tastete nach dem Lichtschalter der Nachttischlampe und betätigte ihn. Nichts. Das war gar nicht gut. Und mit dieser Erkenntnis wurde er hellwach. War das Brandgeruch? Und war die Schwärze, die ihn umgab, Rauch?
Er schwang die Beine aus dem Bett und stürzte zur Tür, fasste an das Türblatt. Es war warm. Ein Brand im Flur, vielleicht in seiner ganzen Wohnung!
Wenn er die Tür jetzt öffnete, könnte der Sauerstoff aus dem Schlafzimmer das Feuer weiter anfachen. Doch was sollte er tun? Die verrauchte Luft kratzte in seinem Hals und ließ seine Augen tränen. Er hustete. Das war definitiv Rauch! Niklas hatte schon oft genug darüber geschrieben: Brandrauch enthielt lebensgefährliche Substanzen. Bereits nach zwei bis drei Atemzügen könnte er das Bewusstsein verlieren.
Wenn seine Wohnung in Flammen stand, vielleicht schon das ganze Haus, musste er so schnell wie möglich hier raus.
Der Weg über den Flur und durch die Wohnung war ihm versperrt. Treppenhaus und Fahrstühle konnte er vergessen. Doch das Schlafzimmer hatte auf der einen Seite ein schmales Fenster zur Dachterrasse. Sein Penthouse lag zwar vierzehn Meter über dem Erdboden, doch immer noch besser, dort draußen zu sein, als hier in der Wohnung zu ersticken oder zu verbrennen.
Niklas war in wenigen Schritten am Fenster und öffnete den Fensterflügel. Instinktiv griff er im Vorbeilaufen noch nach dem Handy auf dem Nachttisch. Die restlichen Dinge, die er gerne mitnehmen wollte, waren außerhalb seiner Reichweite in den anderen Räumen der Wohnung. Keine Zeit, darüber weiter nachzudenken!
Niklas rief nach Blofeld und schwang ein Bein hinaus, zwängte sich durch die Öffnung, zog das andere Bein nach. Draußen umfing ihn die kühle Nachtluft. Er atmete tief durch. Die Erleichterung währte nur den Bruchteil einer Sekunde. Verdammt, wo blieb Blofeld?
Er drehte sich um und steckte den Kopf ins Zimmer, doch er konnte nichts erkennen. Er rief erneut nach dem Kater. Nichts. Hatte sich das Tier in Panik unter dem Bett verkrochen?
Niklas legte das Handy auf den Terrassentisch und stieg zurück ins Zimmer. Seine Augen tränten sofort wieder. Er hielt die Luft an. Wo war Blofeld, verdammt?
Er beugte sich hinunter, tastete unter das Bett und unter den Sessel. So nah am Boden war die Luft etwas besser, doch er entdeckte keinen Kater. »Blofeld!« Niklas hustete und griff nach einem T-Shirt, von dem er wusste, dass es auf der Sessellehne liegen musste. Er hielt es sich vor Mund und Nase und lief in Richtung der Tür. Da strich etwas an seinem Bein entlang. Er beugte sich blitzschnell hinunter und bekam ein zuckendes Fellbündel zu fassen. Blofeld maunzte herzerweichend.
»Ganz ruhig, Kleiner!« Niklas drückte den heftig zappelnden Kater an seine Brust. Er stieg mit dem Tier, das er dicht an sich presste, erneut aus dem Fenster. Draußen angekommen, wagte er nicht, Blofeld abzusetzen. Der Kater sollte nicht etwa zurück in die Wohnung springen. Das sagte man doch Pferden nach: dass die in Panik zurück in den brennenden Stall liefen. »Wir haben es geschafft, Kleiner«, flüsterte er dem Kater beruhigend ins Ohr. Dann griff er mit der freien Hand zu seinem Telefon auf dem Tisch und schaffte es mit Blofeld auf dem Arm, die Feuerwehr zu alarmieren.
Niklas hatte das zweifelhafte Vergnügen, sich, nur mit T-Shirt und Boxershorts bekleidet und mit einem weißen Fellbündel von Kater auf dem Arm, in einem Rettungskorb nach unten transportieren zu lassen.
Heldenhafter wäre ein Sprung in ein Sprungtuch, ein Abstieg am Seil oder wenigstens an einer Leiter gewesen. Doch das alles hätte nicht mit seinem Kater Blofeld funktioniert.
