Ihre einzige Chance war, erst den Graben entlangzukriechen und dann über das Feld zu entkommen. Sobald sie sich in Richtung der Straße bewegte, wäre sie sofort weithin sichtbar. Natürlich könnte sie Glück haben, dass in der Minute, in der sie zur Straße lief, ein Auto käme, dessen Fahrer sie auf sich aufmerksam machen könnte. Doch wie groß war diese Chance?
Wahrscheinlicher war, dass der verbliebene Mann sie vorher bemerkte und einholte. Wenn sie es ungesehen bis hinüber zum Maisfeld schaffte, konnte sie vielleicht entkommen. Doch der Mond trat immer wieder zwischen den Wolken hervor und erhellte die Landschaft mit seinem silbrigen Licht.
Fentje robbte auf dem Bauch liegend auf Ellenbogen durch den Graben. Ihre Ärmel und Hosenbeine wurden feucht; sie blieb immer wieder hängen und stieß sich an Steinen oder Ästen. Was in Filmen so wirkte, als wäre es einigermaßen leicht zu bewältigen, entpuppte sich als eine schmerzhafte und äußerst ineffektive Art der Fortbewegung. Doch wenn sie sich jetzt aufrichtete, wäre sie vom Pick-up aus gut zu sehen.
Als der Graben eine scharfe Biegung machte und in einem Rohr unter der Straße verschwand, musste sie sich entscheiden. Ihre beste Chance war, über die angrenzende Weide zu dem Maisfeld hinüberzurennen und darin zu verschwinden. Der Mais stand noch nicht sehr hoch, aber ein besseres Versteck war nicht in Sicht. Vielleicht hatte sie Glück, dass ihr Angreifer in diesem Moment nicht aus dem Autofenster schaute. Es war verrückt und ziemlich riskant, denn ihre Muskeln fühlten sich kalt und steif an, und der Weideboden war uneben. Doch ihr fiel einfach keine brauchbare Alternative ein.
Fentje zählte in Gedanken von fünf an rückwärts, kam taumelnd auf die Füße und rannte in Richtung des Maisfeldes. Zweimal stolperte sie und wäre um Haaresbreite gestürzt. Sie fing sich wieder, ignorierte den Schmerz in ihrem Knöchel und lief weiter. Trotz ihres hämmernden Herzschlags und des schnaufenden Atems hörte sie, dass der Mann die Wagentür öffnete. Er hatte sie gesehen!
Es war nicht mehr weit. Fentje hechtete in das Maisfeld. Es knackte und raschelte laut. Halme und scharfkantige Blätter schlugen ihr ins Gesicht. Sie kroch weiter vorwärts. Dabei verursachte sie eine weithin sichtbare Schneise im Feld. So würde ihr der Mann ohne Probleme folgen können.
Fentje riss sich zusammen, wechselte die Richtung und krabbelte vorsichtig weiter, ohne zu viele Maisstängel zu knicken oder umzulegen. Nach ein paar Metern hatte das Maisfeld sie verschluckt.
Die Nachbarskinder und sie hatten mal in so einem Feld Verstecken gespielt. Dabei hatte Fentje gelernt, wie man sich darin so unauffällig vorwärtsbewegte, dass von außen nicht einmal eine Bewegung der Maispflanzen zu sehen war. Schon als Kind hatte ihr Verstecken spielen stets Herzklopfen verursacht. Jetzt schlug ihr das Herz bis hoch in den Hals. Damals war es nur ein spannender Zeitvertreib gewesen – nun ging es um ihr Leben.
Niklas fuhr durch die Orte Tating und Garding die B202 hinunter. Hinter der Ortschaft Katharinenheerd suchte er nach Fentjes weißem Wagen. Na ja, was man so als »weiß« bezeichnete … Rechter Hand sah er in der Ferne den beleuchteten Kirchturm von Wulkenbüll, und links kam jetzt irgendwo ein Parkplatz. Wenn er noch weiterfuhr, war er gleich an der Abzweigung zur B5 . Er bog kurz entschlossen links ab und hielt auf dem Areal zum Parken an. Vielleicht hatte Fentje ihm noch eine Nachricht geschickt, und er hatte es nur nicht gehört. Der Parkplatz war jedenfalls leer.
