34. Kapitel

Sie klickten sich durch Fotos von Anna als Baby auf dem Schoß einer jungen Frau, wahrscheinlich ihrer verstorbenen Mutter. Sie wurden Zeugen ihrer Einschulung in einem Dorf in Lettland. Als Nächstes sahen sie Anna als junge Frau mit Freunden beim Zelten und an einem See und rauchend an einen Baum gelehnt. Es folgte ein Bild unter einer Linde vor einem Bauernhaus, gemeinsam mit einem Mann und einer Frau in den Dreißigern.

»Da ist Anna schon auf Föhr«, sagte Niklas. »Das wurde auf dem Hof der Wegners aufgenommen, wo sie ihr Praktikum gemacht hat. Die beiden anderen sind Birthe und Wolf Wegner.«

»Sie kennen sich ja gut aus.«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich bin auf Föhr aufgewachsen. Und außerdem …«

»Ja?«

»Als ich vor ein paar Tagen dort war, habe ich die Wegners besucht, um mit ihnen über Anna zu sprechen.«

»Ist etwas Interessantes dabei herausgekommen?«

»Birthe Wegner hat mir erzählt, was Anna so unternommen hat, nachdem wir nicht mehr zusammen waren.«

»Und was war das?«

»Sie ist wohl viel ausgegangen. Ihre Freundin Iveta hat sie überall mit hingeschleppt. Auf einem Segeltörn soll Anna ihren zukünftigen Ehemann kennengelernt haben. Nicht Henning, den davor. Später habe ich herausbekommen, dass er Thomas Meyer heißt. Und dass er wohl ein Betrüger war oder sogar noch ist.«

»Oh! Das könnte doch wichtig sein. Vielleicht ist ihr Ex-Mann auf den Fotos zu sehen.«

»Ich habe natürlich recherchiert, wie er aussieht. Wenn ich ihn auf den Fotos entdecke, sage ich Bescheid.«

»Schön. Also dann weiter.«

»Das ist auf der Hallig Hooge«, rief Niklas auf einmal aus.

»Woran erkennen Sie das?« Fentje hatte mal mit ihren Eltern einen Ausflug auf die Hallig Hooge gemacht. Das war schon Ewigkeiten her. Anhand des Bildausschnitts konnte sie unmöglich sagen, wo das Foto aufgenommen worden war. Es zeigte zwei Häuser, die in einem Abstand von ein paar Metern im rechten Winkel zueinander standen, und eine lange Tafel unter einem Baum davor. Von den offensichtlich alten Gebäuden aus rotem Backstein war eines mit Reet, das andere mit Blechplatten gedeckt. Sie könnten an vielerlei Orten stehen. Es war jedenfalls nicht ersichtlich, dass es sich um Häuser auf Hooge handelte. Fentje hätte nicht einmal mit Sicherheit sagen können, dass das Bild überhaupt auf einer der Halligen aufgenommen worden war.

»Ich erkenne die Gebäude mit dem Baum dazwischen wieder.« Niklas zoomte die Menschen an dem langen Tisch näher heran. »Da vorn an der Tafel, das ist Anna. Neben ihr sitzt ihre Freundin Iveta und daneben deren Mann Ove.«

Anna trug ein gelbes Sommerkleid und blickte ernst in die Kamera. »Ja, genau. Die beiden habe ich ja auch auf der Hochzeit gesehen«, erinnerte sich Fentje und zeigte auf Iveta und Ove.

»Iveta ist wohl Annas älteste Freundin. Klar, dass sie auf der Hochzeit war. Sie kamen damals zusammen von Lettland nach Föhr. Dort hat Iveta dann Ove kennengelernt und ist mit ihm auf die Hallig Hooge gegangen.«

»Ist das das Haus von Ove und Iveta?«, wollte Fentje wissen.

»Nein.«

»Woher kennen Sie es dann?«

»Ich habe es vor ein paar Tagen fotografiert. Dabei fallen einem die Details ins Auge. Sehen Sie, diese wunderschön aufgearbeitete Klöntür?«

»Ja, klar. Da hat jemand viel Geld in die Hand genommen, um den Hof wieder so toll herzurichten. Wem gehört er denn?«

Niklas schnaubte. »Ove wollte es mir nicht erzählen. Er arbeitet nämlich als eine Art Hausmeister dort. Das ganze Ensemble wird nur noch als Ferienhaus genutzt. Ich nehme an, dass das Anwesen irgendeinem Promi gehört.« Er klickte weiter, zu zwei weiteren Fotos von Anna an der langen Tafel unter dem Baum. Sie lehnte sich sehr vertraut an Iveta, sah dabei hübsch, aber auch ein bisschen verloren aus. Dann wechselte der Hintergrund wieder. Auf der nächsten Aufnahme sah man Anna mit Henning zusammen vor dem Westerhever Leuchtturm posieren. Das Gesicht der Frau war verändert. Sie wirkte glücklich.