Als Niklas unten auf der Strandpromenade stand, loderten schon Flammen aus seiner Wohnung. Verdammt! Das gesamte obere Stockwerk des Apartmenthauses brannte. Die Bewohner und Mieter der Ferienwohnungen schienen allesamt rechtzeitig herausgekommen zu sein. Während Niklas auf die Feuerwehr gewartet hatte, hatte er die Nachbarn im Haus, deren Nummern in seinem Handy gespeichert waren, angerufen, um sie zu warnen. Ein Paar Ende vierzig, das in der zweiten Penthousewohnung wohnte, war ebenfalls gerettet worden und stand ein Stück abseits, die Gesichter fassungslos nach oben gerichtet. Eine weitere Ferienwohnung im obersten Stockwerk sei zum Glück gerade nicht vermietet gewesen, hörte er einen Feuerwehrmann sagen.
Dass die Flammen dort oben gerade seine sämtlichen Besitztümer und Erinnerungsstücke in ein Häufchen Asche verwandelten, war die eine Sache. Darüber wollte Niklas später nachdenken. Die Hauptsache war erst einmal, dass niemand ernsthaft zu Schaden gekommen war.
Ein Rettungssanitäter sagte ihm, dass er wegen einer möglichen Rauchvergiftung zur Untersuchung ins Krankenhaus gefahren werden sollte. Da wurde sich Niklas der verzweifelten Lage, in der er sich befand, erst so richtig bewusst. Er hatte kein Zuhause mehr. Er besaß nichts mehr als einen Kater, ein Paar Boxershorts und ein nach Rauch stinkendes T-Shirt. Nicht einmal sein Handy hatte die Rettungsaktion überlebt. Es war etwa zehn Meter unter ihm auf dem Straßenpflaster zerschellt.
Ein Feuerwehrmann brachte ihm einen Tiertransportkorb, in den sie den widerstrebenden Blofeld setzten.
»Danke. So kann ich ihn besser mitnehmen.«
»Das geht aber nicht. Wir bringen ihn so lange ins Tierheim.«
»Auf gar keinen Fall!«
»Okay. Wo sollen wir Ihre Katze dann lassen?«
»Blofeld kommt mit mir«, beharrte Niklas mit kratziger Stimme, die übergangslos in ein Husten überging. »In ein paar Stunden bin ich doch wieder draußen.«
»Das ist leider nicht möglich. Die Katze muss so lange anderswo untergebracht werden.«
Doch wo sollte er mitten in der Nacht mit Blofeld hin?
Fentje wollte die Haustür öffnen, doch etwas stoppte sie. Ein scharrendes Geräusch ertönte. Kunststoff über Stein. Sie blickte durch den Türspalt. Da stand eine hellblaue Transportbox. Sie hatte doch gar nichts bestellt …
Ein jämmerliches Maunzen erklang. Fentje gelang es, die Tür so weit zu öffnen, dass sie an den Korb herankam, ohne ihn von der Stufe herunterzustoßen. Sie hob den Korb hoch und blickte in die himmelblauen Augen einer Langfell-Katze. »Du kommst mir bekannt vor.«
»Mau!«
»Gehörst du nicht Niklas John?« Konnte es sein? Wie hieß der Kater noch gleich? Blofeld? Sie schaute die Warft hinunter auf die Zufahrt. Doch dort standen nur ihr Pick-up, Bendix’ Auto und der alte Mercedes ihrer Großeltern. Wie war der Transportkorb hierhergekommen? Wer hatte ihn gebracht? Und vor allem, wann? Gestern Abend gegen elf Uhr, nach ihrem letzten Gang über den Hof, hatte er definitiv noch nicht hier gestanden. Und jetzt war es morgens um sechs. Nicht gerade eine Zeit, die Fentje mit dem Journalisten in Einklang bringen konnte.
Fentje nahm den Korb mit in die Küche und stellte ihn auf den Tisch. Ein Blick auf ihr Handy sagte ihr, dass keine neuen Anrufe, keine Nachrichten eingegangen waren. Sie schüttelte verärgert den Kopf. Zu allen Problemen und Problemchen, die sie fortwährend zu bewältigen hatte, wollte sie nicht auch noch einen verwöhnten Schoßkater in ihre Obhut nehmen. Sie mochte Tiere gern, aber ihrer Meinung nach gehörten sie nach draußen und nicht ins Haus. »Entschuldige, Blofeld, das ist nichts gegen dich persönlich«, murmelte sie.
Der Kater hockte in der hintersten Ecke seines Kunststoffgefängnisses und sah verstört aus. Er saß auf dem blanken Boden. Nicht einmal ein Handtuch hatte man ihm untergelegt. Außerdem roch er nach … Lagerfeuer? Bestimmt hatte das Tier Hunger und Durst. Sie öffnete die Tür des Transportkorbs ein Stück, sprach leise auf Blofeld ein, um ihn zu beruhigen.