Niklas zog sein Mobiltelefon hervor. Nein. Da war nichts. Er las noch einmal den Text, den er schon kannte. Beim erneuten Lesen kam er ihm seltsam vor. War der wirklich von Fentje? Die Nummer des Absenders stimmte. Aber wenn er jetzt darüber nachdachte, stiegen Zweifel in ihm hoch. Er versuchte, sie anzurufen, doch sie meldete sich nicht. Auf ihrem Festnetzanschluss war es das Gleiche. Das heißt nur, dass sie wohl nicht zu Hause ist, versuchte er, sich zu beruhigen. Doch wo steckte sie? Was sollte er nun tun?
Ein Streifenwagen kam in verhaltenem Tempo aus Richtung Tönning die Landstraße heruntergefahren. Zu Niklas’ Erstaunen bog das Auto ebenfalls auf den Parkplatz ein und hielt an. Das Blaulicht leuchtete einmal auf.
Zwei Polizisten in Uniform, ein älterer mit grauem Schnauzbart und ein glatt rasierter jüngerer, näherten sich von hinten seinem Peugeot. Der Ältere blieb vor dem Seitenfenster stehen. Sein Kollege verharrte ein paar Schritte entfernt, die rechte Hand locker in der Nähe seines Holsters.
Niklas ließ das Seitenfenster herunterfahren und legte dann beide Hände gut sichtbar auf das Lenkrad, nur damit es nicht zu Missverständnissen kam. Er kannte durch seine Arbeit für die Zeitung viele Polizeibeamte, auch hier auf der Halbinsel Eiderstedt, verstand sich mit einigen von ihnen sehr gut, doch diese beiden hatte er noch nie gesehen.
»Moin.« Der Polizist beugte sich ein Stück herunter und blickte ihn prüfend an. »Können wir Ihnen helfen?«
Das war eine merkwürdige Frage angesichts der Tatsache, dass er nur einen Augenblick auf einem offiziellen Parkplatz hielt. »Ich suche nach jemandem. Würden Sie sich bitte ausweisen?«
Der Beamte zeigte ihm kurz seine Marke. »Und wen suchen Sie auf diesem Parkplatz?«
»Eine Freundin, die eine Reifenpanne hatte. Ihr Wagen sollte eigentlich an dieser Straße stehen. Ein weißer Pick-up.«
»Wie heißt Ihre Freundin?«
»Fentje Jacobsen. Haben Sie so einen Wagen gesehen?«
»Nein.« Er blickte zu seinem Kollegen zurück. »Und Sie sind?«, wollte er dann wissen.
»Niklas John.«
»Jetzt zeigen Sie uns erst mal Ihre Papiere.«
Er zog seinen Führerschein und den Fahrzeugschein des Mietwagens hervor und gab beides dem Mann am Wagenfenster. Der reichte es nach hinten zu seinem Kollegen weiter. »Prüf das mal!«
»Was ist denn los?«, erkundigte sich Niklas.
»Wir suchen Frau Jacobsen ebenfalls.«
»Ist ihr etwas passiert?«, fragte er alarmiert. Sein Herzschlag beschleunigte sich, und sein Mund wurde trocken. Das ungute Gefühl, dass etwas nicht stimmte, hatte ihn also nicht getrogen.
»Das wissen wir nicht.«
»Warum suchen Sie sie?«
»Das ist unsere Angelegenheit. Steigen Sie bitte aus, Herr John. Aber langsam!«
Niklas befolgte die Anweisung, obwohl er vor Unruhe und Besorgnis brannte.
»Die Papiere scheinen so weit in Ordnung zu sein. Er fährt einen Mietwagen.« Der jüngere Kollege war vom Streifenwagen zurückgekehrt.
»Natürlich sind sie das«, sagte Niklas. Sie verschwendeten hier wertvolle Zeit. Zeit, in der sie Fentje suchen sollten.
»Ihre Freundin hat vor einer halben Stunde einen Kollegen von uns verständigt, dass sie eine Reifenpanne hat. Woher wissen Sie davon?«
»Sie hat mir eine Textnachricht geschickt.«
Der Polizist kratzte sich unter der Mütze am Kopf. »Der Kollege hat uns nur gebeten, mal nach Ihrer Freundin zu schauen. Aber die junge Dame und ihr Wagen sind unauffindbar.«
»Dann suchen wir doch nach ihr«, drängte Niklas. »Möglicherweise befindet sie sich in Lebensgefahr!«
»Oder sie ist längst zu Hause. Wie kommen Sie darauf, dass sie in Gefahr sein könnte, Herr John?«, wollte der Jüngere mit einem ironischen Unterton wissen, der Niklas nicht gefiel.