Niklas zog sein Smartphone hervor. »Ich rufe Iveta an und frage sie, wem das Haus gehört.«

»Tun Sie das.« Wollte er sich von dem Anblick von Anna und Henning als glückliches Paar ablenken?

»Wenn Iveta es mir auch nicht sagen will, kann uns Annas Cousine bestimmt weiterhelfen. Die hat die Aufnahmen schließlich gemacht«, sagte er.

Fentje verließ die Küche, um den Anrufbeantworter in ihrem Büro zu kontrollieren. Als sie zurückkam, saß Niklas mit gerunzelter Stirn am Tisch. »Die Leute, denen der Hof auf der Hallig gehört, heißen Pohlmann. Damals lebte Wilhelm Pohlmann noch dort. Nun gehört es einem Frederik Pohlmann. Von der Firma ›Pohlmann Farben und Lacke‹.«

»Frederik? Natürlich! Er hat das Ferienhaus seines Großvaters auf einer Hallig geerbt. Ich hatte es mir nur etwas … kleiner vorgestellt.«

»Warum wundert es mich nicht, dass Sie ihn kennen?«

Fentje nahm wieder neben ihm Platz. »Frederik ist ein alter Kumpel von Henning. Wir waren alle auf derselben Schule.« Das Detail mit dem Laternenpfahl und dem Schnee ließ sie wohlweislich weg. »Frederik und seine Familie sind ebenfalls auf der Hochzeit von Anna und Henning gewesen.« Sie blickte Niklas erwartungsvoll an.

»Ja, das ist mir bekannt.« Er berichtete Fentje von seinem Treffen mit MacGraw und gab wieder, was der ihm über Henning und seinen Vater erzählt hatte.

»Das klingt nicht gut. Aber für ein Mordmotiv halte ich es trotzdem nicht«, meinte Fentje, nachdem sie kurz über das gerade Gehörte nachgedacht hatte. »Was haben Sie noch von Iveta erfahren?«

»Iveta sagt, dass die Aufnahmen von Anna bei ihnen auf der Hallig während der Geburtstagsfeier von Wilhelm Pohlmann aufgenommen worden sein müssen. Sie hatten Anna und ihre Cousine mit zu der Feier genommen, weil die da gerade zufällig zu Besuch bei ihnen auf der Hallig waren.«

»Ob Lucy und Gustav auch dort waren? Vielleicht sogar Henning?«

Niklas klickte zurück, und sie betrachteten das erste Foto, das Anna an der langen Tafel zeigte.

»Dort hinten sitzen Lucy und Gustav«, bemerkte Fentje. »Nur Henning kann ich nicht entdecken.«

»Ob das wichtig ist? Ich meine, dass Lucy und Gustav Fehnsen ebenfalls dort waren?«

Fentje schüttelte ratlos den Kopf. »Die Pohlmanns, beziehungsweise jetzt nur noch Frederik Pohlmann, wohnen in der Nähe des Fehnsen-Hofes. Das Bauernhaus auf der Hallig war wohl immer nur ihr Ferienhaus. Doch der Großvater, Wilhelm Pohlmann, hat später die meiste Zeit auf Hooge gewohnt. Die Fehnsens und die Pohlmanns sind halt gute Nachbarn und Frederik und Henning alte Schulfreunde. Warum sollten sie nicht zum Geburtstag des Großvaters nach Hooge eingeladen gewesen sein?«

»Kann es sein, dass diese Fotos von der Hallig während der Hochzeitsfeier etwa nach der Hälfte der Zeit gezeigt wurden? Das würde doch zu dem Zeitpunkt von Lucys Reaktion passen.«

Fentje schaute in ihre Notizen. »Wenn die Reihenfolge beibehalten wurde, ja. Es ist echt blöd, dass ich Lucys Reaktion nicht mitbekommen habe.«

»Sie hatten Besseres zu tun.« Er lächelte kurz.

»Sehen Sie denn auch Annas Ex-Mann auf einer der Fotografien?«, fragte Fentje nach kurzer Überlegung. »Sie sagten, er sei ein Betrüger. Dann kommt er noch am ehesten für einen Mord infrage, meinen Sie nicht?«

»Alle, mit denen ich gesprochen habe, halten diesen Thomas Meyer nicht für einen Mörder. Aber wer weiß …« Niklas zoomte ein Gesicht nach dem nächsten näher ran. »So gern ich das möchte: Ich sehe den Kerl nicht. Oder, Moment mal …« Er bewegte den Bildausschnitt so, dass man den im Schatten liegenden Durchgang zwischen den beiden Häusern besser erkennen konnte. Er hellte das Foto auf. Dort stand ein Mann, der wohl gerade im Begriff war, eine Tür aufzuschließen. »Nein, das ist nicht Annas Ex-Mann«, stellte er enttäuscht fest. »Aber wer ist es?«

»Der dort gerade hineingeht, ist nur Frederik«, antwortete Fentje. »Frederik Pohlmann.«

»Okay, dass der auf dem Geburtstag seines Großvaters war, ist ja keine Überraschung.« Niklas ging wieder auf die Gesamtansicht des Fotos. Sie betrachteten auch noch die anderen Fotografien, die auf der Geburtstagsfeier gemacht worden waren, etwas gründlicher.