Der Kater schoss nach vorn, rammte die Tür auf und sprang heraus. Nach einer Millisekunde des Zögerns verschwand er unter der Küchenbank.
»Schon gut, schon gut, ich tue dir nichts«, sagte Fentje beschwichtigend. »Ich stelle dir etwas Futter und Wasser in die Küche und lasse dich erst mal in Ruhe, okay?« Und dann rufe ich dein Herrchen an, setzte sie in Gedanken hinzu. Nur weil dies ein Schafshof war, war sie ja kein Tierasyl!
Niklas John war nicht zu erreichen. Sie sprach ihm in leicht verärgertem Ton auf die Mailbox, zog sich alte Sachen an und ging dann in den Keller ihrer Großeltern, um sich um das Reh zu kümmern.
Einen Moment betrachtete sie das tote Tier, das von einem Haken von der Decke hing. Sie war damit aufgewachsen, dass ihr Großvater jagte, damit nicht fremde Leute auf ihrem Land »herumballerten«, wie er es nannte. Doch so richtig warmgeworden war sie damit nicht. Sie selbst hatte sich geweigert, einen Jagdschein zu machen. Ein Reh zerlegen konnte sie jedoch.
Es war höchste Zeit, das Fleisch in der Gefriertruhe zu deponieren. Wer weiß, wer es je zubereiten würde? Ihre Großmutter höchstwahrscheinlich nicht. Und Fentje konnte sie bei allen unterschiedlichen Ansichten, die sie hatten, und den seltsamen kleinen Veränderungen, die im Kopf ihrer Großmutter vor sich gingen, in diesem Punkt gut verstehen. »Grießschnitten mit Kirschkompott« … Aber hier und heute nützte es nichts.
Fentje band sich eine große Plastikschürze um. Sie stellte eine Wanne unter das tote Tier und ließ es vom Haken hineingleiten. Dabei seufzte sie tief. Dann griff sie zu den Werkzeugen.
Der Oberarzt und sein Gefolge kamen in ihren weißen Kitteln in das Krankenzimmer gerauscht wie eine Erscheinung der dritten Art.
Der braun gebrannte Arzt – seinem Gebaren nach der Chef- oder der Oberarzt – mit den kurz geschorenen weißen Haaren rümpfte die Nase. »Wie riecht es denn hier?«
»Nach Rauch. Der Patient wurde heute Nacht nach einem Brand in seiner Wohnung eingeliefert«, sagte ein junger Kollege an seiner rechten Seite beflissen.
»Wer ist das?«, blaffte der Chef, den Blick auf den Klemmblock in seiner Hand gerichtet.
»John, Niklas. Leichte Rauchvergiftung nach …«
»Ich bin auch noch da«, warf Niklas ein. Er richtete sich weiter auf. »Machen Sie sich nicht die Mühe. Wenn ich so weit in Ordnung bin, dann bin ich gleich wieder weg!« Er schwang die Beine aus dem Bett.
Der leitende Arzt richtete mit gerunzelter Stirn den Blick seiner blassblauen Augen auf ihn. »Das bestimme hier immer noch ich.«
»Und wer sind Sie?« »… Gott?«, war er versucht zu ergänzen. Wäre das Wissen, seine Wohnung verloren zu haben, nicht so unerträglich für Niklas, hätte ihn das Gebaren des Arztes beinahe amüsiert. Aber nur beinahe.
»Das ist Professor Grootmühl, Oberarzt der Station«, erklärte eine Ärztin leise, die links neben dem Arzt stand.
»Blutwerte, Lungentest, das volle Programm … Gute Besserung!« Grootmühl drehte sich auf dem Absatz um und verließ den Raum. Seine Begleiter hatten Mühe, mit seinem Tempo Schritt zu halten.
Das waren etwa neunzig Sekunden für einen Privatpatienten gewesen, konstatierte Niklas. Nicht, dass er annahm, dass Grootmühl – sein Name verleitete förmlich zu einer Verballhornung – sich mit Kassenpatienten überhaupt abgab. Aber die hätten dann wahrscheinlich nicht mal dreißig Sekunden mit dem selbstherrlichen »Großmaul«.
Niklas stand vorsichtig auf und ging in das angrenzende Badezimmer. Er duschte und fühlte sich danach einigermaßen fit. Sollte er auf die Untersuchungen verzichten und die Klinik auf eigenen Wunsch verlassen? Es gab so viel zu tun! Er hätte wohl auch nicht gezögert, wenn er gewusst hätte, was er anderes anziehen sollte als dieses fliederfarbene Krankenhaushemdchen. Und – dieser Gedanke schmerzte – wenn er gewusst hätte, wohin er gehen sollte.