»Sie ist Anwältin und vertritt einen Angehörigen in dem Mordfall vom Fehnsen-Hof«, gab er zurück.
Das leicht überhebliche Lächeln des Beamten verblasste.
»Oha«, murmelte der Ältere. »Aber wieso sollte sie deswegen in Gefahr sein?«
»Ich bin Journalist und arbeite ebenfalls an dem Fall. Auf mich wurde Sonntagnacht ein Brandanschlag verübt.«
»Nun machen Sie mal halblang, Herr John.«
»Das Feuer in St. Peter-Ording neulich. Erkundigen Sie sich bei Ihren Kollegen Dittmer und Fährmann in Flensburg. Die werden Ihnen das bestätigen.«
»Was wir tun und was wir lassen, entscheiden immer noch wir, Herr John.«
»Natürlich. Und ich entscheide, dass ich jetzt weiter nach Frau Jacobsen suche.« Er machte Anstalten, wieder in den Peugeot zu steigen. »Wollen Sie die Kollegen in Flensburg verständigen, oder soll ich das tun?«
»Ganz ruhig, Herr John. Wir kümmern uns darum. Sie sollten besser nach Hause fahren und auf Frau Jacobsen warten. Vielleicht telefonieren Sie Freunde und Verwandte von ihr ab und hören, ob die etwas wissen?«
»Sie könnte entführt worden sein … oder tot!«, stieß Niklas aufgebracht hervor. »Haben Sie schon versucht, Frau Jacobsens Handy zu orten?«
»Nein, noch nicht. Bisher hatten wir auch keine Veranlassung dazu.«
Niklas unterdrückte ein Aufstöhnen. Es brachte nichts, die Beamten gegen sich aufzubringen. Sie verständigten sich darauf, dass die Polizisten die Kollegen in Flensburg und in ihrer eigenen Dienststelle benachrichtigten. Die würden darüber entscheiden, ob nach Fentje Jacobsen gefahndet werden sollte. Niklas wurde angewiesen, im Gegenzug nicht weiter die Landstraße abzufahren, sondern sich nach Hause zu begeben.
Er wendete und fuhr vom Parkplatz. Doch er fuhr nicht »nach Hause«. Er hatte kein Zuhause mehr. In die Ferienwohnung würde er sicherlich irgendwann zurückkehren – aber erst, wenn er wusste, dass es Fentje gut ging. Er hatte den Polizisten ja nicht zugesagt, der Aufforderung sofort Folge zu leisten.
Inmitten des Maisfelds hatte Fentje nach wenigen Minuten die Orientierung verloren. Anfangs hatte sie noch das Gefühl gehabt, verfolgt zu werden. Doch als sie jetzt reglos zwischen den Halmen hockte, hörte sie nichts als den Wind und das Rascheln der Blätter im Nachtwind.
Sie versuchte, sich ihre Position zu vergegenwärtigen. Wenn sie sich weiter in Richtung Nordwesten bewegte, würde sie vermutlich auf eine weitere Landstraße kommen und von dort um ein paar Ecken auch zu ihrem Hof. Doch ihre Angreifer wussten wahrscheinlich, wo sie wohnte, und konnten sie vorher abfangen. Die hatten ihren eigenen Wagen und, wenn sie das Rad an ihrem Auto wechselten, auch noch den Pick-up.
Besser war es, zum nächsten Haus zu laufen und von dort die Polizei zu rufen. Doch mitten im Maisfeld fiel es ihr schwer, sich für eine Richtung zu entscheiden. Warum nur hatte sie ihr Smartphone im Auto liegen gelassen?
Weiterhin darauf bedacht, in Deckung zu bleiben, und ganz auf etwaige Geräusche im Feld konzentriert, kroch sie zügig vorwärts. Wenn Fentje nach oben blickte, sah sie einen dunklen Nachthimmel und ab und zu den beinahe vollen Mond. Ein paar mehr Wolken wären gerade besser. In einer mondhellen Nacht war sie viel leichter auszumachen.
Immerhin, sie hatte Ralf eine Nachricht hinterlassen. Da sie sich noch nicht wieder bei ihm gemeldet hatte, suchten Telse und er vielleicht schon nach ihr.