»Frederik ist nur einmal zu sehen, wie er ins Haus geht. Warum sieht man ihn auf keiner weiteren Aufnahme beim Feiern mit den anderen?«

»Er kam ja anscheinend später.«

»Würde er da nicht zuerst in den Innenhof gehen, um seinem Großvater zu gratulieren und die anderen Gäste zu begrüßen?«, wandte Fentje ein.

»Jeder, wie er mag.«

»Und wie kann er zu spät kommen, wenn nur so selten am Tag eine Fähre ankommt? Ich meine, es ist eine Hallig …«

»Sie mögen Frederik Pohlmann wohl nicht?«, erwiderte Niklas scherzhaft.

»Doch. Ich kann ihn sogar gut leiden. Aber ich verstehe das nicht.«

Sie betrachteten weiterhin Foto für Foto, ohne hinterher schlauer zu sein.

»Lucy Fehnsen hat wahrscheinlich doch nicht wegen dieser Fotos die Feier verlassen. Sie kann auch etwas ganz anderes gesehen oder gehört haben, was ihr nicht gefallen hat«, vermutete Niklas.

»Und warum wollte sie dann, dass Gina ihr den Laptop in Verwahrung gibt?«

»Einfach nur, damit er nicht gestohlen wird?«, schlug Niklas vor.

»Und dann wird er tatsächlich gestohlen?«, fragte Fentje. »Ein seltsamer Zufall.«

»Dafür haben wir aber nur Jorne und Gina Fehnsens Wort«, gab er nachdenklich zurück.

»Ja. Aber warum sollten sie lügen?«

Unzufrieden mit dem Ergebnis ihrer Nachforschungen verabschiedete sich Niklas von Fentje. Trotz aller Mühen blieben Lucy Fehnsens Reaktion und der Mord an ihr und ihrem Mann ein Rätsel. Dabei hatte Niklas große Hoffnungen auf die Datei mit den Fotos gesetzt. Er war geradezu euphorisch gewesen, weil er Annas Cousine so schnell erreicht und sie ihm die Bilder so zügig zugeschickt hatte. Ob die Datei vollständig war? Oder hatte die Cousine ein paar Fotos weggelassen, die Anna oder ihrem Ex-Mann vielleicht schaden könnten? Doch was sollten das für Aufnahmen sein?

Er stieg in den Mietwagen. Nicht einmal Blofeld hatte sich blicken lassen. Und nun wartete nichts als eine anonyme Ferienwohnung auf ihn. Als er den Betonstreifenweg entlangrollte, sah er im Rückspiegel, dass ihm eine staubige, alte Mercedes Limousine folgte. Er kniff die Augen zusammen, als der Wagen dicht auffuhr und die Lichthupe betätigte wurde. Niklas hielt an, der Mercedes stoppte hinter ihm, und Fentje sprang heraus. Sie lief auf sein Seitenfenster zu und beugte sich zu ihm. Er ließ das Fenster herunterfahren.

»He, John, wir geben doch jetzt nicht auf, oder?« Ihre grünen Augen blitzten ihn spöttisch an.

»Niemals«, bestätigte er.

»Ich habe gerade meine Großmutter wegen der Geburtstagsfeier von Wilhelm Pohlmann befragt. Für Nachbarschaftsangelegenheiten wie Geburtstage, Hochzeiten und Beerdigungen ist sie so etwas wie ein wandelndes Lexikon. Sie erinnert sich noch daran, dass Wilhelm Pohlmanns Neunzigster damals auf der Hallig gefeiert wurde. Sie war enttäuscht, dass sie deswegen nicht dabei sein konnte. Es gab zu dem Zeitpunkt zu wenig Übernachtungsmöglichkeiten auf Hooge.«

»Das mit Pohlmanns Geburtstag wissen wir ja bereits.«

»Ja, es ist aber noch nicht alles. Das Ganze endete recht traurig. Am nächsten Morgen war der alte Mann nämlich tot.«

»Was? Ist er ermordet worden?«

»Meine Großmutter meint nein. Er soll friedlich im Schlaf gestorben sein.«

Niklas ließ den Blick über die grüne Ebene unter einem zartblauen Himmel wandern. Schleierwolken und die Kondensstreifen eines Flugzeugs schimmerten rötlich im Abendlicht. Er atmete tief durch. »Das ist doch zumindest ein Ansatzpunkt. Haben Sie noch Zeit für eine kleine Hintergrundrecherche?«