Fentje hörte weiter entfernt ein Auto. Sie musste gleich das Ende des Maisfeldes erreicht haben. Handelte es sich bei dem Fahrer des Autos um Freund oder Feind?
Das Geräusch des Wagens war immer leiser geworden und dann verklungen. Fentje erreichte den Feldrand. Sie sah vor sich eine schnurgerade Straße, keine Häuser in Sichtweite. Jenseits der Fahrstraße befand sich eine Wiese. Die Möglichkeit, sich unentdeckt fortzubewegen, endete hier.
Wenn sie weiter an der Straße entlangging, spazierte sie wie auf dem Präsentierteller. Und ihre Angreifer konnten hier jeden Moment auftauchen. Einer der Männer hatte sich anscheinend die Mühe gemacht, sie bis nach Hamburg zu verfolgen. Da würde er jetzt sicherlich nicht gleich aufgeben, nur weil sie weggelaufen war und sich in einem Maisfeld versteckt hatte. Doch wie war es ihnen gelungen, die Reifenpanne zu provozieren?
Sie blieb in der Deckung der niedrigen Maispflanzen hocken. Früher oder später würde ein Auto hier entlangfahren, von dem sie sich sicher sein konnte, dass es nicht den Angreifern gehörte. Ein Streifenwagen im besten Fall, ein Lkw oder das Fahrzeug eines Freundes oder Bekannten.
So harrte Fentje ein paar Minuten reglos aus und lauschte in die Nacht. Eben noch hatte sie auf der Flucht geschwitzt, nun fröstelte sie in ihrer klammen Kleidung. Ein silbernes Fahrzeug näherte sich aus Richtung der B5 . Erst als es an ihr vorübergefahren war, erkannte sie, dass es ein Wiesbadener Kennzeichen hatte. Wahrscheinlich Touristen! Die Chance, dass es nicht ihren Angreifern gehörte, war hoch. Und ihr war zu kalt, um noch länger hierzubleiben.
Sie lief auf die Straße und winkte. Der Wagen verringerte zunächst das Tempo, machte dann eine Vollbremsung und setzte zurück. Zum Glück war sie dem Fahrer im Rückspiegel noch aufgefallen! Wenn er einer der Angreifer war, konnte sie immer noch zurück ins Maisfeld laufen, sagte sie sich. Sie trat ein paar Schritte rückwärts. Alles hing davon ab, wer dort am Steuer saß. Vorsichtshalber zog Fentje den Hammer mit dem Gurtschneider wieder hervor.
Das Auto stoppte, die Fahrertür sprang auf, und Niklas John kam auf sie zugelaufen. »Fentje, da bist du ja!«
»Ich bin verdammt froh, Sie zu sehen!«, stieß sie erleichtert hervor.
»Wo ist dein Wagen? Ich habe dich überall gesucht!«
Er hielt sie an beiden Schultern fest, wohl, weil sie mehr oder weniger auf ihn zugewankt war. Vor Erleichterung, endlich Hilfe zu bekommen, war ihr ein bisschen schwindelig.
»Alles in Ordnung?« Er betrachtete sie kritisch. »Du bist ja voller Erde, und du hast so grünes Zeug im Haar.« Er zupfte ein kleines Blatt heraus.
»Mir geht es gut. Was für ein Zufall, dass ausgerechnet Sie hier vorbeikommen!« Sie blickte nach rechts und nach links. »Wir müssen sofort weg von hier. Ich erkläre es Ihnen später.«
»So ein Zufall nun auch wieder nicht nach deiner Textnachricht.« Er hielt ihr die Beifahrertür auf.
»Was für eine Nachricht?« Sie schüttelte irritiert den Kopf.
»Dass du eine Reifenpanne hast und ich dir helfen soll. In der Textnachricht hast du mich allerdings geduzt. Ich hätte gleich wissen müssen, dass die nicht …«
»Ich habe Ihnen jedenfalls nicht geschrieben. Und was ist das überhaupt für ein Auto?«, fragte Fentje, als sie nebeneinandersaßen.
»Ein Mietwagen. Das war doch Ihr Vorschlag.«
»Oh, Sie haben auf mich gehört. Es geschehen noch Zeichen und Wunder.«
»Und Sie haben nicht nur einen Radwechsel hinter sich, habe ich recht?« Er musterte sie besorgt. »Was ist passiert?«
»Eine Menge. Geben Sie doch endlich Gas!«